XI. Die Konsequenzen
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Das erste, was sie spürte, war ein Tritt in die Seite.
"Marjor! Hallo, hören Sie mich?" Die Stimme klapperte fern in ihren Ohren. Sie klang dumpf. Irgendwie hölzern.
Und nicht wie Shruti. Definitiv nicht sie.
Sollte sie das erleichtern oder bekümmern?
Weil Shruti ihrer Bitte, sie zu verlassen, nachgekommen war oder weil es trotzdem noch so viel zu sagen gäbe?
"Ich schwöre, wenn die tot ist, dann-"
Ihre Lider flatterten und sie starrte direkt in das scharfkantige Gesicht von Unteroffizier Rattnik, ein Karabiner über der Schulter und eine Schachtel Pralinen in der Hand.
Pralinen?
Halluzionierte sie jetzt schon? Die hatte es nicht einmal zu Anfang des Krieges bei den Rationen gegeben.
"Sie leben ja doch noch!" Der Unteroffizier blinzelte, salutierte dann zackig und ließ in der selben Bewegung die Schachtel fallen.
Ihre Augenbrauen senkten sich herab.
Das war ein Kriegsverbrechen. Definitiv.
Statt ihn aber zum Tribunal der Sechs in Neu Berun zu schleifen, richtete sie sich nur wankend auf und klopfte sich den Staub von der Feldbluse.
Aber statt sich in passable Form zu bringen, klebte nur noch mehr Ruß an ihren Fingern.
Seltsam, der Schmerz im verbrannten Bein war nahezu vollkommen verblasst und -
Sofort riss das Dröhnen in ihrer alten Wadenwunde sie aus ihrer aufkeimenden Hoffnung und sie unterdrückte ein Stöhnen.
"Ich nehme mal stark an, wir haben gewonnen?", versuchte sie ihr Bein zu überspielen. Leicht nickte sie auf die Pralinen. "Oder ist das ein Geschenk der Mitreaner für unsere Kapitulation?"
Rattnik konnte nicht das Grinsen verbergen, das drohte sich auf seinen Zügen auszubreiten.
"Wir haben den Graben vollständig erobert und die Infanterie ist problemlos nachgerückt. Mitreaner und Dutvari haben die nächsten zwei Schützengräben verlassen, damit das Niemandsland nicht zu klein wird. Wir habe insgesamt fünfzig Meter gewonnen. Und die-" Er bückte sich und drückte ihr die Schachtel zurück in die Hand. "Hat Kerinsk irgendwo beim Kurhaus ausgegraben. Scheinbar hat er den Bunker des Geheimrats geplündert."
Sein Grinsen wurde breiter und er ließ den Deckel aufachnappen.
"Für unsere Siegerin."
Zilli verzog ihre Lippen.
Es forderte alle Konzentration, das verdächtige Zittern in ihrer Hand zu kontrollieren, als sie die Praline zu ihrem Mund führte.
Als sie klein war, hatte sie immer die Schokolade ihrer Mutter gestohlen, jedes erbeutete Stück auskostend.
Aber jetzt wusste sie nicht einmal, worein sie da gerade biss.
Sei es Nuss, Schokolade oder Krokant, sie schmeckte nur Asche.
Klopfender Kopfschmerz entflammte da in ihren Schläfen und die Gewissheit, dass sie nicht mal mehr Zilli war - die wirkliche, alte Zilli- biss sich wie eine fette Zecke fest.
"Und Božena?", hakte sie eine Spur zu hastig nach.
"Im Lazarett. Es wird knapp, aber sie wird es schaffen."
Leicht nickte sie.
Scheinbar war sie der Tschetikin einen Krankenbesuch mehr als schuldig.
"Gut. Dann brechen wir auf. Die Umgebung hier trübt sonst noch den Sieg."
Und ließ ihr gleichzeitig einen Schauder über den Rücken fahren.
Nicht daran denken. Das war die beste Devise.
Also hastete sie so schnell wie mit einem angeschlagenen Bein möglich über die magisch verwüstete Ödnis.
Sie drehte sich nicht um.
Hastig stopfte sie sich die erste Praline in den Mund, um die aufkeimende Panik hinabzuwürgen.
Am liebsten hätte sie sich übergeben.
"Die meisten können gar nicht glauben, dass Sie einen Feuermagier in einem Handkampf besiegt haben", erwiderte auf einmal der Unteroffizier und Zilli wäre fast die Praline aus dem Mund gefallen.
"Ich glaube, der ausgebrannt Bunker und die Leiche sprechen für sich", erwiderte sie nur knapp und tastete leicht nach der Brandwunde, die keine mehr war. Als hätte sie nie existiert.
Rattnik pfiff leise durch die Zähne, während sie das Waldstück durchquerten, das nicht dem Eifer der Pioniere zum Opfer gefallen war.
"Das kann man so sagen. Endlich hat mal jemand so einem Bastard den Faden abgeschnitten."
Für einen Moment starrte sie ihn nur an, bevor sie langsam erwiderte:"Das bezog sich doch bestimmt auf sein Dasein als Mitreaner."
Erst dann schien es in seinem Kopf Klick zu machen.
"Oh, Fräulein Major, ich-" Sein Blick richtete sich starr auf die fleckig Fassade des nächsten Unterstands und er räusperte sich betont.
"Das war so nicht gemeint."
Sie seufzte schwer.
Doch als sie aus dem Dickicht traten und in das Gewusel trinkender Soldaten, rauchender Subalternoffiziere und hastenden Etappenhelfern mit gewaltigen Kübeln Suppe in den Händen abtauchten, geschah etwas seltsames.
Man hatte ihr selten salutiert, und wenn es die militärischen Regeln erzwangen, halbherzig und mit einem angewiderten Zug auf den Lippen.
Jetzt salutierte ihr beinahe jeder Passant zackig, Hacken knallten und man nickte ihr zu.
Respekt.
Man zollte ihr hier gerade für die letzte Stunde echten Respekt.
Unweigerlich musste sie sich fragen, ob man den anderen Teil von ihr einfach begann zu übersehen.
Den Teil, der nicht in das Bild der mutigen Offizierin passte.
Weniger kam sie sich vor, als hätte sie etwas bewiesen, sondern sich einfach in einen anderen Körper gestülpt.
Sofort wanderten ihre Gedanken zu Rattniks Worten. Wenn auch ohne bedacht gesprochen, sagten sie alles über diesen neuen, fremdartigen Respekt aus.
Man verdrängte lieber, als zu akzeptieren, als sich damit auseinanderzusetzen.
Magier oder brave Bürger, echote das Zitat aus der Rede des Kaisers zu Kriegsbeginn durch ihren Schädel.
Entscheide dich, schien ihr seine raue Stimme zuzuflüstern.
Allein daran zu denken ließ sie erschaudern und sie beschleunigte ihre Schritte.
Die vertrauten Schemen des Stabsgebäudes mit seinem überraschenden Komfort erhoben sich rettend, da klirrte etwas durch die Luft.
Keinen Wimpernschlags später krachte es, dann flog ein Stuhl aus ihrem Fenster und zersplitterte.
Sie wartete nicht mehr, sondern hastete los, schluckte den brüllenden Schmerz herab und stürzte keuchend durch die Tür.
Ihre Hände verkrampften sich schlagartig.
Zwei Soldaten flankierten den Eingang zu ihrem Büro. Auf ihrer Brust prägte jeweils da Abzeichen der Militärpolizei.
Ein Löwe, dessen Krallen ein von einem Halbmond umschlossenen Auge zerfetzten.
Nein, nicht nur die normale Militärpolizei.
Die antimagische Abteilung III der Gendarmerie.
Tugendwacht, nannten sie sich, Tyrannen, nannten sie andere.
Vorher, schon als Scheiterhaufen loderten, die Exekutivkraft gegen Magier, blühten sie jetzt, wo auch die zaubernde Minderheit ins Militär eingezogen worden, erst in ihrer Machtfülle auf.
Denn scheinbar konnten sie nun auch Offiziere stürzen.
Und sie blieben ihrem Ruf gerecht:
Sie kamen zu dir, bevor man selbst wusste, was man verbrochen hatte.
Gerade wollte sie den Mund öffnen und fordern, was hier denn geschah, da knarzte es und Hašek schob seinen Kopf durch den Türpsalt.
Sein Gesicht war aschfahl geworden.
"Chefchen, da drinnen wartet einer auf Sie. Ein Admiral."
Admiral? Wo ist denn hier bitteschön das nächste Meer?, hätte sie fast gefragt, doch sie kannte die Antwort bereits schon.
Es war der Admiral der Abteilung III, der von der Gendarmerie geschickt wurde, um ihre Scherben aufzuräumen.
Automatisch straffen sich Zillis Schultern und sie schritt vor.
Sie stand für das, was sie getan hatte und diese Kettenhunde würden sie nicht zerfleischen.
Also schob sie sich durch die Tür und erkannte ihre eigene Schreibstube nicht wieder.
Zuerst spürte sie das Brennen des Adamiums, es ätzte in ihrer Nase und Mund, glühte an den Knöpfen und Plaketten der Uniformen der Gendarmen gleichsam selbst in den Kisten, in den man Zillis Besitz verschloss.
Feldgendarmen der Tugendwacht durchwühlten jedes Regal, warfen Möbel um und schlitzten Kissen auf.
Ihre Sohlen ließen Glasplitter knirschen, als sie schockiert feststellen musste, dass man Saphirs Porträt von den Wänden gerissen und auf den Boden geschmettert hatte.
Selbst die Mitreaner konnten jetzt nicht grausamer mit ihm umgehen.
Allein die Büste des Kaisers war unberührt geblieben - und hinter ihr saß ein Mann auf ihrem Stuhl, dessen Augen heller und kälter leuchteten als ein Bergsee im Paßral. Eisplitter in Iriden gegossen.
Oder eher seine eine Iride, denn die linke Hälfte seines Gesichts war verborgen hinter einer goldenen Halbmaske.
Doch statt sie zu erdolchen, durchbohrte es nur Kerinsk.
"Wie können Sie es wagen", donnerte der Oberst und riss sich aus dem Klammergriff einer der Gendarmen zu ihrer Linken. "Ich bin ein Aristokrat! Mein Blut kann sich bis auf den Zwergenkönig Laurin zurückverfolgen lassen, Sie Frevler!"
"Ihre Verwandtschaft zu den Zwergen ist nicht zu übersehen, Oberst", ätzte die Stimme des Admirals und Angesprochener schnappte empört nach Luft, doch die Geste des Fremden schnitt seine Worte ab.
"Das hier ist eine Befragung, nicht Ihre Vergnügungsreise", zischelte es bedrohlich leise, sodass Zilli sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
"Und da Ihr Spießgeselle auch da ist, können wir ja anfangen."
Sein Blick richtete sich auf Cäcilie und sie hätte für einen Moment schwören können, in eine Gletscherspalte zu fallen.
Es war... als würde sie ertrinken.
"Also, was seid Ihr? Karlisten? Genosse Kerinsk und Genossin Palinquas?"
Sie zwang sich, den immer größer werdenden Kloß in ihrem Hals hinabzuschlucken und hob trotzig ihr Kinn.
"Wir sind Soldaten, Herr Admiral. Und wir haben unsere Pflicht getan."
Mal ganz abgesehen davon, dass sie lieber noch einmal sterben würde, als Kerinsk als Genossen bezeichnen zu müssen.
Seine hellen Augenbrauen hoben sich.
"Ihre Soldateska ist... deutlich. Sagen Sie mir, wo haben Sie denn marodiert?"
Cäcilie wusste, wie sie jetzt aussehen musste. Die Uniform zerrissen, verbrannt und beschmutzt, die Haare kraus und das Gesicht rußig. Trotzdem versuchte sie zu kontern:
"Auf dem Schlachtfeld. Im Gegensatz zu meinen Offizierskollegen gedenke ich, meinen Sold zu verdienen."
"Sie gestehen also ihre Meuterei?"
Zilli konnte nur hervorpressen:"So würde ich das nicht bezeichnen."
"Und doch haben Sie es getan. Insubordination, Untergrabung der Autorität Ihrer Offiziere - sogar der gesamten Armee. Wenn keine Meuterei, was ist es dann?"
"Bei allem Respekt, diese Offiziere haben mit Ihrer Machtversessenheit selbst die Armee verraten", schnaubte sie zurück, da krachte die Faust des Admirals auf ihren Schreibtisch und ließ die Büste des Kaisers erzittern.
"Vergessen Sie sich nicht, Major! Zeigen Sie lieber Demut als diese Dreistigkeit einer Rädelsführerin!"
Für einen Moment konnte sie nicht das verräterische Flackern der Hoffnung unterdrücken. Vielleicht, sei es auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit, würde das Spektakel nicht mit einem Strick um ihrem Hals enden.
Aber sie hatte diese Rechnung ohne das Gift in Kerinsk Stimme gemacht.
"Dreistigkeit? Weißt du, was eine Dreistigkeit ist? Wie man mich-" Leicht verzog er die Lippen. "- uns hier behandelt.Und vergiss ja nicht, dass ich hier auch die Hände im Spiel hatte. Selbst das Fräulein Palinquas braucht Unterstützung!"
"Oberst", warnte der Admiral, aber der Grauhaarige ließ sich davon nicht aufhalten.
"Aber das hätte man vom alten Kerinsk nicht gedacht, was? Dass der und seine Verbündete schaffen, das ganze neue Korps zu schlagen! Ha, selbst eine Magierin hat mehr drauf als diese Lappen!"
"Und Sie sind eine erbämrliche Enttäuschung. Verbrüdert sich mit einer Juffer, um den Staat zu schmähen. Wie tief kann man nur fallen?"
Hilflos zuckte ihr Blick von dem einen zum anderen.
Da lag weitaus mehr in der Luft als dieser Putsch, der keiner war.
Alte Garde gegen neue, hier war böses Blut.
Altes Böses Blut, umso frischere Feindschaften.
Der Stuhl knarzte, als sich der Admiral gefährlich langsam erhob und wie auf Kommando versperrten die Gendarmen Türen und Fenster.
"Wenn es nach mir ginge", fauchte seine Stimme und ließ Zilli einen Schritt zurückweichen. "Dann wäret ihr jetzt schon von einem Standgericht vor ein Erschießungskommando gezerrt worden."
Angewidert kräuselten sich seine Lippen, bevor er mit der Zunge schnalzte.
"Aber der Feldmarschall persönlich hat euch nach Neu Berun bestellt."
Noch ein letztes Mal winkte der Admiral seinen Gendarmen zu, bevor seine frostigen Stimme verkündete:
"Georg Leopold Kerinsk und Cäcilie Pallas Palinquas, Ihr seid im Namen des Kaisers verhaftet."
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