Szene ②
„Ja Jasper, das klingt gut ... Ich ... bin jetzt da. Kann ich dich nachher zurückrufen?"
Ausgeschlafen lief Fria am Sonntagmorgen über Jesingens Reiterhof. Sie wollte sich mit ihrem guten Freund Tilo treffen, der hier aushalf, um sich ein bisschen Taschengeld dazuzuverdienen. Tilo liebte Tiere, insbesondere Pferde, und hatte sofort eingewilligt, als Fria ein paar von ihnen für ihren Film angefragt hatte.
Jasper hatte ihr gerade berichtet, wie die gestrige Nacht für ihn weitergegangen war. Gemeinsam mit seinem Vater hatten sie Lani erst zur Polizei und schließlich ins Krankenhaus gebracht. Noch wusste man nicht, wo sie hingehörte, doch Jim Wittig, Jaspers Vater, hatte die Hoffnung, dass an diesem Nachmittag schon alles geklärt sein würde.
Fria war erleichtert. Hätte ihr Jasper erschreckende Dinge erzählt, hätte sie den Besuch auf dem Reiterhof wohl abgeblasen und wäre stattdessen zu Lani ins Krankenhaus gefahren. Doch da alles in Ordnung schien, konnte sie sich nun auf Tilo und ihr neues Filmprojekt konzentrieren.
Frias Mutter hatte sie frühzeitig hier abgesetzt, damit sie später noch Zeit haben würde, die restlichen Hausaufgaben zu machen und für ihre Biologie-Klausur zu lernen. Das war zumindest die Idee ihrer Mutter. Fria wusste noch nicht, ob ihr die Hausaufgaben wichtig genug waren. Vielleicht würde sie auch weiter ihren Film planen.
Die junge Frau stand nun mit ihrem Kameraequipment auf dem Hof und wartete auf Tilo. Sie verabschiedete sich von Jasper und legte auf.
Dann zog sie die Nase kraus. Noch konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie die Luft als frische Landluft, oder stinkende Pferdescheiße betiteln sollte. Auch wenn sie in diesem Dorf großgeworden war, konnte sie sich einfach nicht an die Gerüche gewöhnen.
„Da bist du ja endlich!", begrüßte Tilo sie schon von Weitem. Seine etwas längeren, braunen Haare wehten im leichten Wind. Fria strahlte. Es war schon wieder viel zu lange her, dass sie Zeit mit ihm verbracht hatte. In der Schule hatten sie kaum Kurse zusammen und durch ihre unterschiedlichen Freundeskreise sahen sie sich auch außerhalb nicht oft. Doch Fria kannte Tilo schon ewig und auch wenn sie nicht jeden Tag Kontakt hatten, waren sie trotzdem unzertrennlich.
„Was hast du denn an?", fragte Fria verdutzt, als Tilo den Hof überquert hatte und nun vor ihr stand.
Er trug eine knallgelbe Latzhose und ein neon-orangenes Shirt. Es war nicht so, dass die Farben nicht zusammenpassten, es war nur ein sehr auffälliges Outfit und Tilo würde damit sicher alle Blicke auf sich ziehen.
Er lachte. „Ich war heute noch nicht ganz wach, als ich meine Sachen ausgesucht habe. Mala hat mich auch komisch angeguckt. Anscheinend denken jetzt alle von mir, ich sei völlig verrückt geworden."
Mala war Tilos Pferd, eine stolze Haflinger-Stute, die einen großen Platz in seinem Herzen einnahm.
„Ich denke nicht, dass du verrückt bist." Fria lächelte. Man spürte, dass gleich noch eine Stichelei folgen würde. „Nur ein wenig verpeilt."
Tilo grinste. „Vielen Dank, das kann ich so nur zurückgeben. Du bist nämlich auch ein wenig verpeilt."
„Das stimmt doch gar nicht!", versuchte sich Fria zu verteidigen.
„Oh doch. Wetten, dass deine Mutter dich heute geweckt hat, damit du pünktlich auf den Hof kommst und du ohne sie verschlafen hättest?"
Fria fühlte sich ertappt. Tilo hatte leider recht. Sie hatte vergessen, ihren Wecker zu stellen und war nur durch die Hilfe ihrer Mutter heute pünktlich im Stall erschienen. Eigentlich wollte sie ihm nicht zeigen, dass er mit seiner Vermutung voll ins Schwarze getroffen hatte, doch ein ertappter Ausdruck trat auf Frias Gesicht.
Tilo grinste verschmitzt. „Wusst ich's doch!"
„Bilde dir ja nichts drauf ein. Und bevor wir jetzt den Tag damit verschwenden, hier herumzustehen und zu quatschen, sollten wir lieber mit den Aufnahmen starten."
„Du willst nur ablenken, aber gut, dann fangen wir halt an." Tilo zeigte ihr den Weg durch den Stall, hinauf zu den Koppeln.
Fria überlegte kurz, ob sie Tilo von der merkwürdigen Begegnung gestern erzählen sollte. Gedanken an das gruselige, kleine Mädchen geisterten noch immer in ihrem Kopf herum. Doch nun befand sie sich nicht in einem dunklen Wald, sondern auf einer sonnigen Wiese und lieber verdrängte sie, was sie gestern Nacht erlebt hatte. Schon früh genug würde sie sich wohl wieder mit Lani beschäftigen müssen.
Deshalb folgte sie ihrem Freund wortlos.
Neben einer etwas abseits gelegenen Weide hielt Tilo an und öffnete Fria das Zaun-Tor.
Die Pferde auf der Koppel sahen gespannt dabei zu, widmeten sich aber schnell wieder dem saftigen Gras. Nur ein Tier lief freudig auf sie zu.
„Hallo Mala." Fria hob die Hand, um ihr über das Fell zu streicheln. „Mann, bist du groß geworden."
Das war natürlich Quatsch. Das Tier war seit drei Jahren ausgewachsen, doch Fria erstaunte es immer wieder, wie groß Pferde doch waren.
Tilo streckte seiner Dame eine Karotte hin. „So Liebste, bist du bereit, ein schönes Video von dir gedreht zu bekommen?"
Natürlich antwortete das Pferd nicht. Doch während Fria ihr Equipment auspackte, ging Tilo mit Mala zur anderen Seite der Koppel, um gleich auf die Kamera zulaufen zu können. Das hatten sie bei einem Telefonat besprochen. Fria hatte jede Szene in einem Storyboard genau geplant und Tilo jedes Detail mitgeteilt.
Die junge Filmemacherin hatte ein paar Minuten damit verbracht, die richtigen Kameraeinstellungen zu wählen. Als sie das nächste Mal nach vorne sah, erschrak sie. Die Pferde waren wie ausgewechselt. Noch eben hatten sie ruhig dagestanden, doch nun sprangen sie im Kreis umher und beschwerten sich lauthals.
Tilo kam allein auf sie zu gerannt. Mala hatte er im Kreis der anderen Pferde verloren.
„Was ist los?", fragte Fria angespannt. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, auf einer Koppel mit wildgewordenen Pferden zu stehen.
„Ich habe keine Ahnung. Mala hat sich erschrocken, so wie alle anderen auch und dann sind sie losgerannt."
Die Pferde donnerten über den trockenen Boden, der sich am Rand der Koppel gebildet hatte und viele wieherten, um ihr Unwohlsein noch einmal verstärkt auszudrücken.
Fria schnappte sich schnell ihr Zeug und folgte Tilo von der Koppel. Sie konnte die Aufnahmen für heute vergessen. Bis sich die Tiere beruhigt haben würden, sollte sie schon längst wieder zuhause sein. Sie hatte noch immer nichts für ihre Biologie-Klausur gelernt und auch wenn sie Dinge gerne aufschob, langsam wurde sie panisch. Sie hatte keinen Plan von ihrem Thema, da sie in den Unterrichtsstunden lieber mit Lilia Stadt-Land-Fluss gespielt hatte. Außerdem wollte sie Jasper und die anderen nochmal anrufen, um ihr seltsames Aufeinandertreffen mit Lani revue passieren zu lassen.
Auch Tilo schien zu spüren, dass Fria enttäuscht war. „Tut mir leid, dass es heute nicht funktioniert."
Fria schenkte ihm ein Lächeln. „Das ist doch nicht deine Schuld. Du solltest dich jetzt lieber um Mala kümmern, statt mich zu bemitleiden."
„Ich denke, ich kann gerade nichts für sie tun. Sie muss sich jetzt erst einmal beruhigen, dann werde ich zurück auf die Koppel gehen. Soll ich dich noch bis zum Ausgang begleiten?"
Fria nahm das Angebot ihres Freundes dankend an. So konnten sie sich, trotz des gescheiterten Plans, wenigstens noch ein bisschen unterhalten.
Als Fria etwa zwanzig Minuten später in ihrem Zuhause ankam, wurde sie stürmisch von ihren Brüdern begrüßt. Die beiden Neunjährigen hüpften auf und ab, während sich Fria ihre Schuhe abstreifte.
„Wie sehen die Aufnahmen aus?"
„War es spannend?"
„Wie geht es Tilo?"
Sie ließen ihrer Schwester keine Pause und überschütteten sie mit Fragen. Diese lächelte nur über den Eifer ihrer Brüder. Kai und Emil waren wie immer viel zu gut gelaunt.
„Jetzt lasst Fria doch auch mal zu Wort kommen!", schaltete sich ihre Mutter in diesem Augenblick ein. Sie kam aus der Küche, in den Händen hielt sie ein Glas, das sie mithilfe eines Handtuches trocknete. Ihre langen weißen Haare steckten in einem ordentlichen Dutt. Um ihre Haarpracht hatte sie schon manch andere Frau in diesem Dorf beneidet.
„Es lief nicht gut", gab Fria ehrlich zu.
„Oh nein, warum das denn?" Kais Mundwinkel wanderten nach unten. Damit hatte ihr kleiner Bruder wohl nicht gerechnet.
„Die Pferde waren sehr unruhig und wir konnten deshalb keine Aufnahmen von Mala machen. Tilo hat mir aber versprochen, dass er sich bald meldet, und wir es im Laufe der Woche nochmal versuchen."
„Na das klingt doch gut." Frias Mutter hatte das Glas abgestellt und streichelte Emil über die kurzen Haare. Auch er hatte wohl befürchtet, dass Fria aus schlimmeren Gründen keinen guten Morgen gehabt hatte.
„Ich habe Hunger", verkündete die junge Frau, als sie nun durch das Wohnzimmer in die Küche lief. „Wie ich sehe, habt ihr schon gefrühstückt. Ist noch etwas für mich übriggeblieben?"
„Wir haben dir extra was aufgehoben!" Kai und Emil holten stolz eine Brot-Dose aus dem Küchenschrank und hielten sie Fria hin.
Diese gab beiden einen Kuss auf die Wangen. „Ich danke euch."
Fria liebte ihre Brüder über alles. Sie waren nicht blutsverwandt, doch das störte keinen der Geschwister. Ihre Eltern hatten sie als Babys adoptiert, da sie selbst keine Kinder bekommen konnten.
Die Adoptionen waren ein längerer Prozess gewesen, weshalb Herr und Frau Roncal auch älter als die meisten anderen Eltern waren.
Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Fria und die Zwillinge adoptiert waren. Es war optisch offensichtlich, dass die drei nicht die Kinder der Roncals sein konnten. Frias leibliche Mutter kam aus Vietnam, hatte sie aber im Kinderheim abgegeben, weil sie sich kein Leben mit einem Kind hatte vorstellen können.
Die Zwillinge sahen mit ihrer dunklen Hautfarbe ebenfalls nicht aus wie Frau und Herr Roncal.
Doch auch wenn die Familie nicht das gleiche Blut teilte, waren sie trotzdem enger verbunden als die meisten anderen. Es gab in diesem Haus nur selten mal kleinere Streitigkeiten oder Unstimmigkeiten. Natürlich zankten die Geschwister hin und wieder, doch es existierte eine immerwährende, bedingungslose Liebe, die über all dem stand.
Fria hatte ihre Brüder ab Tag eins in ihr Herz geschlossen. Sie war damals mit Oma Roncal zu Hause geblieben, als ihre Eltern die beiden abgeholt hatten. Noch klein und schrumpelig, gerade erst eine Woche alt, waren sie schließlich angekommen.
Das berühmte Bild, auf dem die achtjährige Fria ihre kleinen Brüder überglücklich in den Armen hielt, hing bis heute im Hausflur.
„Wollt ihr noch sitzenbleiben, während ich esse, oder habt ihr Wichtigeres zu tun?" Fria biss bereits herzhaft in ihr Brötchen, während ihre Brüder und ihre Mutter nur dabei zusahen.
„Wir bleiben hier", entschied Kai.
„Und danach können wir noch etwas spielen." Emil rannte los, um eins der vielen Spiele aus dem Wohnzimmer zu holen.
Fria lächelte.
Jetzt würde sie wohl erst einmal nicht zu den Hausaufgaben und dem Lernen für die Biologie-Klausur kommen. Aber wenn sie ehrlich war, war ihr das nur recht.
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