Szene ④
Es war still und heimlich Abend geworden. Fria war so vertieft in ihre Arbeiten gewesen, dass sie gar nicht auf die Uhrzeit geachtet hatte. Doch als sie dann doch endlich mal nachgeschaut hatte, musste sie feststellen, dass sie schon viel zu spät dran war. Benno hatte ihr geschrieben, dass sie sich um sieben trafen. Nun war es kurz vor sieben und sie war noch immer nicht am Baumhaus angekommen.
Mit großen Schritten lief Fria durch den Wald. Normalerweise erfreute sie sich an der Stimmung, die kurz vor der Dämmerung in den träumenden Wäldern einkehrte. Die tagaktiven Tiere legten sich schlafen und die nachtaktiven Tiere erwachten. Während dieser Phase der Umsortierung war der Wald ungewohnt still. Durch die fehlenden Geräusche nahm man die Gerüche viel intensiver wahr. Das frische Gras, der hölzerne Geruch der Bäume und die duftenden Blumen waren hierfür nur Beispiele.
Doch Fria interessierte sich gerade weder für die Ruhe noch für die duftende Natur. Tief in ihren Gedanken versunken, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie war nicht zufrieden mit sich. Nachdem sie am Vormittag alle Schulaufgaben erledigt hatte, war sie wieder zur Arbeit an ihrem Film übergegangen. Sie hatte an verschiedenen, bereits abgedrehten Szenen herumgeschnitten und sie immer wieder anders zusammengefügt.
Benno hatte ihr gestern ein paar Aufnahmen seiner Musik geschickt. Wie immer klang alles wunderschön und einzigartig. Benno hatte es einfach drauf!
Nachdem Fria alles zusammengefügt und es sich ausgiebig angesehen hatte, war die Freude, die sie beim Anhören der Musik verspürt hatte, auch schon wieder vorbei. Das Endprodukt gefiel ihr nicht. Die Musik war klasse, aber die Filmszenen ...
Irgendwie war ihr alles zu langweilig.
Vielleicht sollte sie wirklich mal mit Lilia über gute Plottwists reden, bisher glich ihr Film eher einer Naturdokumentation.
Oh Mann, sie könnte wirklich Hilfe bei ihrem Projekt gebrauchen. Vielleicht hatte sie sich einfach zu viel vorgenommen. Die Schule, der Film, ihre Freunde und nun die Geheimnisse, das konnte nicht gesund sein. Irgendetwas musste auf der Strecke bleiben und bei ihr war es gerade der Film.
Auch heute, wo sie eigentlich die Schmetterlingszene hatte drehen wollen, war sie wieder nicht dazu gekommen. Sie hatte keine Zeit gefunden und was Jasper machte, der ihr dabei eigentlich helfen wollte, war auch unklar. Er hatte sich den ganzen Tag nicht bei ihr gemeldet.
„Hi Fria." Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen. Warum musste der Wald immer so gruselige Geräusche von sich geben? Hatte wirklich jemand ihren Namen gerufen, oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Sie drehte sich einmal im Kreis und stockte plötzlich mitten in der Bewegung. Aus einer Stelle des Dickichts flogen ihr Bienen entgegen.
Es musste fast ein ganzer Schwarm sein, so viele waren es. Mit einem lauten Summen flogen sie in ihre Richtung. Sie wich den kleinen Flügeln aus und war froh, dass sich keine der winzigen Insekten dazu entschied, sie zu stechen.
Fria wollte den Anblick genießen, denn die kleinen, hilfreichen Geschöpfe hatten etwas sehr Friedliches an sich.
Doch dann wurde Fria klar, dass die Bienen nicht ihren Namen gerufen haben konnten. Folglich musste derjenige, der die Insekten aufgeschreckt hatte, sie auch kennen.
Unschlüssig blieb sie stehen und wartete. Die Bienen verteilten sich in alle Richtungen und langsam klang das beständige Summen ab. Vielleicht hofften die Insekten nach einer kleinen Flugrunde wieder in ihr Zuhause zurückkehren zu können.
„Fria?" Erneut hörte die junge Frau die Stimme und nun merkte sie auch, dass sie ihr vertraut war. Sie kannte den dazugehörigen Menschen sogar sehr gut.
„Jasper? Was machst du hier?" Ungläubig richtete sich Frias Blick wieder in die Richtung, aus der die Bienen gekommen waren.
Und tatsächlich trat Jasper wenige Augenblicke später aus dem Unterholz.
„Ich ...", verwirrt schien ihr Freund nach einer Antwort zu suchen. „Ich war wandern."
Fria lachte. „Du würdest niemals freiwillig allein wandern gehen. Also sag mir die Wahrheit. Was hast du bei den Bienen gemacht?"
Langsam schüttelte Jasper den Kopf. „Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich habe einen Spaziergang gemacht und dabei habe ich den Bienenstock gefunden. Ich habe ihn eine Zeit lang beobachtet, dann auf die Uhr geguckt und gesehen, dass ich schon viel zu spät dran bin. Also musste ich den schnellsten Weg zum Baumhaus wählen und der war nun mal direkt am Nest vorbei. Ein paar der Biester sind mir hinterher. Sieh mal, zwei haben mich sogar gestochen." Immer noch genervt davon, dass er so eine ausführliche Erklärung abgeben musste, deutete Jasper auf die zwei Stiche in seiner linken Hand.
Fria war trotzdem noch nicht überzeugt. „Du bist Naturwissenschaftler. Du solltest wissen, dass Bienen dich attackieren, wenn du ihnen zu nahekommst."
Jasper seufzte. „Natürlich weiß ich das Fria, aber ich hatte mich für den schnellsten Weg entschieden, weil ich meine Freunde nicht warten lassen wollte. Und dafür habe ich die Attacke in Kauf genommen."
„Verstehe", antwortete Fria. Doch das tat sie nicht. Jaspers Geschichte war ihr nicht schlüssig. Sie klang so gar nicht nach ihm.
„Wollen wir gehen?" Er war bereits an Fria vorbeigegangen und wartete nun darauf, dass sie ihm folgte. Die junge Filmemacherin zuckte unmerklich mit den Achseln und ging ihrem Freund hinterher. Sie hatten ja das gleiche Ziel, dann konnten sie auch zusammen gehen.
Und obwohl sich Jasper komisch benahm, war die Chance, dass irgendein fremdes Wesen seinen Körper kontrollierte, was ihn komische Dinge tun ließ, doch eher gering.
„Weißt du, von was für einer Telefonnummer Benno uns vorhin geschrieben hat? Ich hatte keine Ahnung." Schon wieder mehr er selbst, rieb Jasper an den Bienenstichen herum und musterte Fria unterdessen aus schlauen, blauen Augen.
„Ich auch nicht. Hat wohl mit Lani zu tun."
Jasper holte tief Luft. „Alles hat mit Lani zu tun. Sogar die Schule wurde heute wegen ihr dicht gemacht."
„Ist vielleicht besser so", antwortete Fria. „Wenn die Polizei eine anonyme E-Mail mit einer Bitte bekommt, die Schule zu durchsuchen, dann ist die Sache ernst."
„Stimmt wohl." Jasper überlegte, ob er dem noch etwas hinzufügen sollte, doch da waren sie schon vor dem Baumhaus angekommen.
„Scheint so, als seien Benno und Lilia schon da", stellte Fria fest.
„Aber das war zu erwarten, wir sind ja auch ..." Sie sah auf die Uhr.
„Zehn Minuten zu spät."
„Ich habe meine Bienenstiche zu Verteidigung vorzuweisen", rief Jasper, hielt seine Arme in die Höhe und stürmte auf die Leiter zu. Es war süß, wenn seine kindliche Seite zum Vorschein kam. Viel zu oft nahm er alles zu ernst und wenn er es mal nicht tat, genossen die Freunde es sehr.
Fria seufzte.
Na großartig, sie hatte keine Ausrede für das Zuspätkommen, dafür aber einen schlechten Film produziert und eine ganz miese Laune. Konnte der Tag noch schlechter werden?
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