Szene ④
Lilia saß in ihrem Zimmer und starrte auf das kleine Buch, was Jasper ihr heute Morgen gegeben hatte. Er war vor etwa einer Stunde gegangen und seitdem überlegte sie, ob sie es wirklich lesen sollte. Sie wusste, dass es vielleicht Antworten liefern konnte, doch Lilia hatte Angst davor, dass sie auf Erinnerungen stoßen würde. So wie sie Malea kannte, hatte sie hier vor allem positive Einträge geschrieben. Erinnerungen an Tage, die ihr beim erneuten Lesen ein Lächeln ins Gesicht zaubern, oder sie laut lachen lassen würden.
Doch Lilia wusste, dass ihr dieses Lächeln erspart bleiben würde. Malea könnte die Momente nicht nochmal bei Durchblättern des Buches erleben. Nie wieder. Denn sie war tot.
In der einen Stunde Bedenkzeit hatte Lilia es gerade mal zu Seite eins geschafft, auf der, wie von Jasper erwähnt, vermerkt war, dass nur Lilia dieses Buch lesen durfte. Die Auserwählte strich über die geschwungenen Buchstaben. Malea hatte so eine schöne Handschrift gehabt. Die Buchstaben waren genau richtig proportioniert und über und unter manchen von ihnen befanden sich kleine, kunstvolle Schnörkel.
Hätte Lilia so eine perfekte Schrift, würde sie ihre Bücher per Hand schreiben. Davon war sie überzeugt. Es wäre sehr unpraktisch und nicht wettbewerbstauglich, aber die Schrift könnte ihren Geschichten noch ein Fünkchen mehr Magie einhauchen. Sie würde ihren Worten Bedeutung und Weisheit verleihen.
Lilia schluckte. Sie wusste, dass sie das Tagebuch früher oder später lesen musste. Die vielleicht vorhandenen Informationen waren zu wichtig. Sie konnten vielleicht helfen, Klarheit in die Dunkelheit zu bringen. Doch konnte ihr Herz es verkraften, sich jetzt schon mit diesen Erinnerungen zu konfrontieren?
Nein, es sträubte sich dagegen.
Es dauerte ganze drei Stunden, bis Lilia den Mut fand, auf Seite Zwei zu blättern. Sie war dem Buch in der Zwischenzeit ausgewichen, in dem sie im Garten spazieren gegangen war und ihrer Großmutter beim Kochen geholfen hatte. Doch nun war es so weit. Sie musste es lesen.
Lilias Herz pochte laut gegen ihre Brust, als sie nach dem dünnen Papier griff und die Seite umschlug.
Sie begann zu lesen. Ihre Augen flogen gierig über die Seiten und sie hörte erst wieder damit auf, als sie beim letzten Eintrag angekommen war. Die Sonne war am Horizont langsam kleiner geworden. Gerade glitzerten die letzten Sonnenstrahlen auf Lilias Katze, die es sich auf dem begehrten Fensterbankplatz neben Lilia gemütlich gemacht hatte.
Die junge Frau streichelte über das warme, rote Fell. Sie hatte es nicht gemerkt, doch sie hatte beim Lesen irgendwann wieder zu Weinen begonnen. Ihre Einschätzung auf Maleas Worte hatte zugetroffen. Sie schrieb schlichtweg immer über schöne Momente. Sie erzählte von Treffen im Baumhaus, von der Kunstaustellung in Berlin, bei der ihr Bild einen Preis gewonnen hatte, und von Ferien bei ihren Großeltern in Schweden.
Lilia kam auch oft in den Einträgen vor und sie erinnerte sich melancholisch an die Momente zurück. Wie viel Spaß sie mit Malea gehabt hatte. Wie viel sie zusammen erlebt hatten. Wie viel sie ihr bedeutete. Es schmerzte zu wissen, dass all diese Momente der Vergangenheit angehörten.
Erst beim letzten Eintrag stieß Lilia schlussendlich auf wichtige Informationen. Er war zwei Tage vor Maleas Waldspaziergang geschrieben worden. Zwei Tage vor ihrem Einzug ins Krankenhaus. Zwei Tage bevor sie, aus einem noch ungeklärten Grund, ins Koma gefallen war.
Malea war an diesem Nachmittag allein in die nächstgelegene Großstadt gefahren. Sie hatte neue Malsachen einkaufen gehen wollte, und da keiner ihrer Freunde an diesem Tag Zeit gehabt hatte, war sie allein losgezogen. Malea berichtete von schönen Stiften, hochwertigen Leinwänden, weichen Pinseln und leckerem Essen. Dieses hatte sie sich nach dem erfolgreichen Einkauf gegönnt. Erst gegen Ende des Tagebucheintrags erzählte sie von einer Begegnung, die ihr Leben veränderte.
Sie schrieb davon, ihren Vater und ihre Schwester gesehen zu haben. Die beiden Familienmitglieder, die eigentlich vor einigen Jahren bei einem Urlaub verstorben waren, standen plötzlich vor ihr.
Anhand von Maleas Worten konnte man erkennen, dass sie ihr Glück kaum fassen konnte. Sie war so überfordert gewesen, dass sie ihrem Vater vor Freude versprach, ihre Mutter nicht in das Geheimnis mit einzuweihen. Hans Verhaag wollte Dorothea angeblich persönlich überraschen. Dieser Besuch sollte zwei Tage später stattfinden, nachdem Malea, Larissa und er einen Spaziergang im Wald gemacht hatten.
Hier musste Lilia schlucken. Larissa war Maleas kleine Schwester, von der sie eigentlich angenommen hatten, dass sie mit ihrem Vater in der Ostsee ertrunken war. Doch in diesem Buch wechselte der Name immer mal wieder. Anfänglich schrieb Malea noch von Larissa, doch dann stand da plötzlich ein anderer Name.
Ein anderer, ihr bekannter Name.
Und zwar Lani.
Lilia blickte schockiert vom Buch auf. Normalerweise tat sie das, wenn Charaktere in Geschichten kopflos handelten oder in offensichtliche Fallen liefen. Dieses Mal musste sie sich eingestehen, dass sie selbst einer dieser unwissenden Charaktere gewesen war.
Lani war Maleas Schwester?
Sie konnte sich nur noch wage an das Aussehen des kleinen Mädchens erinnern. Immerhin war sie noch ein Baby gewesen, als Lilia sie das letzte Mal gesehen hatte. Doch Augen- Haut- und Haarfarbe passten. Möglich wäre es schon.
Lilia versuchte immer wieder, das Gelesene zu verarbeiten, doch nach der Erkenntnis folgten Gewissensbisse.
Wäre sie an diesem schicksalshaften Tag vor ein paar Monaten nur mit Malea in die Stadt gefahren, dann hätte sie gewusst, wer mit ihrer Freundin in den Wald gegangen war. Vielleicht wäre sie sogar mitgegangen, nur um sicher zu gehen, dass Malea nichts passierte. Oder sie hätte ihre Freundin dazu überreden können, die Polizei einzuweihen, statt kopflos mit zwei Fremden mitzugehen. Denn obwohl sie wahrscheinlich wirklich verwandt waren, kannte Malea ihren Vater und ihre Schwester nicht mehr. Sie hatte sich Jahre nicht gesehen und waren zu Fremden geworden.
Nachdem Lilia den Eintrag zu Ende gelesen hatte, schien es für sie, als sei Malea von ihrem vermeintlichen Vater und ihrer vermeintlichen Schwester attackiert worden.
Der jungen Autorin wurde bewusst, dass ihre Lesestunde sie nicht wirklich weitergebracht hatte. Ein paar Antworten hatte sich erhalten, doch es waren noch mehr Fragen aufgekommen.
Morgen würde sie Fria, Benno und Jasper von dem Tagebuch berichten und sie mussten darüber entscheiden, ob sie der Polizei davon erzählten. Denn Lilia dachte, dass auch die nicht viel mehr mit der Information anfangen konnten. Ohne Beweise, dass Hans noch am Leben und die ermordete Lani Maleas Schwester war, würden sie dieser Spur wohl nicht weiter nachgehen können.
Lilia strich noch einmal über das Buch, stand dann auf und machte sich bettfertig. Sie war plötzlich unfassbar müde.
Hoffentlich würde sie nicht vom eben Gelesenen träumen, dass hätte einen schlimmen Albtraum zufolge.
Lilia hatte schon immer lebhafte Träume gehabt. Früher war sie dann schreiend zu ihrer Mutter gerannt, aber nun, wo sie fand, dass sie zu alt dafür war, versuchte sie allein, ihre Dämonen zu bekämpfen.
Leider kam Lilia heute nicht um einen Albtraum herum. Denn vor ihrem inneren Auge tauchte Malea auf.
Malea, Lani und Hans Verhaag ...
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