Szene ⑤


Jasper saß einige Zeit später in seinem Zimmer und versuchte, sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. Doch so richtig gelang es ihm nicht.

Immer wieder sah er auf sein Handy und hoffte auf neue Nachrichten, mit denen er sich ablenken konnte.

Er war ganz erstaunt über sich selbst. Normalerweise fesselten ihn gerade die schwierigen Matheaufgaben an seinen Stuhl. Doch nun lief er immer wieder in seinem Zimmer auf und ab, lenkte sich auf Instagram ab oder googelte nach Antworten auf Fragen, die in schon lange beschäftigten.

Als endlich ein paar WhatsApp-Nachrichten von seinen Freunden eintrudelten, hielt Jasper nichts mehr am Schreibtisch. Er schmiss sich auf sein Bett und öffnete die App.

Anscheinend wollte Fria sich ebenfalls von den Hausaufgaben ablenken, denn sie begann wie aus dem Nichts, Benno nach Suzanne auszufragen.


Fria Roncal:
Benno mein Liebster! Du musst uns unbedingt noch aufklären, was jetzt zwischen dir und Sue läuft. Habe ich da etwa ein wenig Eifersucht deinerseits gespürt, als sie sich heute mit Jasper unterhalten hat?


Der junge Wissenschaftler schnaubte. Er selbst hatte davon nichts gemerkt und eifersüchtig musste Benno bei ihm wirklich nicht sein.


Benno Relotius: 

Natürlich nicht! Bei uns läuft es super. Wo ich gerade dabei bin: Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich sie das nächste Mal mit ins Baumhaus einladen würde?


Lilia Hohn:

Klar kann sie kommen!


Fria Roncal:

Nur, wenn du uns jetzt noch mehr Details lieferst. Habt ihr euch schon geküsst?


Jasper seufzte auf. Ernsthaft? War das wirklich alles, was Fria interessierte? Wie es um Bennos Beziehung stand, ging sie eigentlich gar nichts an.

Jasper war es zumindest ganz egal.


Benno Relotius:

Nein, haben wir nicht. Aber ich war einmal sooo kurz davor.


Fria Roncal: 

WANN?!?!?!


Benno Relotius: 

Als sie gestern bei mir war. Ich habe ihr etwas auf dem Klavier vorgespielt, dann haben sich unsere Hände berührt und ... naja, wir haben uns beide zurückgezogen, bevor irgendwas passieren konnte.


Fria Roncal:

Schade! Aber wenn ihr es beide noch für zu früh empfunden habt, war es wohl die richtige Entscheidung.


Noch eine andere Frage: Du fandest sie von Anfang an toll, oder? Also du hast sie gesehen und dachtest – mit dieser Person könnte ich mir etwas vorstellen.


Benno Relotius: 

Ja, denke ich mal? Die Frage erscheint mir etwas komisch. Worauf willst du hinaus?


Fria Roncal:

Nur so.


Lilia Hohn: 

Es geht um Tilo, oder? Du willst wissen, ob da romantische Gefühle zwischen euch sind.


Während Benno ein paar zustimmende Smileys sendete, blieb Fria erst einmal still. Jasper grinste. Lilia hatte sie durchschaut.

Irgendwann begann die junge Filmemacherin dann aber doch wieder zu tippen.


Fria Roncal: 

Vielleicht. Mir fällt es gerade einfach schwer, diese Gefühle zu unterscheiden.


Benno Relotius: 

Ich würde einfach auf dein Herz hören. Es ist wie mit Prominenten oder Filmfiguren: Willst du die Person sein, willst du mit ihr befreundet sein, oder willst du mit ihr zusammen sein?

Zündet da irgendein Feuerwerk in deinem Herz, wen du sie siehst, oder sind es nur wohlig, warme Gedanken?

Bei dieser Nachricht sah Jasper von seinem Handy auf.

Feuerwerk in deinem Herz.

Wohlig, warme Gedanken.

Wenn er an seine Freunde dachte, waren da auf jeden Fall wohlig, warme Gedanken. Doch Bennos beschriebenes Feuerwerk hatte er noch nie gefühlt.

Nicht in echt, aber auch nicht bei Prominenten. Nicht einmal bei seinen liebsten Filmcharakteren. Es gab Menschen, die sahen gut aus, aber nie so, dass Jasper irgendetwas dabei fühlte. Generell hatte er noch nie jemanden getroffen, mit dem er sich ernsthaft in einer Beziehung gesehen hätte. Gab es diese Person überhaupt? Und wollte er, dass es diese Person gab? 

Eigentlich fühlte sich Jasper gut in seiner Haut. Er wusste, was er vom Leben wollte und hatte große Pläne. Doch bei keinem dieser Pläne tauchte eine Person an seiner Seite auf. War das so falsch?

Ein Ton kündigte eine weitere Nachricht an.


Fria Roncal: 

Das ist ein doofes Muster für Einordnungen. Gefühlt sehen alle Schauspieler so gut aus, dass man gerne mit ihnen zusammen wäre.


Benno Relotius: 

Wohl wahr, trotzdem verstehst du denke ich, was ich meine. Vertrau einfach auf dein Gefühl. Ich glaube, jeder Mensch hat da eine natürliche Einschätzungsgabe für.


Autsch. Auch wenn Bennos Seitenhieb nicht beabsichtigt war, traf er irgendwas tief in Jasper. Da war er wohl nicht normal.

Der junge Mann hatte bereits mehrfach im Internet auf eine Antwort für sein Problem gesucht und war dort auch auf eindeutige Antworten gestoßen. Es gab einen Begriff für seine Andersartigkeit. Doch richtig eingestehen wollte er es sich noch nicht. 

Vielleicht traf er ja irgendwann doch noch die richtige Person. Daran musste er einfach glauben. 

In diesem Moment drehte sich unten ein Schlüssel im Türschloss und Jasper hielt nichts mehr auf seinem Bett. Schnell lief er nach unten und begrüßte seinen Vater, der gerade von der Arbeit zurückkam. Seine Rückkehr war eine willkommene Ablenkung.

„Hi Papa, wie war's?", fragte Jasper mit ein wenig zu viel Interesse. Er war sich selbst nicht sicher, ob sie gespielt war, weil es ihm zu einem gewissen Grad doch interessierte. Immerhin könnte sein Vater etwas Neues über Malea herausgefunden haben.

Doch dieser sah leider alles andere als gut gelaunt aus. In seinem Gesicht lag Sorge und er seufzte nur zur Antwort.

„Was ist los?", fragte Jasper alarmiert.

„Wir haben endlich Untersuchungsergebnisse von Lanis Autopsie erhalten. Es konnte festgestellt werden, von welcher Waffe die Patronenkugel stammte, die sie getötet hat."

Jasper war irritiert. „Ist das nicht etwas Gutes?"
Sein Vater schüttelte den Kopf. In seinen Augen las man zu viele Emotionen auf einmal. Irritation. Wut. Angst. Unglaube.

Er holte tief Luft und erklärte: „Es ist meine Waffe."

„Was?" Jaspers Mund klappte auf und er verstand die Welt nicht mehr. Die Pistole seines Vaters soll Lani getötet haben? Aber sein Vater würde so etwas doch niemals tun. Außerdem war er zur Tatzeit hier zuhause gewesen, und mit seinen Freunden war Jasper gerade erst zu dem Schluss gekommen, dass es Maleas Vater Hans gewesen war, der Lanis Tod zu verschulden hatte.

„Keine Sorge Jasper. Ich werde dir gleich alles in Ruhe erklären. Aber erst brauche ich ein Glas Wasser."

Der irritierte Junge folgte seinem Vater in die Küche und beobachtete ihn aufmerksam. Dieser schien noch mehr zu wissen, und hoffentlich würde er Jasper gleich die ganze Wahrheit erzählen.

„Schenkst du mir auch ein Glas ein?", fragte Jasper leise.
„Klar." 

Seine Kehle war plötzlich unfassbar trocken. Sein Vater konnte nicht in den Mord verwickelt sein. Er war unschuldig, dafür sprach auch seine Körperhaltung. Krumm und beängstigt stand er vor seinem Sohn und schenkte mit zittrigen Fingern das Wasser in die Gläser.

Jasper trank schnell einen Schluck und ließ die sprudelnde Flüssigkeit seine Gedanken aufklären. Es musste einfach eine harmlose Erklärung für das eben Gesagte geben. Es musste eine Lösung ...

„Hans Verhaag und ich waren vor langer Zeit befreundet gewesen." Jim durchbrach plötzlich die unangenehme Stille, was Jasper zusammenzucken ließ. Jetzt ging es also doch wieder um Hans. „Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnern kannst, aber ich habe dich früher oft mit zu den Verhaags genommen, um mit ihm ein Bier zu trinken. Dabei konntest du Malea zu der Zeit nicht ausstehen."

Jasper kannte die Erzählungen über die unangenehmen Treffen, bei denen das rothaarige Mädchen und er schweigend nebeneinandergesessen hatten. Sie waren vielleicht vier Jahre alt gewesen, weshalb er selbst sich nicht daran erinnern konnte. Obwohl man als Kind normalerweise offen für jeden Spielpartner war, wollte der Funke bei ihnen einfach nicht überspringen.

Es war wie ein Wunder gewesen, als sie sich schlussendlich doch angefreundet hatten. Wobei sie das vor allem Lilia zu verdanken hatten, die ungemütlich an einen freundschaftlichen Bund zwischen Jasper und Malea geglaubt hatte.

Jim Wittig trank wieder einen Schluck Wasser. „Hans und ich waren so gut befreundet gewesen, dass ich ihn sogar manchmal mit in den Wald genommen hatte, wenn ich ein paar Schießübungen machte. Ich habe ihm die Pistole nie gegeben, doch er hat mir zugesehen, wenn ich auf bunte Punkte schoss, welche die Polizei zu Übungszwecken an die Bäume gemalt hatte."
Jasper hörte aufmerksam zu und erahnte bereits, in welche Richtung die Geschichte gehen würde.

„Eines Tages legte ich die Pistole auf einem Baumstumpf ab, da wir ein Picknick veranstalteten. Die Waffe lag direkt neben mir, trotzdem übersah ich sie, als wir Stunden später aufstanden und gingen. Erst am nächsten Morgen fiel mir auf, dass sie an meiner Uniform fehlte. Allein ging ich zum Baumstamm zurück, doch die Waffe war weg. Ich habe es sofort in der Zentrale gemeldet, doch auch meine Kollegen waren machtlos. Sie gaben mir eine neue Waffe. Die alte ist nie wieder aufgetaucht. Bis gestern dachte ich, dass sie das auch nicht mehr tun würde." 

„Und nun wurde Lani damit erschossen", schlussfolgerte Jasper.

Jim nickte.

„Scheiße." Sein Sohn ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Hans hat sicher bemerkt, dass du die Waffe vergessen hast, und ist nach eurem Spaziergang nochmal hingegangen, um sie zu holen. Das heißt, er plant seine Schachzüge schon seit langer Zeit."

„Das denke ich auch."

„Kannst du es auch beweisen, oder werfen sie dich ins Gefängnis."

„Oh Jasper." Sein Vater schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Keine Angst, mir wird nichts passieren. Ich habe bereits alles erklärt und nun werden die alten Akten gesucht, die meine Unschuld beweisen. Ich musste nämlich ein Dokument unterzeichnen, dass ich die alte Waffe verloren habe und eine neue ausgestellt bekomme. Wenn meine jetzige Pistole untersucht wird, kann leicht festgestellt werden, dass damit nicht auf Lani geschossen wurde."

„Gut. Ich habe nämlich keine Lust, dich im Gefängnis zu besuchen." Jasper atmete erleichtert aus und wurde von seinem Vater in eine liebevolle Umarmung gezogen. „Es wird alles gut. Man kann meine Schuldlosigkeit beweisen und wenn das getan ist, suchen wir weiter nach Hans Verhaag. Irgendwo muss er sich verstecken und wenn wir ihn finden, wird er hinter Gittern landen für das, was er seinen Töchtern angetan hat."

Jasper vergrub sein Gesicht in der Schulter seines Vaters und fühlte sich sofort sicherer. Auch wenn er nicht gänzlich an diesen Ausgang der Geschichte glaubte, antwortete er: „Das ist gut." 

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