Szene ①


Der Tod einer geliebten Person hinterlässt ein Loch bei den Verbliebenen. Plötzlich ist die Welt nicht mehr bunt. Man sieht schwarzweiß. Es ist nicht mehr alles möglich. Die Farben werden überdeckt von Einsamkeit und Trauer. Man weiß nicht mehr, wo man hingehört.

Jesingen trauerte noch viele Wochen um seine verstorbene Bewohnerin.

Während Lani nur eine stille Besucherin gewesen war, die sich kurz vor ihrem Ableben in einem neuen Nest einnistete, war Malea hier großgeworden. Jeder hatte sie gekannt, jeder hatte sie gemocht. Ihre Bilder waren im Gemeindezentrum und im Bürgerzentrum aufgestellt gewesen. Ihr Lächeln hatte gute Laune verbreitet. Sie hatte geholfen, wo sie nur konnte.

Doch noch schwerer als die Stadt Jesingen, traf ihre Freunde Maleas Ableben. Lilia, Benno, Fria und Jasper gingen kaum noch vor die Tür. Sie sperrten sich in ihre Zimmer ein und riefen sich an, nur um gemeinsam zu schweigen. Sie verband plötzlich etwas viel Tieferes, als bloß ihre Freundschaft. Sie teilten den gleichen Schmerz. Die gleiche, bodenlose Traurigkeit.

Lilia hörte oft, wie ihre Eltern Dorothea einluden, damit sie mit ihren Gedanken nicht allein war. Diese Frau hatte mit Malea den einzigen Menschen verloren, der ihr noch etwas bedeutet hatte. Nach dem Tod von Hans und Larissa waren sie eng zusammengewachsen. Sie waren zu mehr geworden als Mutter und Tochter. Beste Freundinnen, Seelenanker und Rettungsbojen.

Nun war Dorotheas gesamte Familie verstorben.
Das ganze Dorf versuchte, der armen Frau zu helfen. Doch Dorothea wollte vor allem Ruhe.

Lilia wusste, dass sie auch für Maleas Mutter da sein sollte. Doch sie konnte es im Augenblick nicht. Sie konnte ihr keinen Trost aussprechen, da sie selbst diesen Trost brauchte. Sie konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen, da diese Maleas so ähnlich sahen. Deshalb war sie froh, dass ihre Familie Dorothea unterstützte.

Die Schule war nun für mehrere Wochen geschlossen worden. Mit Malea war schon die zweite Jugendliche gestorben, bei dem die Polizei in kurzer Zeit von einem Mord ausgehen konnte. Sie brauchten die Zeit, um zu ermitteln. 

Doch Jasper hatte seinen Freunden bereits erzählt, dass bei den Ermittlungen nicht viel bei rumgekommen war. Es gab keine Spur, die man verfolgen konnte. Der Mörder war gesichts- und gestaltlos.

Heute fand die Trauerfeier für Malea statt, die von der Schule organisiert worden war. Malea war bereits beerdigt worden und nun wollte die Schulleitung Dorothea ihr Beileid bekunden.

Lilia hatte die Zeit, während Maleas Autopsie, nur schwer ertragen. Der Gedanke, dass ihre Freundin gerade von irgendwelchen Geräten aufgeschlitzt und von fremden Menschen beobachtet wurde, war unerträglich.

Der Tag ihrer Beerdigung war jedoch bisher am schlimmsten gewesen. Die Freunde waren gemeinsam gekommen und waren die gesamte Zeremonie lang nur damit beschäftigt gewesen, auf Fria aufzupassen, die diese sekündlich vom Stuhl gekippt war. Ihr war die Trauer wohl am meisten anzusehen. Sie aß wenig und war immer schwach auf den Beinen.

Auch wenn sie immer wieder versicherte, dass sie sich eigenständig erholen würde, bezweifelten die Freunde das. Sie machten sich große Sorgen um ihren sonst so unbeschwerten Sonnenschein.

Lilia fragte sich, wie es Jasper ging. Neben Fria zeigte auch Benno seine Trauer offen, ging damit aber besser um als die junge Filmemacherin. Er erzählte den anderen, wie er sich fühlte und versuchte, positiv in die Zukunft zu blicken. Aber Jasper sah meistens emotionslos aus. Lilia wusste, dass auch ihm das Ereignis nahe ging, doch er versuchte, das zu unterdrücken. Die Klausurenphase stand an und der ehrgeizige Wissenschaftler wollte gute Noten. Auf Dauer war es sicher nicht gesund, seine Emotionen zu unterdrücken.

Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem auch Jasper nicht mehr konnte. Lilia musste darauf warten, um dann für ihn da zu sein.

Die junge Autorin selbst wirkte auf Außenstehende wohl auch eher kalt als traurig. Doch das hing daran, dass sie in der Öffentlichkeit für Fria da sein wollte. Zuhause weinte sie, und das nicht selten.

Ihr fehlte Malea. Zu jeder Zeit.

Doch wenn sie allein in ihrem Zimmer war und ihre Gedanken Achterbahnfahrten veranstalteten, war es am schlimmsten.

Lilia ballte die Hand zu einer Faust. Sie saß eingekuschelt in einer Decke vor dem Computer und beobachtete auf dem Bildschirm, wie sich die Lehrerschaft auf dem Schulhof einfand. Die Schule hatte eine Videokonferenz einberufen, da man die Klassenräume und die Aula noch immer nicht betreten durfte.

Außerdem wollten sie so die Schaulustigen, die noch immer in Scharen in die träumenden Wälder strömten, daran erinnern, dass sie sich hier ihren Adrenalinkick aus dem Tod zweier Menschen holten. Nur, weil Millionen von Usern die Mordfälle auf TikTok mitverfolgten, machten sie das nicht zu einem lustigen Trend. Hoffentlich wurde das den über tausend Menschen, die sich gerade den Livestream ansahen, endlich klar.

Lilia war froh, dass sie nicht an noch einer Abschiedsfeier teilnehmen musste. Die Beerdigung war schlimm genug gewesen.

Statt wieder von allen Menschen bemitleidet zu werden, konnte sie in ihrem Zimmer das Ereignis aus der Ferne beobachten.

Zwischen ihr und den Trauernden auf dem Schulhof stand ihr Computerbildschirm, der Abstand brachte.

„Ich danke euch allen dafür, dass ihr heute eingeschaltet habt", begrüßte der Schulleiter sein Publikum und schenkte der Kamera ein aufrichtiges Lächeln. „Wir sind heute zusammengekommen, um uns von Malea Verhaag zu verabschieden. Die Schule hat ihr viele schöne Projekte zu verdanken und wir bedauern ihren Tod alle zutiefst." Herr Wesp ließ eine kurze Pause, die Kamera schwenkte über die Anwesenden. Die Lehrerschaft hielt bunte Luftballons in ihren Händen und auf ein Zeichen hin ließen sie sie alle los. Auf jeden der Ballons war etwas geschrieben, was die Kamera auf die Entfernung aber nicht einfangen konnte.

Zu gut konnte die Qualität des Livestreams ja nicht sein, es handelte sich eben um eine Schulproduktion.

Lilia schluchzte auf. Sie hatte unbewusst wieder zu weinen begonnen.

Die Geste war schön. Unendlich traurig, aber auch unglaublich liebevoll.

Die Lehrerschaft spielte mit ihren Ballons auf ein Projekt von Malea an, welches sie auf einem der jährlichen Sommerfeste präsentiert hatte. Dabei hatte jeder der Anwesenden einen Luftballon aufblasen und eine Sorge draufschreiben dürfen. Wie bei einer Jahrmarktsbude hatte man dann mit Dartpfeilen auf die Ballons geworfen. Malea hatte aus den bunten Fetzen eine Collage erstellt und diese am Ende des Sommerfests präsentiert. Sie hatte es mit dieser Aktion sogar ins Regionalfernsehn geschafft.

Kurze Zeit verharrte die Kamera jetzt auf den Ballons, dann schwenkte sie wieder zurück zum Schulleiter. „Wir haben eine kleine Gedenkstätte für eure Mitschülerin gebaut, die ihr am nächsten Schultag aufsuchen und dort etwas abstellen könnt. Ihr findet den Altar in der Mensa. Wir hoffen, dass wir euch damit die Trauer etwas abnehmen können." Wieder lächelte Herr Wesp. „Ich kann euch heute außerdem von der Polizei bekanntgeben, dass die Schule ab Montag wieder geöffnet wird. Wir freuen uns auf euch. Vielen Dank fürs Zuhören." Er nickte noch einmal, dann schaltete sich die Live-Übertragung aus.

Lilia saß wie ein Schluck Wasser auf ihrem Stuhl. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie wusste noch nicht, was sie von der Aktion der Lehrerschaft halten sollte.

An sich waren der Schrein und das Video eine nette Idee gewesen, doch dass die Schule wieder öffnete, gefiel Lilia gar nicht. Sie konnte noch nicht wieder unter Leute. Sie hatte noch nicht mit Maleas Tod abgeschlossen.

Sie musste eine Lösung finden, wie sie am Montag zu Hause bleiben konnte. 

Vielleicht würden ihre Eltern ihrem Wunsch nachgeben, doch Lilia kannte sie besser. Wahrscheinlich sehnten sie sich heimlich danach, dass Lilia wieder zur Schule ging, um auf andere Gedanken zu kommen.

Sie seufzte.

Na großartig. Ab Montag ging der Wahnsinn weiter und wenn sie Pech hatte, würde sich auch der Killer wieder zeigen. Lilias Möglichkeit zu trauern war offiziell vorbei. Jetzt ging die Detektivarbeit weiter. 

Dabei hatte sie gerade erst begonnen, zu verstehen, dass Malea nicht mehr da war. In ihrem Gehirn kam die Botschaft langsam an.

Manchmal dachte ihr Kopf noch immer, dass ihre Freundin morgens an ihrer Tür stehen würde und zum Frühstück vorbeikam, so wie sie es sonst auch oft getan hatte. Dass sie sich in der Pause ein Croissant teilen, oder gemeinsam auf dem Balkon des Baumhauses die Sterne beobachten konnten.

Doch Malea würde nicht vorbeikommen. Nie wieder.

Als Lilia diese Erkenntnis wie schon so oft einholte, fing sie wieder an zu schluchzen. Es würde noch lange dauern, bis sie mit ihrer Trauer abgeschlossen hatte. Und so richtig würde es wohl nie aufhören.

Ich muss einen Weg finden, am Montag noch nicht in die Schule gehen zu müssen, dachte sie angespannt. Ich kann das nicht! Die zwei Wochen hatten nicht ausgereicht, um Malea gebürtig zu verabschieden. Lilia brauchte mehr Zeit. 

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