Szene ④


Pferdewiehern und Bienensummen lag in der Luft, als Fria an diesem Mittag über den Reiterhof lief. Sie hatte dieses Mal nur eine von vielen Kameras dabei und wusste noch nicht, ob sie diese überhaupt benutzten würde.

Eigentlich war sie nur hier, um Tilo zu fragen, ob er ihr Hauptdarsteller im neuen Film werden wollte. Ein Video über einen reitenden Jungen würde sicher gut bei ihren Followern ankommen. Immerhin lobten diese sie immer dafür, dass sie in ihren Videos die klassischen Geschlechterrollen aufhob.

Natürlich lief Fria aber nicht Tilo über den Weg, als sie endlich auf dem Reiterhof ankam, sondern Kristina.

Die schwarzlockige Schönheit saß auf dem Rücken einem der grasenden Pferde auf der Koppel und aß einen Apfel. Leise schlich Fria den winzigen Weg entlang und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Doch Kristina konnte nicht nur gut reiten, sie hatte anscheinend auch sehr gute Ohren.

„Hallo Fria. Suchst du Tilo?"

Ertappt versuchte sich die junge Filmemacherin ihre Emotionen nicht anmerken zu lassen. Sie hatte absolut keine Lust mit Kristina zu reden. Diese monstermäßig gute Reiterin hatte ihr das Videomaterial von vor ein paar Wochen vermiest und verziehen hatte ihr Fria noch nicht.

„Ja, ich wollte nach Tilo sehen. Weiß du, wo er ist?" Fria versuchte, sich nichts von ihrer genervten Stimmung anmerken zu lassen. Sicher war Kristina nicht absichtlich im Hintergrund ihres Videos geritten.

Die Reiterin biss das letzte Stück von ihrem Apfel ab und hielt den Rest ihrem Pferd hin. „Tilo ist auf dem Heuboden und versucht, für seine Englischarbeit zu lernen. Ich würde ihn nicht stören. Als ich vorhin mal vorbeigekommen bin, hat er mich sofort weggeschickt."

„Alles klar. Vielen Dank." Fria schenkte Kristina ein kleines Lächeln und verabschiedete sich. Schnell lief sie weiter.

Auch wenn die Reiterin ihr geraten hatte, Tilo nicht zu stören, musste sie ihn einfach sehen. Es gab wichtige Fragen zu klären.

Es dauerte nicht lange, bis Fria den Reiterhof überquert hatte und die Strickleiter auf den Dachboden geklettert war.

Oben begrüßte sie eine Hitze, Staub, Dreck, Spinnenweben und sehr viel Heu. Zwischen all dem konnte Fria Tilo nicht entdecken.

„Tilo?", rief sie heißer. Die Hitze stieg ihr schon jetzt zu Kopf. Wie konnte Tilo hier freiwillig lernen?

„Wer ist da?", kam es aus einer der hinteren Ecken. Fria kämpfte sich durch die Unmengen an Heu und Dreck. Schon nach wenigen Schritten spürte sie, wie sich das getrocknete Gras an den Schweiß in ihren Kniekehlen klebte. „Eklig."

„Fria?" Tilo saß auf einem Heuhaufen, um ihn waren einige alte Schulbücher verteilt. Das Fenster neben ihm war geöffnet und bot so zumindest ein klein wenig frische Luft an.

Schnell klopfte Fria das Heu von sich ab und setzte sich dicht neben das Fenster. Als ein kleiner Windhauch aufkam, streckte sie sich ihm entgegen und atmete tief ein.

„Was machst du hier Fria?" Tilo hatte sein Buch zur Seite gelegt und betrachtete seine Freundin nun aus intelligenten, braunen Augen.

„Ich muss dich was fragen."
„Und das ging nicht über WhatsApp?"

Fria schüttelte schwungvoll den Kopf. So wie Tilo sie ansah, wollte er wirklich lieber lernen. Trotzdem konnte sie jetzt nicht einfach gehen. „Hast du zufälligerweise Zeit, in meinem Film die Hauptrolle zu spielen? Mir fehlte vor ein paar Wochen noch der richtige Input. Aber jetzt habe ich ein Drehbuch geschrieben."

Tilo grinste. Anscheinend schien der Lernwille nur kurz angehalten zu haben. „Klar. Wann geht es los? Morgen schreibe ich Englisch, aber danach habe ich erst einmal Zeit."

„Nächstes Wochenende?" Fria freute sich sehr. Jetzt könnte sie endlich wieder mehr Zeit mit Tilo verbringen.

„Gerne." Ihr Freund zeigte ihr einen Daumen nach oben und fing dann damit an, sein Schulzeug zusammenzupacken.

„Fertig gelernt?", fragte Fria neckend. „Kristina sagte, du willst nicht gestört werden." 

„Ja, eigentlich wollte ich lernen..." Schuldbewusst fuhr sich Tilo durch die Haare. „Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass du vorbeikommen würdest."

„Süß." Fria hob das letzte Buch auf und legte es in die bereitstehende Tasche. Es ging um Grammatik und Kommasetzung. Fria hätte es am liebsten sofort von sich weggeworfen, nachdem sie den Titel gelesen hatte. „Eklig."

„Jaja, ich weiß. Aber jetzt erzähl mal. Wie geht es dir so? Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen."

Auf diese Frage war Fria nicht gefasst gewesen und sie erwischte sie kalt. Wie ging es ihr? Die meiste Zeit versuchte sie sich das nicht zu fragen.

Wie sollte es einem schon gehen, wenn die beste Freundin gestorben war. Der Schmerz würde womöglich nie nachlassen.

„Ich versuche, das Geschehene so gut es geht zu verdrängen", gestand sie.

Tilo hatte sich im Schneidersitz in das Heu gesetzt und griff nun nach einer Wasserflasche. „Sicher, dass Verdrängen so eine gute Idee ist?"

„Was soll ich sonst machen? Wenn ich mich nicht zwinge, an etwas anderes zu denken, sehe ich jede Nacht das Bild von Malea vor mir, wie sie tot und in einem Ballkleid im Wald liegt."

Tilo merkte, wie sich Frias Brust unregelmäßig hob und senkte. Sofort übergab er ihr das Wasser und setzte sich näher zu ihr. „Sprich gerne weiter, aber erst, wenn du dich bereit dazu fühlst." 

Fria ließ sich Zeit. Sie wusste, dass Tilo eine gute Wahl war, über alles zu reden. Und deshalb wollte sie ehrlich sein. Trotzdem tat es weh, all die Gedanken, die sich in den letzten Wochen wie ein Bilderbuch in ihrem Kopf angelegt hatten, nun auszusprechen. Das Fotobuch in ihrem Kopf würde wohl den Titel warum Malea unsere beste Freundin war heißen. Es begann bei ihrem Kennenlernen und endete mit einem Bild, auf welchem das rothaarige Mädchen friedlich zu schlafen schien.

„Malea war mehr als nur ein Teil unserer Gruppe. Für jeden von uns hatte sie noch eine persönliche Bedeutung. Jasper stritt sich immer mit ihr, was uns allen aber immer großen Spaß bereitete. Jetzt habe ich wohl diesen Part übernommen, doch ich spiele ihn nicht halb so gut. Benno war der Einzige, dem Malea je etwas vorgesungen hat. Zusammen haben sie ganze Nachmittage Musik gemacht.

Mit mir hat Malea die besten Fotoshootings erlebt. Wir haben alles ausprobiert, was irgendwie im Bereich des Möglichen war. Zurück bleiben nun nur die wunderschönen Fotos.

Und Lilia, naja... langsam habe ich das Gefühl, dass sie mehr als nur Freunde waren."

Tilo lauschte gespannt. „Woher willst du das wissen?"

„Ich habe ein Gedicht von Lilia gefunden und dann eins und eins zusammengezählt. Die beiden haben sich oft allein getroffen und Lilia war die Einzige, die Maleas Tagebuch lesen durfte."

„Aber du bist dir nicht hundertprozentig sicher?"
Fria zuckte mit den Schultern. „Ich könnte auch etwas hineininterpretieren. Aber irgendwie passt alles zusammen."

„Stimmt. Aber das hat nichts mit dir zu tun. Du lenkst ab." Tilo stupste seine Freundin leicht mit der Schulter an. „Was würde dir helfen?"

Frias Herz machte einen Sprung, als sie den leichten Druck an der Schulter spürte. Auch über Tilos Vorschlag hatte sie schon nachgedacht, doch das einzige Ergebnis, was sie erzielt hatte, würde wohl nie eintreffen.

Tilo spürte, dass sie ihm etwas verheimlichte. „Los, sag. Du denkst doch nicht etwa, dass ich dich für irgendetwas auslachen würde."
Fria seufzte. „Nein, aber ich weiß nicht, ob meine Freunde mitmachen würden." 

„Sicher. Spuck es schon aus."

„Ich würde gerne für Malea eine kleine Trauerfeier im Wald veranstalten. Nur Jasper, Benno, Lilia und ich. Einfach ein paar Stunden, in denen wir uns zusammen erinnern, weinen und Abschied nehmen können. Denn die Beerdigung hat sich eher wie eine Veranstaltung für die Öffentlichkeit angefühlt. Es waren Polizei und Fernsehen anwesend und ich habe versucht, meine Gefühle so gut es ging zu unterdrücken."

„Verständlich", sagte Tilo. „Die Trauerfeier klingt nach einer guten Idee. Macht das."

„Aber Jasper und Lilia reden nicht mit mir über Malea. Sie scheinen das alles besser wegzustecken. Sie brauchen keine Trauerfeier."

„Hallo?", fragte Tilo verwirrt. „Hast du mir nicht gerade erzählt, dass Lilia und Malea vielleicht zusammen gewesen sind? Und Jasper tut zwar gefühlskalt, aber innerlich nimmt sicher auch ihn alles mit. Frag sie doch einfach. Das Schlimmste, was sie sagen könnten, ist nein."

„Du hast recht." Fria nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, um ihre trockene Kehle zu kühlen. Doch zu ihrem Bedauern war Tilos Wasser genauso warm wie der Heuboden. Heiß!

„Irg", brachte sie heraus und verzog den Mund. „Trotzdem danke."

„Kein Problem". Tilo strahlte.

„Nicht für das Wasser, das war eklig. Aber danke für deine Worte. Vielleicht frage ich die anderen wirklich."

„Mach das. Und dann kümmern wir uns um deinen Film. Was für ein Outfit soll ich mir denn für nächste Woche herauslegen? Ich könnte wieder die gelbe Latzhose anziehen." 

„Bloß nicht!", sagte Fria lachend.

Das Gespräch mit Tilo hatte ihr wirklich gutgetan. 

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