III. Der zweite Streich...

"König Abelard - der große Abelard!
Er legte die Grundsteine unserer Nation, bettete unser Volk in die Arme einer liebenden Mutter.
Seine Hände errichteten Paläste, Aquädukte und Kathedralen.
Er kam zu einem Volk, hausend in Lehm und geplagt von Dämonen und hinterließ Städte aus Marmor und Scheiterhaufen für die Magier, die uns verdammten.
Diesen  schuf er nämlich nur Gräber.

Zumindest ist es das, was man uns lehrte - und manchmal sind solche  Geschichtsbücher gefährlicher als die eigentliche Geschichte."
-Julius Acula in "Ein Volk ohne Geschichte", Professor an der Kaiserlichen Universität von Neu Berun

▪︎ ▪︎ ▪︎

Entgegen aller Erwartungen wollte Kabisius sie wirklich nicht umbringen.

Nein, die Generalin hatte in der Vergangenheit schon öfter Freude daran gefunden, Zilli zu demütigen, nun versuchte sie es aber scheinbar mit dem Gift der Langeweile.
Seufzend ließ Zilli sich auf die Bank neben dem Sehschlitz fallen, der sich durch die zur Front ausgerichteten Wand des Beobachtungsposten zog.

Alles hierin bestand aus kaltem Beton. Wände, Bänke, Böden.
Allein die Taktikkarten und ein Propagandaplakat an der Wand zerbrachen die Monotonie.
Sie oder wir ,stand in großen Lettern darauf. Darüber ein bruktischer Soldat, der einem mitreanischen Magier den Gewehrschaft gegen die Brust drückte.

Schaudernd wandte Zilli sich ab und wendete ihren Blick nach draußen.
Die Front erstreckte sich still und stumm vor ihrem Betonklotz.
Es hatte einen kurzfristigen Waffenstillstand gegeben, um die Leichen und Verwundeten zu bergen. Zur Säucheprävention, hieß es. Das kam hier öfter vor.
Das änderte aber nichts an der Verwüstung der Todeszone.
Artilleriekrater zerrissen das Land und hatten sich mit Flüssigkeit gefüllt. Doch es war kein normales Wasser, nein, denn in Valon regnete es Säure.
Es hatte schon  zu viel Flüche und Magie gesehen, als Bruktien und Saint-Mitre  gekommen waren, um zu kämpfen.
Der Krieg hatte die Landschaft verdorben wie die Seelen der Menschen.
Sie waren entstellt.

Doch es war das laute Schnarchen eines Soldaten, das sie zusammenzucken ließ.
Ihr Blick wirbelte herum, doch sie sah nur einen uniformierten Mann, der friedlich schlummernd in seinem Stuhl zusammengesunken war.
Sein fernglas hing ihm nutzlos um den Hals.

Vielleicht sollte sie es ihm gleich tun, aber sie hätte nicht einmal schlafen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Jetzt funktionierte das nicht.
Denn immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie nur Frowins vor Schreck geweitete Augen und hörte Silfies panisches Kreischen.
Sie schauderte.

Kabisius schlief auch nicht. Fast nie.
Oftmals diskutierte sie noch mit ihren Offizieren bis tief in die Nacht oder ließ Zilli bis in die frühen Morgenstunden Honigwein in ihr Arbeitszimmer bringen.
Aber das hier… Das hier war anders.

Zilli blickte hilfesuchend zum Himmel, aber das Firmament blieb fest hinter der Wolkendecke verschlossen.
Vielleicht könnte sie lesen. Das sollte helfen.
Irgendwo in ihrer Schreibstube müsste sie noch eine Ausgabe von "Eine Heldin ihrer Zeit" von Mikhail Belarin vergraben sein. 
Aber sie wusste nicht, ob sie den spitzen Humor, die Dreistigkeit der Titelheldin oder allein nur den Verdacht, ein Werk der Feindesnation zu lesen,  jetzt ertragen konnte.

Sie schmunzelte leicht.
Hašek schwörte auf Essen vor dem Schlaf. Nichts sollte einen schneller auf die Wogen der Träume führen als ein süßes Mahl.
Aber  seit ihrer Kriegsverwundung verkam jeder Geschmack auf ihrer Zunge zu Asche. Das meiste würgte sie wieder hoch.

Also konnte sie nur hier sitzen und sich die Stadt vorstellen, die sich jetzt hinter ihrem Rücken erstrecken musste.

Valons blinkende Lichter schmiegten sich an den Fuß des Hügels, auf dem man eine Gläsern funkelnde Orangerie errichtet  hatte.
Im Dunkeln wirkte die Stadt mit  wie ein schlafendes Kind, ignorierte man das Ferne Wummern der Artillerie, dabei waren es nur die letzten kläglichen Überreste einer Vorstadt, die einst zu einem Koloss gehört hatte.
 Bevor der Krieg Valon zu Asche zermalmt hatte.
So blieb nur eine handvoll Kolonnadenhöfe, Thermalbäder und traurige Randbezirke von einer jahrhundertealten Geschichte.
Es war  eben einfacher zu zerstören als zu erschaffen.

Seufzend lehnte sie sich zurück und schnippte mit den Fingern.
Türkise Funken stoben blitzend hoch.
Sie waren kalt.
Sie schnippte noch einmal.
Gleißendes Licht.
Aber kein Feuer.
Nicht ihr Feuer.
Nicht die Magie, die ihr Vater an sie weitergegeben hatte und seine Ahnen an ihn.
Das hatte ihn immer so schrecklich stolz gemacht.
Natürlich, alles, was sie tat, hatte ihn schrecklich stolz gemacht und doch… Es war ein Glied zwischen ihnen. Etwas, das ihre Mutter nie mit ihnen hatte teilen können.

Deren Vorfahren hatte man nicht während der Großen Ausmerzung verbrannt.
Sie hatten nicht begleitet von dem Johlen der aufgepeitschten Massen auf ihrem Grab geschmort, während die leckenden Flammen einem nichts anhaben konnten, aber Rauch und Kohlenstoffdioxid einen langsam vergifteten.
Erstickten.
Irgendwo ein Tod im eigenen Element.

Natürlich, noch immer floss Magie durch ihre Adern und doch… Und doch war es jetzt anders.
Sie zuckte zusammen.

Ein Scheppern vibrierte durch den Posten.
Sofort schnellte sie hoch, Hand an ihrer Klinge.
Aber da war nichts. Keine Menschenseele. Nur gähnende Leere und Zitrusfrüchte.
Würde sie noch eins besitzen, ihr Herz hätte sicherlich laut gewummert,  als sie sich weiter aufrichtete und einige zaghafte Schritte zum Ursprung des Lauts machte.
Da! Ein Schatten, der sich in den Gläserfronten spiegelte.

Sofort schloss sich Zillis Hand fester um den Pallasch an ihrer Seite.
Da hörte sie es.
Hörte es endlich.
Hörte es wieder.
Das leise Rascheln von Stoff und Klingeln goldener Glöckchen in ihrem Haar.
Für einen winzigen Augenblick meinte sie sogar, einen vertrauten Schemen hinter den ausladenden Blättern zu erspähen.
Die Frau, die sie liebte, aber nicht lieben durfte, weil... Nun, manchmal fand man sich auf unterschiedlichen Seiten des Krieges.

Ein eisiger Schauder rann über ihren Rücken und ihre andere Hand krampfte sich um den Talisman unter ihrer Uniform, als ihre Lippen den Namen formten, der ihren Mund doch nicht verließ:
"Shruti."

Sie machte einen Satz nach vorne und sogleich schoss Schmerz durch ihren Körper, aber das war ihr gleichgültig.
Alles andere war gleichgültig, auch wenn es schmerzte, wie an dem Tag, an dem ihr Schicksalsfaden fast durchschnitten worden wäre.

Sie taumelte, schwankte und trotzdem schob sie sich gelehnt an die Betonwand nach vorne.
Nach dort, wo der vertraute Geruch nach Sandelholz und Zitrone in der Luft hing.
Ihre ganze Kehle war wie zugeschnürt.
Es gäbe viel zu sagen. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie Shruti verfluchen oder küssen wollte.
Sie machte einen Schritt aus dem Posten in den Schützengraben und kalte Luft küsste ihre Wangen.
Dann war es still.
Niemand war da.
Nur die Schwärze der Nacht wohnte Zilli bei.

Sie wollte schon gerade damit hadern, ob sie nun Erleichterung oder Enttäuschung fühlen sollte, da sah sie es.
Eine kleine Gestalt, die sich zwischen zwei Sandsäcken in den flackernden Schein einer Laterne schob.

Sie runzelte die Stirn.
Ein Fuchs?
Aber noch bevor die Verwunderung sie ganz erfassen wurde, drehte er seine Schnauze zu ihr - und Zilli erstarrte.

Die Hälfte seines Schädels war offen. Der Knochen darunter schimmerte wie fahles Perlmutt und Maden krochen  über das faulende Fleisch.
Eine Kreatur irgendwo zwischen Leben und Tod.
Er fauchte sie an.

Noch im selben Moment hörte sie eine körperlose, geisterhafte Stimme in ihr Ohr wispern.
Eine Stimme süß wie eine überreife Feige.
Shruti- aber die Worte waren keine Liebkosung, sondern eine Warnung.
"Etwas Böses kommt daher", wisperte sie. "Und der Tod kommt stets auf leisen Sohlen. Gib auf dich acht!"

Dann zersprang das Trugbild - und der Fuchs war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie stolperte zurück.
Halluzination, Fiebertraum oder Alkoholfantasie?

Sie sah nichts, denn die Lampen waren von einem unsichtbaren Wind ausgeblasen.
Unwillkürlich machte sie einen weiteren Schritt zurück.
Dann noch einen.
Ihre Hände um den Pallasch wurden taub, alles wurde taub, wurde stumpf, als legte sich eine unsichtbare Hand um sie.
Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen Blick auf den Horizont erhaschen zu können, als ein gewaltiges Krachen die Welt zerfetzte

Es riss Zilli von ihren Füßen und schmetterte ihren Rücken gegen die Grabenwand.
Ihr Blickfeld schwärzte sich und der Gestank nach Rauch drang in ihre Nase, aber das war keine Einbildung, keine Vision, das war echt.
Erschreckend echt.
Ebenso die Hitze, die ihr entgegenschlug.
Blinzelnd richtete sie sich auf, taumelte, dann endlich öffneten sich ihre Augen.

Allein ein Bild brannte sich in ihre Netzhaut:
Wie eine glühende, flammende Wolke den Horizont rot färbte.
Der Himmel weinte blutige Tränen und spuckte Feuer.
Dort hinten standen die mitreanischen Linien in Brand.
Der Wind trug die Schreie der Feinde über mehrere Werst hinweg in ihre Ohren.
Noch immer vibrierte der Boden unter ihren Sohlen.

Aber das war unmöglich, redete sich Zilli ein, als sie sich mit bebenden Gliedern an der Holzverkleidung des Grabens festklammerte.
Sie hatten nicht angegriffen. Bruktien hatte nicht angegriffen. Der Waffenstillstand-

Dann schmeckte sie Magie in der Luft.
Fäulnis, Weihrauch und Lavendel.
Der selbe Geschmack, der die kranke Silfie umgeben hatte.

Um sie herum erwachten die Soldaten mit Grauen.
Rufe gelten mit einem Mal über die Gräben und übertönten das Prasseln der Flammen, schattenhafte Gestalten stolperten aus ihren Schlafnischen und irgendwo wurden Gewehre entsichert.

In dieser Verwirrung sah Zilli die schwarze Silhouette einer Person, die auf der anderen Seite der Front aus den Flammen stolperte. Selbst ihre Umrissen schwankten und zitterten, dann fiel sie auf sie Knie.
Ein Soldat neben Zilli hob das Gewehr zum Schuss.

"Warte!", rief sie und stieß den Gewehrlauf weg. "Sie ist unbewaffbet!"
Der Mann starrte sie aus großen, geweiteten Augen an, doch Zillis Körper gehorchte schon nicht mehr dem Verstand.

Mit schmerzenden Bein schwang sie sich aus dem Graben. Dreck und gemahlene Knochen knirschten unter ihren Sohlen, als sie über das Schlachtfeld hinweg auf die Gestalt zurannte.
Sie durfte den Boden nicht berühren, fuhr es ihr noch durch den Kopf.
Ein Tritt an die falsche Stelle und eine Mine zerriss sie. Oder Stacheldraht durchbohrte sie. Oder sie fiel in Säure.
Zilli knirschte mit den Zähnen, schon verschlang ihre Magie sie und spie sie wenige Schritte vor der Fremden aus.

Bevor die Gestalt völlig zusammenbrechen konnte, fiel Zilli neben ihr zu Boden und fing den Oberkörper der Frau auf.
Im Licht des Feuers sah sie nur die dutvarische Uniform und spürte heißes Blut, mit dem sich ihre Handschuhe sofort vollsogen.

Shruti. Panische Angst flammte in ihrer Brust auf und ihr wäre fast schwarz vor Augen geworden, doch es war nicht ihre Geliebte.
Die braune Haut war ein wenig zu hell, die Lippen nicht anmutig genug, die Uniform zu simpel, die Nase zu gerade.

Die Erleichterung war nur kurz, denn noch immer lag in ihren Armen ein zuckendes, blutiges Mädchen, dass sich in ihrem Griff krümmte. Ihr Gesicht war verklebt von Schmauch und Wundflüssigkeit.

"Alles ist gut", purzelte abgehacktes Dutvarisch über Cäcilies Lippen. "Alles ist gut."
Die Augen der Dutvari weiteten sich als Zilli- die Feindin- in ihrer Sprache sprach. Vielleicht wusste sie auch einfach, dass sie log.

"Warum- Warum habt ihr Monster das getan?", spie das Mädchen aus und Blut quoll über ihre Lippen.

"Wir würden so etwas doch nie-"
Zilli biss sich auf die Unterlippe und presste ihre Hände auf die Seite der Frau, aus der das meiste Blut strömte.
"Was ist passiert?"

Die Augen der Fremden war glasig. Die Lippen bebten, als sie krächzte:
"Der Waffenstillstand. Wir hatten eine Waffenstillstand. Und ihr habt- Ihr habt alles in die Luft gejagt- Das Lazarett- Magie-"
Ein Hustenkrampf erschütterte ihren Körper.
Zilli griff instinktiv nach ihrer Hand.
Weihrauch, Fäulnis und Lavendel lag in ihrer Nase. Geistermagie. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

"Ich habe Angst", murmelte die Soldatin da und griff nach einem goldenen Sonnenanhänger um ihren Hals.
"Ich seh den See nicht mehr. Nicht mehr den See von Zuhause."
Sie stieß einen schweren Atemzug aus.

"Ich kann- Ich kann Sie in ein Lazarett bringen und-", sprudelte es aus Zilli, aber ihre Worte brachen ab.
Die Hand in ihrer wurde schlaff.
Die Dutvari bewegte sich nicht mehr

Lange saß Zilli wie versteinert da, die Arme um den Körper geschlungen, der immer kälter wurde.

"He!" Eine Stimme schrillte durch das Ferne Flackern der arkanen Flammenwalze.
Zilli reagierte nicht.
"He!" Wieder. Diesmal lauter. Näher.

Im nächsten Moment schob sich ein Soldat in ihr Blickfeld. Sein Mantel war schlecht geknöpft, das Gewehr hing wirr über seiner Schulter und in seinen Augen glitzerte Panik.
"Was bei den Moiren tun Sie hier, Sie-"

Sie drehte sich um und er wankte zurück, als er sie und ihre Uniform erkannte.
Zilli schluckte schwer.
"Ich muss zur Generalin. Sofort."

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