Szene ⑤


In Lilias Traum war Malea am Leben. Statt ermordet unter der Erde zu liegen, sprang sie gut gelaunt am Waldanfang der träumenden Wälder umher. Die junge Künstlerin wartete auf ihre Schwester und ihren Vater, von denen sie so lange angenommen hatte, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilten. Malea konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Wäre sie nicht vor zwei Tagen allein in die Stadt gefahren, wäre sie nie auf die Zwei getroffen. Doch ob es nun Zufall oder Schicksal war, spielte keine Rolle. Malea hatte sie gefunden.

Nach Jahren, in denen sie ihren Vater und ihre Schwester totgeglaubt hatte, waren sie nun doch wieder aufgetaucht.

Sie hatte so viele Fragen. Allen voran die, warum sie sich nie gemeldet hatten. Immerhin wohnten Malea und ihre Mutter noch immer in dem gleichen Haus und wenn sie ebenfalls in der Gegend wohnten, hätten sie Malea doch besuchen können.

Außerdem war es ihr unerklärlich, wie sie die gefährlichen Brandungen der Ostsee überlebt hatten. Die Küstenwache hatte ihnen versichert, dass die Wellen sie in ihren sicheren Tod gerissen haben mussten.

Wie hatten sie überlebt und wo hatten sie gesteckt?

Malea schob die Gedanken beiseite, als ihr Vater und ihre Schwester in ihr Sichtfeld traten. Sie winkte den beiden glücklich zu.

Larissa war groß geworden. Man erkannte sie nur noch an ihren strahlend blauen Augen und den kleinen Sommersprossen. Ansonsten hatte sich der Körper, der nun Zwölfjährigen, grundsätzlich verändert. Sogar ihren Namen hatte sie gewechselt. Den Grund dahinter kannte Malea noch nicht.

Ihr Vater hingegen sah noch immer gleich aus. Er war in den zehn Jahren kein Stückchen gealtert. Nicht mal graue Haare hatte er bekommen.

„Hallo Familie", grüßte Malea strahlend. Sie hatte sich die störrischen roten Locken nach hinten gebunden und fuhr nun durch die Enden, die ihr locker über die Schulter fielen. Sie war aufgeregt. Neugierig, aber auch ein wenig skeptisch.

Larissa hingegen schien nur aufgeregt. Sie hüpfte hin und her und nahm Malea schnell an die Hand.

Die Siebzehnjährige sah zu ihrem Vater. „Ich habe an die Kamera gedacht, um die du mich gebeten hast." Sie löste den Gurt des Apparats, den sie bis eben über die Schultern getragen hatte und gab ihn ihrem Vater. Er hatte sie bei ihrem Treffen in der Stadt auf ein solches Gerät angesprochen. „Was willst du denn damit?"

Es war eine ältere Kamera. Malea hatte sie aussortiert, als ihre Mutter ihr eine bessere geschenkt hatte. Doch natürlich hatte sie das Gerät behalten. Immerhin hatte sie viele schöne Momente mit der Kamera erlebt. Eins ihrer Lieblingsbilder war mit ihr entstanden.

Jasper, wie er in seinem Zimmer saß und lächelte. Gemeinsam hatten die Freunde seine neuste Erfindung ausprobiert und nachdem diese funktioniert hatte, war der junge Mann sehr glücklich gewesen.

Malea liebte den Schnappschuss. Jasper lächelte viel zu selten sein ehrliches Lächeln. Meistens sah man ihn nur sarkastische Sprüche machen oder über irgendetwas grübeln. Das Foto bewies jedoch, dass es auch eine fröhliche, unbeschwerte Seite an ihm gab.

Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken. „Danke mein Kind. Ich werde dir zeigen, was ich damit vorhabe, wenn die Zeit reif ist." Hans Verhaag nahm die Kamera und ließ den Gurt über seine rechte Schulter hängen. „Dir wird die Überraschung gefallen."

Larissa hatte wohl genug gehört, denn sie tippelte unruhig herum und zog so die Aufmerksamkeit auf sich. „Lass uns zu meiner Großmutter gehen, Schwester", sagte sie und drückte Maleas Finger.

„Bitte was?" Malea entzog ihr ruckartig ihre Hand. „Ich dachte, wir gehen im Wald spazieren. Außerdem wohnt deine Oma in Schweden."

Wieder griff Larissa nach ihrer Hand. Hans wiederholte: „Lani möchte dir ihre Großmutter zeigen." Das kleine Mädchen lächelte. Es hätte niedlich ausgesehen, läge nicht so eine leichte autoritäre Haltung darin. Larissa würde nicht lockerlassen. Wenn sie Malea ihre Großmutter zeigen wollte, wo auch immer sie war, würde sie das tun.

Malea sah hilfesuchend zu ihrem Vater, doch auch dieser lächelte nur. „Komm mein Schatz. Wir gehen eine Runde." Er nahm Larissas andere Hand und zog sie mit sich. Malea fühlte sich unwohl. Auch die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach der träumenden Wälder fielen, konnten die Gänsehaut auf ihren Armen nicht vertreiben.

„Erzähl uns von dir, Malea", forderte ihr Vater sie auf. „Was sind deine Hobbys? Deine Lieblingsfarbe? Dein Lieblingsessen?"

Malea war unsicher, ob sie antworten sollte. Eigentlich hatte sie gehofft, zuerst ihre Fragen stellen zu dürfen. Immerhin gingen diese weit aus tiefer als die ihres Vaters. Wenn er nur diese Dinge über sie lernen wollte, hätte sie ihm auch ein Freundebuch ausfüllen können. Außerdem hatte sie ihr Hobby seit ihrer Geburt nicht mehr geändert, ihr Vater müsste es also kennen.

So schnell es ging, beantwortete sie die Fragen und lenkte dann das Gespräch von sich weg. „Ich male und fotografiere, ich mag grün, und esse gerne Spinat. Nun zu euch."

„Spinat?" Larissa streckte ihre Zunge heraus. „Ihhh!"

Malea lachte. Endlich schien sich die Stimmung zu bessern. „Spinat ist super. Gesund und appetitlich."

Die Gesichtszüge ihres Vaters wurden weich, seine Augen blickten melancholisch auf seine Tochter. „Du hast schon immer gerne Spinat gegessen. Lani hingegen nicht."

„Lani? Warum nennt ihr Larissa eigentlich die ganze Zeit so?" Malea erinnerte sich daran, wie ihre Schwester gerade den gleichen Namen verwendet hatte.

„Ich bin Lani", bestätigte diese schnell.

Malea war verwirrt. „Aber du heißt Larissa."

„Nein." Larissa schüttelte den Kopf. „Nicht mehr."

„Aber warum?"

Larissa zuckte mit den Achseln. „Lani klingt schöner. Nenn mich bitte nur noch so."

Ihr Vater nickte enthusiastisch. „Nenn sie bitte Lani."

Malea war nicht überzeugt von dieser Antwort. Da musste mehr dahinterstecken. Doch sie fragte nicht nochmal nach. Eine andere Frage war wichtiger. 

„Warum habt ihr nicht versucht, mit meiner Mutter und mir in Kontakt zu treten? Wir wohnen immer noch in unserem Haus. Ihr hättet nur vorbeikommen müssen." Mittlerweile waren die drei im Wald angekommen. Um sie sangen Vögel und es roch blumig. Die Atmosphäre war so schön, dass jeder normale Mensch stehen geblieben wäre, um die Natur zu bestaunen. Doch Maleas Verwandte blieben nicht stehen. Sie antworteten auch nicht auf ihre Frage. Sie gingen einfach weiter, als wäre sie auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, den sie nicht verpassen durften.

„Hallo? Ich habe euch etwas gefragt", durchbrach Malea nach einer Weile die Stille, weil sie es nicht mehr aushielt. „Warum seid ihr nicht zurückgekommen? Und warum seid ihr nicht ertrunken?"

Ihr Vater und ihre Schwester versteiften sich. Sie drehten sich langsam zu Malea um und sahen sie mit großen Augen an. „Wovon redest du? Wir haben euch verlassen. Wir sind eines Tages von zuhause weggegangen."

„Nein ...", antwortete Malea kühl. „Wir waren im Urlaub und ihr seid im Meer schwimmen gewesen. Dann kamen ein paar große Wellen, und ihr wart weg."

Larissa schüttelte sofort den Kopf. „Das kann nicht sein. Du erzählst Mist. Komm jetzt, wir wollen lieber ein Stück durch den Wald rennen." Sie versuchte wieder, Malea an die Hand zu nehmen, doch diese zog ihre zurück. Sie wollte hier weg. Vielleicht war die Aktion von Anfang an eine dumme Idee gewesen. Bis jetzt hatte die Vorfreude überwogen, doch nun hatte Malea einfach nur noch Angst. Etwas war mit den beiden passiert. In der Zeit, in der sie weg gewesen waren, hatten sie sich verändert. Sie wirkten, als hätte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen.

„Komm Malea. Geh mit mir." Wieder streckte Larissa ihr die Hand hin, doch Malea wich zurück. „Nein, ich gehe lieber wieder zurück. Es war ein Fehler herzukommen. Vielleicht sollten wir lieber gleich meine Mutter besuchen gehen. Die vertraute Wohnung wird euch guttun." 

Ihr Vater lächelte. „Wir wollen aber nicht zu dir nach Hause. Komm, Lani will mit dir durch den Wald rennen."

Maleas ganzer Körper kribbelte. Sie wich weitere Schritte zurück und wog ihre Chancen ab, unbeschadet aus der Sache herauszukommen. Wenn sie sich jetzt umdrehen und rennen würde, könnte sie den Fängen ihrer Familie womöglich entkommen. Doch keiner konnte ihr garantieren, dass ihr Vater nicht schneller rannte als sie. Und sie waren bereits so tief im Wald, dass der Weg zurück auch rennend mehrere Minuten dauern würde.

Noch ein letztes Mal wandte sie sich zu ihrem Vater und ihrer Schwester um. „Tut mir leid, aber ich erkenne euch nicht wieder. Ich werde gehen." 

Ihre Muskeln spannten sich an und sie setzte zu einem ersten großen Schritt an, da traf sie etwas am Hinterkopf und sie stolperte zurück. Sofort setzte der Schmerz ein und sie schrie auf.

Das Mädchen griff an ihren Kopf, sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ihr Schädel dröhnte. Es tat so weh!

Maleas Körper rollte mehrere Meter über den Boden. Sie hatte direkt an einem kleinen Abgrund gestanden und nun das Gleichgewicht verloren. Als sie aufhörte sich zu drehen, konnte sie nicht mehr aufstehen. Sie konnte gar nichts mehr tun, denn sie hatte ihr Bewusstsein verloren. In ihrem Kopf existierte nur noch eine alles umfassende, schwarze Leere.

Ihr Vater und ihre Schwester hingegen, sahen ihr hinterher. Noch immer hielt Hans Verhaag den Stein in der Hand, mit dem er seine Tochter am Hinterkopf getroffen hatte.

Lani sah plötzlich nicht mehr glücklich aus. Sie hatte ihre Mundwinkel nach unten gezogen und nahm die Hand ihres Vaters.

 „Wird sie aufwachen?", fragte sie bestürzt. 

„Nein Lani." Beschützend legte ihr Vater einen Arm auf ihre Schulter. „Sie wird nicht aufwachen."

„Ich fühle mich schlecht." 

„Wir haben das Richtige getan. Du weißt, warum wir es tun mussten." Er bedeutete ihr, ihm aus dem Wald zu folgen. „Jetzt wird alles gut werden Lani. Keine Angst."

Die beiden gingen aus dem Sichtfeld, doch Malea blieb noch mehrere Stunden regungslos am Boden liegen. Irgendwann kamen Wanderer vorbei und riefen einen Krankenwagen. Sie retteten der jungen Frau vorerst das Leben. Doch man wusste, wie die Geschichte für Malea ausgegangen war ...

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