Szene ①


Die Luft war kühl geworden in dieser Sommernacht. Das kleine Städtchen Jesingen hatte sich schlafen gelegt und der Wald war zum Leben erwacht.

Lilia Hohn konnte kleine Glühwürmchen vorbeifliegen sehen, die sich jagten und neckten. Es war wie ein Tanz, den nur diese kleinen Kreaturen vollführen konnten.

Wie jeden Samstagabend saß Lilia mit ihren Freunden in ihrem Baumhaus in den träumenden Wäldern. Sie hatten es gebaut, als sie acht Jahre alt gewesen waren. Auch fast zehn Jahre später war das Baumhaus noch ihr Zuhause. Es hatte schon mehrere Umbauaktionen überstehen müssen, da die Freunde Jahr für Jahr gewachsen waren und sonst gar nicht mehr hineingepasst hätten. Deshalb konnte man an der Fassade des Treffpunkts auch unzählige Holzarten, farbige Lackierungen und unterschiedliche Alterungsstufen erkennen. Doch das machte den Unterschlupf nur noch heimischer.

„Lilia, rette mich! Jasper ist ein Arsch." Die junge Frau wandte sich schwungvoll vom Fenster ab und sah stattdessen ihre Freunde an.

Benno umklammerte hilflos seine restlichen Monopolyscheine, die er anscheinend Jasper schuldete, während dieser auf eines seiner Hotels deutete und immer wieder sagte: „Du schuldest mir noch eintausend-zweihundert-fünfzig Euro."

Jaspers blonde Locken verliehen ihm ein engelsgleiches Aussehen, was sein Vorgehen bei Monopoly allerdings wieder zunichte machte. Er wollte um jeden Preis gewinnen.

Benno hingegen hatte eine weniger aggressive Spielweise, braune Haare und leuchtend grüne Augen, welche ihren bittenden Blick auf Jasper gerichtet hatten. 

Fria hockte zwischen den beiden Streithähnen und wirkte alles andere als glücklich. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen oder fuhr sich durch die dichten, schwarzen Haare. Als ihr Blick Lilias streifte, wurden Frias mandelförmige Augen ganz groß. Sie schien verzweifelt.

Lilia lächelte. Sie konnte Frias Hilflosigkeit gut verstehen. Es kam oft vor, dass Jasper und Benno sich bei Gesellschaftsspielen in die Haare bekamen. Jasper vertraute stets auf die Logik. Er bestand darauf, bei Spielen immer nach den Regeln zu spielen und dachte sich Taktiken aus, mit denen er sicher gewann. Benno hingegen dachte bei Brettspielen oft gar nicht nach. Er vertraute auf sein Glück, freute sich aber auch, wenn seine Mitspieler gewannen.

Beziehungsweise freute er sich für alle außer Jasper. Dass dieser mit seinen Taktiken fast jedes Spiel für sich entscheiden konnte, missfiel Benno zutiefst.

Da anscheinend keiner der drei anderen eine Lösung für Bennos Geldproblem parat hatte, ging Lilia zur Spielbank, nahm den Stapel Fünfhunderterscheine und hielt ihn Benno hin. „Das sollte fürs Erste reichen."

Unter Jaspers Protest bezahlte sein Freund seine Schulden bei ihm. Danach ging das Spiel geordnet weiter.

Fria schenkte Lilia ein Lächeln, während sich diese wieder zurück zum Fenster drehte. Sie hatte nicht mitgespielt, sondern stattdessen den Wald unter sich beobachtet, so wie sie es meistens tat. Man würde Lilia nie als die Außenseiterin der Gruppe bezeichnen, denn das war sie nicht. Sie brauchte lediglich ihre Zeit allein und ihre Freunde akzeptierten dies. Für Lilia war es ein schönes Gefühl zu wissen, dass ihre Freunde bei ihr waren, sie aber trotzdem ihren eigenen Gedanken nachgehen konnte.

Lilia wickelte sich eine blonde Haarsträhne um den Finger, als sie unter sich im Wald ein Reh war nahm. Das junge Tier hüpfte wild umher, bis es schließlich aus Lilias Sichtfeld verschwand. Es war ein beachtlich schönes Kitz mit gesundem braunem Fell und riesengroßen Augen.

Sie erinnern mich an Maleas Augen.

Erschrocken sah Lilia sich um. Sie fühlte sich von ihren eigenen Gedanken ertappt. Eigentlich hatte sie sich geschworen, nicht über Malea nachzudenken, wenn sie die rothaarige Freundin nicht gerade im Krankenhaus besuchte, doch nun war es, wie schon so oft, doch passiert.

Lilias Blick fiel nach unten auf ihr Notizbuch. Sie hatte gerade eigentlich an ihrem neuen Roman geplottet, doch nun überblätterte sie ihre Notizen und schlug eine leere Seite auf. Sie zückte ihren Füller und schrieb:

Rehbraune Augen,

so weise und treu,

Der Wald dein Zuhause,

oh, wärst du nur scheu.

Normalerweise war die Poesie nicht Lilias Spezialgebiet. Sie hatte großen Respekt vor all denjenigen, die in wenigen Zeilen so vieles ausdrücken konnten.

Sie zog es viel mehr in fremde Welten. Lilia war eine Meisterin des High-Fantasy, weshalb sie auch in der echten Welt nicht allzu gut zurechtkam.

Schon jetzt war sie unzufrieden mit ihrem Gedicht, weshalb sie es aus dem Notizbuch riss und in ihr Versteck unter den Tisch klemmte. Dort bewahrte sie Blätter für Notfälle auf, in denen ihr eine Idee kam, und sie nicht schnell genug nach ihrem Handy oder einem anderen Schreib-Utensil greifen konnte.

Denn Einfälle zu ihren Büchern kamen der jungen Autorin egal wo und egal wann.

„Und Lilia, was willst du jetzt machen?" Schon wieder forderten ihre Freunde von ihr, dass sie sich umdrehte. Nun war es Jasper, der um Hilfe rief. Fria schuldete ihm jetzt auch eine Menge Geld und der Inhalt der Bank lag bereits auf seinem übergroßen Stapel.

Lilia überlegte nicht lange, bevor sie Jasper antwortete: „Entweder du merkst dir Frias Schulden und ihr spielt weiter, oder du beendest das Spiel jetzt."
„Aber dann hat er gewonnen!", beschwerte sich Benno beleidigt.

Jasper grinste. „Oh ja, dann habe ich gewonnen! Ich bin einfach der König des Monopolys!"

Lilia beobachtete Fria wieder dabei, wie sie die Augen verdrehte. Dies entlockte ihr ein Lächeln. 

Sie hatte sich schon oft gefragt, wie aus dieser Ansammlung von seltsamen Menschen Freunde hatten werden können. Doch im Gegensatz zu ihnen, waren sich ihre Mitschüler dieser Sache sicher. Sie nannten die Fünf nicht umsonst die Creative Five.

Lilia schrieb, Benno komponierte, Fria filmte, Jasper entwickelte und Malea fotografierte und zeichnete. Sie waren gemeinsam einfach unerhört kreativ.

Viele ihrer Mitschüler waren eingeschüchtert von der scheinbar perfekt wirkenden Gruppe. Nur die fünf wussten, was wirklich hinter ihren Fassaden steckte. So wie jeden anderen plagten sie Selbstzweifel, Schulstress und die Frage, wer sie waren und sein wollten.

„Wir sollten langsam aufbrechen", entschied Fria. „Es ist schon nach Mitternacht und ich wollte morgen ein paar Szenen für den neuen Kurzfilm drehen."

Benno gähnte demonstrativ. „Einverstanden. Ich hab morgen auch genug zu tun. Im Hotel steht ein kleines Konzert an und ich habe meinen Eltern versprochen zu helfen. Also lasst uns nach Hause gehen."

Jasper löschte die Lichterketten und Kerzen, während Fria und Lilia das Spiel und ihre restlichen Mitbringsel zusammenpackten. Benno ordnete die Sitzpolster auf dem Boden.

Sie sagten dem Baumhaus auf diese Weise gute Nacht. Nun konnte es sich zur Ruhe legen, genauso wie es die kleinen Orte neben dem Wald bereits getan hatten.

Nacheinander kletterten sie die Leiter nach unten und schalteten ihre Taschenlampen an. Um diese Tageszeit konnte einem alles Mögliche begegnen.

Die Freunde waren schon auf reichlich Hasen, Füchse und auch ein paar Wildschweine getroffen. Doch da sie als Gruppe zu viert - oder fünft - einen überzeugenden Gegner für die Schweine abgegeben hatten, hatte sich noch nie eins mit ihnen angelegt.

Sie waren ein paar Schritte gelaufen, als Fria flüsterte: „Fühlt ihr auch, dass irgendetwas nicht stimmt? Der Wald ist heute echt still."
Lilia musste ihr zustimmen. Irgendetwas war seltsam. Man hörte keine Eule schreien, keine Grille zirpen. Es gab nur die bedrückende Stille.

Jasper lachte laut auf. „Keine Angst, ihr habt den Monopoly-Gott an eurer Seite. Euch kann nichts passieren."

„Was hat denn Monopoly mit der Natur zu tun?", fragte Benno verwirrt. „Du würdest als Monopoly-Gott doch einfach einen Bagger durch den Wald fahren lassen, um hier ein neues Hotel hinzubauen."

Jasper wollte gerade etwas erwidern, da wurden sie unterbrochen.

„Hallo?" Eine hohe, gebrochene Stimme durchschnitt die Stille der Nacht.

Alle vier zuckten zusammen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie richteten ihre Taschenlampen in die Richtung, aus der die Laute kamen.

Ein kleines Mädchen trat in den Schein der Lampen. Sie trug nur ein dünnes T-Shirt, eine kurze Hose und ein kleines Körbchen bei sich. Ihre Füße patschten nackt über den rauen Waldboden. Man konnte sowohl an der Gänsehaut als auch an ihrem zitternden Körper sehen, dass sie fror.

„Was machst du denn hier so allein?" Fria ging ein paar Schritte auf sie zu. Das Mädchen machte keine Anstalten zu fliehen - im Gegenteil. Sie streckte Fria die Hand hin und schüttelte sie. Ihre langen blonden Haare wippten dazu im Takt.

„Mein Name ist Lani, ich bin auf dem Weg zu meiner Großmutter", begrüßte sie Fria.

Die Freunde sahen sich fragend an. Was hatte das zu bedeuten? Warum machte sich dieses kleine Mädchen mitten in der Nacht auf, um ihre Oma zu besuchen?

Fria räusperte sich. „Das ist schön Lani, aber ich denke, dass du ihr Haus in der Dunkelheit nicht finden wirst. Wie wäre es, wenn du morgen zu deiner Oma gehst?"

Lani schüttelte entrüstet ihren Kopf. „Nein, sie erwartet mich doch jetzt. Ich muss schnell weitergehen."

„Du wirst dich in diesem Wald verlaufen." Benno trat nun auch einen Schritt auf das kleine Mädchen zu. „Weißt du denn wenigstens, in welchem Ort sie wohnt, dann könnten wir dich begleiten." Seine Freunde nickten zustimmend.

Doch Lani schüttelte nur wieder den Kopf. „Das weiß ich nicht. Aber ich muss sie schnell finden."

Irgendetwas war hier faul, dass spürten alle Beteiligten. Die Worte des kleinen Mädchens hinterließen ein unangenehmes Bauchgrummeln. Sie trafen die Freunde genau dort, wo es wehtat. Denn egal, wie man sie drehte und wendete, sie klangen falsch. Unnatürlich, ja fast schon einstudiert.

Wie konnte dieses Mädchen zu einer Frau aufbrechen, von der sie noch nicht einmal wusste, wo genau sie eigentlich wohnte? Und welche Eltern hatten ihr Kind nachts ganz allein in den Wald geschickt?

„Hör mir zu." Jasper, der sich bis eben im Hintergrund aufgehalten hatte, kam nun zu Wort. Lilia sah ihn interessiert an. Wenn Jasper etwas zu sagen hatte, dann musste es eine gute Idee sein. Immerhin hatte er jetzt genug Zeit gehabt, die Möglichkeiten durchzuspielen und alle Ausgänge dieser Situation abzuwägen. Er hatte sich in der kurzen Bedenkzeit einen Plan überlegt.

„Lani, wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich dich erst einmal mit zu mir nehmen. Du kannst bei mir schlafen und morgen früh nimmt mein Vater dich mit auf das Polizeirevier. Er ist dort Polizist. Dann könnt ihr deine Eltern kontaktieren ..."

„Nicht die Eltern, nur meine Großmutter", schnitt Lani ihm das Wort ab.

„Also gut, nur deine Großmutter."

Fria nickte. „Das ist eine gute Idee Jasper. Lani hat diese Nacht ein Dach über dem Kopf und morgen wird die Polizei ihr dabei helfen, ihre Oma zu finden." Man sah Fria an, was sie eigentlich sagen wollte. Natürlich war den Freunden klar, dass Jaspers Vater nicht versuchen würde, die vermeidliche Großmutter, sondern Lanis Eltern ausfindig zu machen. Doch das durfte man ihr natürlich nicht sagen, denn für Lani waren ihre Eltern anscheinend ein Tabuthema.

Fria nahm das kleine Mädchen an die Hand, als sie sich nun endlich auf den Rückweg machten. Lilia sah unauffällig auf ihre Armbanduhr. Es war bereits kurz nach zwei in der Nacht. So lange waren sie selten im Baumhaus. Hoffentlich war ihre Mutter bereits schlafen gegangen. Meistens blieb sie wach, bis Lilia nach Hause kam, nur um sicherzustellen, dass mit ihr nichts passiert war.

Zu einem gewissen Teil konnte Lilia sie verstehen, doch wenn sie gut gelaunt nach Hause kam und dort ihre besorgte Mutter vorfand, störte sie die Überfürsorge. Warum konnte sie nicht ein einziges Mal ruhig bleiben, wenn Lilia im Baumhaus war? Sie hatte doch immer jemanden von ihren Freunden dabei, der ihr im Notfall helfen konnte.

„Verrätst du mir noch deinen Nachnamen?", fragte Fria gerade von weiter vorne. 

Lilia spürte, wie der Wald um sie herum langsam wieder zum Leben erwachte. Anscheinend war die vermeidliche Gefahr, die von Lanis Anwesenheit ausgegangen war, nun verflogen, und die Tiere trauten sich aus ihren Verstecken zu kommen.

Lilia hörte die erste Eule schreien, während Lani Fria antwortete und sich gleichzeitig eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete: „Es gibt keinen Nachnamen. Ich bin Lani. Einfach nur Lani." 


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Hey :) 

Herzlich Willkommen im Buch. Ich hoffe, euch hat die erste Szene gefallen. 

Mein Plan ist es, jeden Sonntag eine neue Szene zu veröffentlichen. So kann ich jetzt, in meinen Ferien, versuchen, möglichst viel zu schreiben und kann die vorgeschriebenen Kapitel in meiner Klausurenphase veröffentlichen, wenn ich wahrscheinlich leider keine Zeit zum Schreiben finden werde. 

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