Szene ②


Jasper war wenige Minuten nachdem die Ansprache des Schulleiters beendet war, zu einem Spaziergang aufgebrochen. Die letzten Tage hatte er größtenteils drinnen verbracht und langsam fiel ihm die Decke auf den Kopf.

Er lief gerade durch Jesingens kleine Gassen und sah dabei ähnlich mies gelaunt aus wie Lilia eben. Nur die Tränen fehlten. Die hatte er in der Anwesenheit anderer Menschen noch immer nicht vergossen.

Jasper war sofort aufgebrochen, als Herr Wesp davon gesprochen hatte, die Schule wieder zu öffnen. Er musste Lilia sehen und nachgucken, ob es ihr gut ging. Die Meldung von einer Öffnung der Schule am Montag war hart gewesen und er wusste, dass nicht nur er nicht erfreut davon war. Lilia würde es ähnlich sehen, davon war er überzeugt.

„Hi Jasper." Der junge Wissenschaftler sah sich um. Wer hatte das gesagt? Jasper war ganz in seinen Gedanken versunken gewesen und hatte nicht darauf geachtet, ob jemand anderes auf der Straße war. 

Erstaunt erblickte er nun Dorothea auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Sie stand inmitten von Kisten und Möbeln und stellte gerade einen neuen Karton neben den anderen ab.
„Was tust du da?", fragte er unbeholfen.

„Maleas Sachen aussortieren", sagte Dorothea mit schuldigem Gesichtsausdruck. Bevor Jasper nachfragen konnte, versuchte sie sich auch schon zu erklären. „Vielleicht hältst du das für ein bisschen zu früh, aber ich muss versuchen, mein Leben weiterzuleben. Und das Zimmer meiner Tochter, was nun für immer leer stehen wird, hilft mir dabei nicht. Ich weiß noch nicht, was ich stattdessen mit dem Raum anfange, doch alles ist besser als das hier." Sie deutete auf die Kisten. „In den zwei Wochen ohne sie war ihr Zimmer, das sie ohnehin nie wieder betreten wird, eine große Last für mich. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, es umzugestalten."

„Schmeißt du alles weg?", fragte Jasper erstaunt. Er ging schnell näher an die Mutter seiner Freundin heran und sah in eine der Kisten. Klamotten. Er erkannte eins von Maleas liebsten Kleidern. Es hatte kleine Sonnenblumen über den gesamten, weißen Stoff verteilt. Es lag so perfekt an der Haut, dass man nur neidisch werden konnte.

„Nein, die Anziehsachen werde ich spenden. Sonst habe ich erst mal nur die Möbel aussortiert. Ihre Malsachen, der Schulkram, Erinnerungsstücke, die sind alle noch bei mir und die werde ich auch nicht wegschmeißen. Ich will meine Tochter ja nicht vergessen. Aber sie ist jetzt schon vor zwei Wochen gestorben und jedes Mal, wenn ich auch nur in die Nähe ihres Zimmers komme, zerreißt mich der Schmerz."

Jasper nickte. „Das verstehe ich, keine Sorge. Soll ich dir beim Tragen helfen?" 

Dorothea schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Ich bin für heute fertig. Aber du kannst Lilia etwas vorbeibringen." Sie ging ins Haus und kam wenige Minuten später mit einem kleinen Büchlein zurück.
„Beim Ausmisten habe ich Maleas Tagebuch gefunden. Ich war erst neugierig aber auf der ersten Seite steht, dass nur Lilia es lesen darf. Und auch wenn sie mich nicht bei Missachtung bestrafen kann, wollte ich die Privatsphäre meiner Tochter trotzdem respektieren."

„Ich werde es Lilia vorbeibringen", versprach Jasper. „Ich war sowieso auf dem Weg zu ihr." Er verabschiedete sich und ging die restlichen Meter ein klein wenig besser gelaunt.
Dass Dorothea bereits versuchte, ihr Leben in den Griff zu bekommen, war erstaunlich, aber erfreulich. Vielleicht könnte ihm diese Positivität auch helfen.

Einige Sekunden dachte Jasper darüber nach, bevor er den Kopf schüttelte. Nein. Positivität, das war nichts für ihn.

„Hallo Jasper", wurde er nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten begrüßt. Lilias Oma stand im Vorgarten des Bauernhauses und jätete Unkraut. Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. 

„Schön, dass du Lilia besuchen kommst. Ich hatte mir schon gedacht, dass bald mal jemand vorbeischauen wird. Das wird ihr gut tun." Die alte Frau ließ ihn eintreten und betonte noch ein zweites Mal, wie glücklich sie über seinen Besuch war.

Bevor Lilias Oma ihm ihr herzliches Beileid bekunden konnte, war Jasper schon die Treppe nach oben gegangen. Er tat alles dafür, nicht immer an den Tod seiner besten Freundin erinnert zu werden.

Behutsam klopfte er an Lilias Zimmertür. Seine Freundin öffnete die Tür nur leicht und steckte ihren Kopf durch den Spalt. „Ja?"

„Hallo Lilia, kann ich reinkommen?"

„Klar." Ihre Stimme war rau, als hätte sie geschrien. Oder geweint. Zweiteres war wahrscheinlicher. Immerhin hatte sie eben auch den Livestream der Schule geschaut.

Unschlüssig sah die junge Frau ihren Freund an. „Was willst du hier, Jasper? Waren wir verabredet?"

Jasper schüttelte den Kopf. Er trat durch die Tür und sah sich in Lilias Zimmer um. Alles war wie immer. Die vielen Bücher, die kuschelige Sitzecke, die Bilder an der Wand. Und trotzdem wirkte auch dieses Zimmer plötzlich trostlos.

„Ich wollte einfach mal nach dir sehen. Und außerdem ..." Er hielt Maleas Tagebuch in die Höhe. „... soll ich dir das von Dorothea geben."

Lilia betrachtete das Buch. „Was ist das?"
„Maleas Tagebuch. Und du bist die Einzige, die es lesen darf."

Lilia runzelte die Stirn. „Warum?" Sie hatte sich zurück auf das Bett gesetzt, in welchem sie den ganzen Tag verbracht hatte. Man sah es an all den Stofftieren, die darin ungeordnet herumflogen und am Kissen, welches so eingedrückt war, dass es Lilias Kopfform angenommen hatte. Lilia hätte aber auch nicht aufgeräumt, wenn sie von Jaspers Besuch gewusst hätte. Sie kannten sich zu gut, um noch Geheimnisse über ihre Kuscheltiere zu haben.

Jasper wollte nicht dumm herumstehen, deshalb setzte er sich neben sie. Außerdem legte er das Buch auf ihren Schoß.
Er lachte. „Das wüsste ich auch gerne. Wenn ich ein bisschen neugieriger wäre, hätte ich es trotz Warnung durchgelesen, aber ich respektiere Maleas Entscheidung."

„Verstehe."
Ein leichtes Lächeln trat auf Jaspers Gesicht. Er wusste nicht, ob es zu früh für einen neckenden Tonfall war, doch die Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen. „Da ich so heldenhaft dem Drang nach ihren Geheimnissen widerstanden habe, wirst du mich aber wissen lassen, was drinnen steht, oder?"

Er hatte Glück. Lilia erwiderte sein Lächeln. Es tat gut, sie lächeln zu sehen. „Mal gucken."

„Wenn es mich betrifft?", bohrte er weiter. „Och komm schon!"

Lilia war kurz davor gewesen, ihm die Zunge herauszustrecken, doch im letzten Moment widerstand sie dem Drang. Stattdessen biss sie voll drauf und unterdrückte einen Aufschrei. Jasper sah sie irritiert an.

Schnell schluckte Lilia den Schmerz herunter und lächelte unbeholfen. „Mal schauen. Vielleicht behalte ich auch alles für mich."

„Du bist anstrengend." 

„Und du bist neugierig, auch wenn du es nicht zugeben möchtest."

„Vielleicht ein klein wenig."

Lilia lächelte. Jaspers Gegenwart tat ihr jetzt schon gut. Für kurze Zeit hatte sie die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen vergessen. „Bist du auch bei Fria und Benno vorbeigegangen?", fragte Lilia. 

Jasper schüttelte den Kopf. „Ich wollte erst mal nach dir sehen. Ich habe das Video vom Schulleiter gesehen. Er will die Schule wieder öffnen." 

„Ja." Lilia nickte. „Scheiße."

„Eben. Ich habe natürlich als erstes an meine Introvert-BFF gedacht, die sich auch nicht über diese Nachrichten freut."

Wieder lachte Lilia. Dieses Mal sogar laut. „Seit wann redest du wie Fria? Diese selbstkreierten Nomina passen nicht zu dir."

„Seit du jemanden brauchst, der dich zum Lachen bringt. Und hey, es hat funktioniert." Sein Grinsen sprach Bände. Dieser Besuch tat nicht nur Lilia gut, sondern auch ihm selbst.

„Danke Jasper." 

„Wofür?"

„Dafür, dass du für mich da bist."

„Gern geschehen. Und weißt du, was noch besser ist, als Frias Weisheiten aus meinem Mund zu hören?"

Lilia schüttelte ihren Kopf. 

„Gib mir deinen Laptop und ich suche einen Film aus. Wir werden jetzt einfach für ein paar Stunden nerdig sein."

„Glaub mir, ich war in den letzten Tagen nerdig genug. Ich habe nichts gemacht, außer in Phantasiewelten zu leben."

Jasper war das egal. Er klickte auf den erstbesten Film, der ihm auf Netflix vorgeschlagen wurde und stellte den Laptop vor ihnen ab. Dann stand er auf. „Ich gehe Chips holen. Erzähl mir, was in der Zwischenzeit passiert ist."

Lilia nickte zwar, stoppte den Film jedoch. Die zwei Minuten konnte sie auf Jasper warten.

Die junge Autorin kuschelte sich in ihrem Bett ein und lächelte, als ihr bewusst wurde, was gerade passierte. Jasper war hier und kümmerte sich um sie. Seit zwei Wochen fühlte sich Lilia das erste Mal ein bisschen leichter. Als würde ihr Herz endlich wieder schlagen. Zwar war Malea nicht wieder da, doch mit der Anwesenheit eines Freundes, erwachte der Geist der Freundschaft in Lilias Herz wieder zum Leben. Neben Malea hatte noch etwas anderes die letzten Wochen gefehlt und war nun endlich wieder in Sichtweite gekommen. Der Geist der Freundschaft. Die Unbeschwertheit, die Lilia Jaspers, Frias oder Bennos Anwesenheit gab.

Es war noch lange nicht so wie früher, aber endlich auf einem guten Weg der Besserung. Und wahrscheinlich waren es wirklich die Freunde selbst, die sich nach Maleas Tod gegenseitig aus ihrem Loch helfen mussten. Denn im Gegensatz zu ihren Familien, die viele Erlebnisse der Freunde nur aus Erzählungen kannten, war der Bund zwischen Jasper, Lilia, Benno, Fria und Malea mehr als nur Freundschaft. Sie waren in den vielen, gemeinsamen Jahren zu einer Einheit geworden. Doch nun war ein Teil der Einheit zerstört wurden und es brauchte seine Zeit aus den anderen Stücken ein neues, gemeinsames Ersatzstück zu formen. 

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