Felsgestein - Kapitel 1

Das Skalpell steckte Zentimetertief in seiner Brust, ohne dass er irgendeine Art von Schmerz spürte. Blut, was aus der Wunde gelaufen war, hatte sich in den Stoff seines Krankenhausnachthemdes gesogen und war dort geronnen.

Da David gerade erst aufgewacht war brauchte er einige Sekunden, um das zu verarbeiten, was er sah, was er fühlte und, was er hörte.

Der junge Mann sah ein weißes Krankenhausnachthemd, seine nackten Füße und das Skalpell, das in seiner Brust steckte. 

Schließlich packte er es mit einer zitternden Hand, zog es aus seiner Brust und ließ es augenblicklich fallen, als hätte er nicht länger die Kraft es zu halten.

Reflexartig wanderte eine seiner Hände zu der entstandenen Wunde, oder vielmehr dorthin, wo sich eine Wunde befinden sollte. 

In dem weißen Stoff war ein Riss, doch auf seiner Brust fand er nicht einmal eine Narbe. 

Panisch tastete er seinen ganzen Oberkörper ab, suchte nach Blut, suchte nach Schmerz, doch da war nichts. 

Absolut Nichts.

Wie ein gehetztes Tier sah er sich um, suchte nach jemandem, der ihm helfen, der ihm erklären konnte, doch sah nur einen leeren, verfallenen Raum.

Keine Menschenseele, außer ihm.

Sein Kopf fiel erschöpft auf die harte Unterlage zurück, auf der er lag. Er starrte an eine von Ruß und Staub verdreckte Decke, durch die sich zentimetertiefe Risse zogen, aus denen spröde Kabel oder gesprungene Rohre herauslugten. 

Die Leuchtstoffröhre, die direkt über ihm hing war gedämpft von all dem Schmutz auf dem Glas und flackerte bereits altersschwach. 

Er wusste nicht, wo er sich befand. 

Verwirrt setzte er sich langsam auf und sah sich in dem Raum um.

Wände waren teilweise eingerissen, Putz bröckelte ab und hinterließ nichts als verdreckten, nackten Beton, auf den Wänden, die wohl einmal weiß und steril erschienen waren.

Staub und Ruß bedeckte in einer dicken Schicht den Boden, darunter konnte man vage verstreutes Papier erkennen. 

Wo war er?

Der Untergrund, auf dem er sich befand, war kalt und glatt und sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Dennoch stand David auf, seine nackten Füße berührten den Boden, doch als er Gewicht auf sie verlagerte musste er sich an der Kante der Liege festkrallen, um nicht sofort wieder auf die Knie zu fallen, so schwach war er. Alles um ihn herum drehte sich, der Schmerz in seinem Hinterkopf wurde für kurze Zeit unerträglich.

Als er endlich stand und die Augen wieder öffnete konnte er endlich erkennen worauf er gelegen hatte. 

Es war ein Op-Tisch aus poliertem Metall. 

David stolperte auf die einzige Tür zu, die aus diesem Raum hinausführte, fiel auf den verdreckten Boden und landete in einem Meer aus winzigen Glasscherben. 

Der scharfe Schmerz raste durch seine Handflächen, Schienbeine und David spürte warmes Blut auf seiner Haut. Beinahe war er erleichtert. 

Blut und Schmerz, solch vertraute Dinge, doch dann rappelte er sich auf und betrachtete seine Hände. Die Schnitte schlossen sich, so schnell wie es von der Natur nicht geplant war. Kleine Glassplitter, die eben noch tief in seinem Fleisch gesteckt hatten fielen im nächsten Moment mit einem hellen Geräusch auf den Boden.

David keuchte, konnte bewusst keinen Gedanken fassen und dennoch rasten sie durch seinen Kopf und flüsterten ihm Dinge ein, die zum einen Teil schrecklich grausam waren und die er zum anderen Teil nicht verstand.

Noch bevor er weiter nachdenken konnte, noch schlimmere, unnatürlichere Dinge sah, begann er zu rennen und flüchtete, beachtete dabei gar nicht, dass die offenstehende Tür aus 10 Zentimeter dickem Stahl bestand und nicht von innen geöffnet werden konnte.

So hastete David durch die Gänge, in der Hoffnung irgendwann etwas zu sehen, was ihm vertraut war, doch vergeblich.

Immer wieder zersprungener Beton, abgebröckelter Putz, umgestoßene Möbel und all das von Asche und Staub bedeckt. Er wollte hier raus, wollte unter Menschen, wollte wissen was hier vor sich ging, doch all seine Mühe war vergeben. 

Erst das rote Licht der aufgehenden Sonne ließ den jungen Mann seinen beinahe hysterischen Spießrutenlauf bremsen und schließlich trat er, noch immer unruhig, durch den Türrahmen des leeren Raumes.

Seine nackten Füße hinterließen Spuren in der dichten Ascheschicht, als der junge Mann auf das zerbrochene Fenster zu schlich, eine Sekunde hinaussah und dann auf die Knie sank. Auch, wenn das zerbrochene Glas über den ganzen Boden verteilt lag und sich zum zweiten Mal in sein Fleisch grub, so kümmerte David sich nicht darum, zu sehr brannte sich der Anblick, der sich ihm bot in seine Netzhaut ein.

Draußen, unter dem gleißenden Licht der roten Sonne, lag ihm eine Stadt zu Füßen. Eine Stadt aus Ruinen.

Was war nur geschehen?

In diesem Moment fegte ein Windstoß durch die zerbrochene Scheibe. Zu Davids Füßen wurde eine kleine Wolke Asche und einige Blätter Papier aufgewirbelt.  Eines davon, ein vielfach zerknittertes, eingerissenes und fleckigen Exemplar, wurde von dieser Böe so aufdringlich an seien Brust gedrückt, als würde es ihn geradezu anflehen es an sich zu nehmen.

Ehemals schien es vollkommen beschrieben worden zu sein, doch David konnte vor lauter Flecken und Knicken kein Wort mehr entziffern, außer dem Datum. 

20.3.2023

Aber... Davids Kopf schmerzte schrecklich bei dem Versuch sich zu erinnern, doch schließlich erschien da ein Jahr in seinem Kopf. Das letzte Jahr, an das er sich erinnerte war 2019...

Langsam sah er von diesem Papier wieder auf, hinaus auf die zerstörte Stadt unter sich, hinter deren Umrissen sich die blutende Sonne langsam empor schälte

Es dauerte seine Zeit, bis David sich seinen Weg aus der Ruine hinaus auf die Straße gesucht hatte. Trotz der Tatsache, dass die Sonne eben erst aufgegangen war breitete sich eine brennende, trockene Hitze erstaunlich schnell auf dem eben noch kalt gewesenen Asphalt aus. Sein Kopf legte sich in rasender Geschwindigkeit tausende für ihn rationale Erklärungen für die schon beinahe absurde Situation zurecht, als er durch verfallene Gassen und zerbrochene Straßen irrte. 

Es war doch möglich, dass er auf der Fahrt zur Arbeit einen Unfall gehabt hatte und jetzt lag er in einem Koma, das sich mit einem bizarren Traum bei ihm meldete. Oder... oder er war tot und das hier war die Hölle. Sein eigenes, einsames Fegefeuer. Der Gedanke ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken und er schob ihn so schnell beiseite, wie sein Verstand ihn ins Leben gerufen hatte, obwohl es ihm nicht ganz gelang.

Die Sonne, welche sich langsam immer weiter in die oberen Breiten des Himmels schob hatte beinahe aufgehört zu bluten und verbreitete jetzt ein stechendes, gelbes, beinahe weißes, Licht. Als er das bemerkte erschuf sein Verstand eine weitere Erklärung, die leise an die Hintertür seines Kopfes klopfte und David ließ sie mit Freuden ein. 

 Vielleicht war er auf Droge? Einfach nur ein mieser Trip verursacht durch irgendeinen Rausch. Ja, auch wenn er den leisen Einwand ignorierte, dass allein die Vorstellung Drogen zu nehmen ihn anwiderte, dann klang diese Erklärung einfach zu verlockend. Sie schmeckte viel zu süß nach vertrauter Realität. Mit diesem Gedanken setzte er seinen Weg fort. Auch hier in den Straßen lag eine beinahe zentimeterdicke Ascheschicht, die seine Fußsohlen schwarz färbte. 

So spähte der junge Mann in jegliche Ruine, die er finden konnte, jedes eingefallene und zerstörte Fenster, doch überall sah es gleich aus. 

Zerstört.

Verlassen. 

Verdreckt. 

Unwillkürlich, ohne wirklich zu wissen, was er tat suchte er den ganzen Vormittag nach anderen Menschen, die ihm erklären konnten, was hier vorging, nur für den verschwinden geringen Fall, dass er doch nicht auf Droge war.

So wurden Davids Schritte immer schneller, seine Kopfbewegungen hektischer. Selbst wenn er diese wunderbare Erklärung in seinem Hinterkopf hatte, die ihn für diesen Moment davon abhielt den Verstand zu verlieren... Er wusste nicht, was hier vor sich ging! Alles war so fremd und unvertraut und es gab niemand, der an seiner Seite war! Diese Unsicherheit, die Unsicherheit des Alleinseins hatte erst ganz leise in seinem Magen begonnen, doch jetzt, nach einigen Stunden voller flüsternder Zweifel, begann sie sich durch seine Eingeweide zu fressen. Das Gefühl wühlte sich durch seinen Körper, verdrehte alles in ihm, bis sie schließlich in seinem Kopf angelangt war und ab diesem Moment hatte er sich der Panik übergeben. 

 Nur einige Minuten, bevor die Sonne in ihrem Zenit stehen würde, war David verschwitzt von einer Hetzjagd durch die Ruinen, sein Atem ging rasseln und jeder einzelne seiner Muskeln zitterte vor Erschöpfung. Jetzt wäre er auch nur mit einem Pudel zufrieden gewesen, mit irgendetwas, was atmete und wenigstens lebte.Dann brach der Mittag herein und der Mann blieb stehen. Schon zuvor war die Temperatur kontinuierlich angestiegen, bis die Hitze beinahe unerträglich wurde. David aber war solche Temperaturen gewöhnt, oder zumindest schon immer gut mit ihnen zurechtgekommen und nahm so nichteimal Notiz davon, wie die Grade mit beängstigender Geschwindigkeit in die Höhe schossen. Nur den mittelschweren Sonnenbrand, den er davontrug registrierte er irgendwo in seiner Panik, weil er leicht brannte. 

 Auch der Mittag begann mit einem Brennen. Zuerst dachte David, dass das nur die starke Sonne auf seinem Sonnenbrand wäre, mehr nicht. Jetzt wo er es bewusst spürte bemerkte er, dass er an erstaunlich vielen Stellen verbrannt war. Eigentlich kein Wunder, bei seiner spärlichen Kleidung, doch er registrierte mit jeder Sekunde einen neuen Teil seines Körpers, der schmerzte und brannte. Zuerst sein Nacken, natürlich, denn dort war es am Schlimmsten. Es folgten seine Schultern, dann sein Rücken, seine kompletten Arme, seine Beine...Das brennen, was erst leicht angefangen hatte, wurde langsam immer stärker. Der Schmerz bäumte sich in Davids innerem auf, bis er ihn, wie unter einem Peitschenhieb, zusammenfahren ließ. Ein einfacher Sonnenbrand konnte solche Schmerzen nicht verursachen, dessen war er sich sicher. Selbst jetzt nahm der Schmerz immer weiter zu, kletterte leise auf die Grenze zu, welche für ihn als ‚unerträglich' markiert war, aber David war zu erschüttert, um zu reagieren. 

Auch das hier, dieser Schmerz war für ihn so fremd, wie seine neue Umgebung. Es war neu und zwar mit solch einer Kraft neu, dass sie David drohte von den Füßen zu schleudern und in eine tiefe Ohnmacht zu drücken. Noch immer stand er wie angewurzelt da, obwohl, oder vielleicht gerade, weil der Schmerz, von dem er nicht wusste warum er ihn plötzlich empfand, immer stärker wurde und dann kam er schließlich. 

Der Moment, in dem das Brennen seinen kompletten Körper, seinen kompletten Geist ausfüllte und ihn zu zerbrechen drohte. David krümmte sich unter der gleißenden Sonne und sein Schrei hallte noch weit durch die kahlen Ruinen. Noch immer wurde der Schmerz stärker, doch jetzt zwang er sich mit all der Kraft, die er aufbringen konnte, seine Augen zu öffnen und auf sich hinab zu blicken. 

Davids komplette, blasse Haut war aufgebrochen, als wäre sie nichts weiter, als trockene Erde und gab damit sein bloßes Fleisch frei. Blut quoll aus den Hautkluften hervor und zwar an seinem ganzen Körper. Es lief in seine Augen, nahm ihm beinahe die Sicht und schon längst schmeckte er in seinem Mund etwas widerlich Metallisches. 

David wurde klar, dass er hier weg musste und instinktiv hetzte sein Blick nach einem Schatten, der groß genug war seinen Körper zu beherbergen. Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, genau über seinem Kopf. Keine einzige der unzähligen Ruinen warf auch nur einen Schatten auf die Straße, bei den Meisten waren die Dächer eingestürzt. So überzog das unerbittliche Brennen der lichtspendenden Sonne Davids komplette Umgebung, ohne auch nur einen Quadratzentimeter Schatten für ihn zu schaffen. 

Sein Schrei war schon längst verklungen, die sonnendurchflutete Ebene kam ihm plötzlich toter, ausgestorbener vor, als die dunkelste Nacht. Der Schmerz war mittlerweile überwältigend, das Licht so hell, dass er es kaum wagte die Augen offen zu halten, denn irgendwo, tief vergraben in seinen Instinkten sagte eine kleine Stimme ihm, dass er sein Augenlicht vielleicht auf immer verlieren könnte, wenn er es tat. Die Regung jedes Muskels bereitete Schmerzen, das Blut entfloh seinem Fleisch, trocknete an der Oberfläche seiner rissigen Haut, doch der Schorf wurde ihm nächsten Augenblick auch schon von dem Druck des unter ihm verlaufenden Blutes hinweg gespült.Es könnten drei Sekunden, aber auch drei Stunden vergangen sein, in denen David einen Fuß vor den anderen setzte, bis er schließlich eine etwas höhere Ruine erkennen konnte. 

Außer durch ihre zerstörten, hohen Wänden war zu den anderen eigentlich kein Unterschied zu erkennen und diese waren es auch zunächst, welche den Blick des Mannes zu sich zogen, bevor er die Absenkung des Erdgeschosses erkannte und auch den Hohlraum darunter. 

Ein Keller. 

Seine Rettung.

 Er schleppte sich darauf zu, der Schmerz hatte ihm schon längst Tränen in die Augen getrieben, doch er bemerkte das schmerzende Salz in den Wunden seines Gesichtes nicht einmal, so sehr brannte ihm die Sonne auf der Haut. Von den unterdrückten Schreien hatte David sich die staubtrockene Zunge blutig gebissen, doch nicht einmal das, was aus den Wunden in seinem Mund herausströmte mochte ihm etwas Feuchtigkeit schenken. Meter um Meter schleppte der Mann sich voran, erreicht nach endloser Zeit schließlich die Kluft in dem gesplitterten Fußboden, welche ihn in den rettenden Keller führen sollte.

 David hatte nicht genug Kraft mehr um die drei Meter bis zu dem steinernen Boden hinunterzuklettern, also ließ er sich einfach fallen, schlug hart auf dem heißen Gestein auf, welches noch von der Sonne beleuchtet war. 

Irgendetwas knackte. 

Keuchend sah David sich um und erkannte den Knochen seines Schienbeines, wie er aus seiner trockenen Haut hervorragte, gnadenlos in zwei Hälften gesplittert. Jetzt, unfähig sich aufzurichten, auf allen vieren weiterkriechend, rettete er sich in den Schatten, der vor ihm aufragte, wie die tröstenden Arme einer schönen Frau.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Davids Augen sich an das Dämmerlicht des Kellers gewöhnt hatten. Auch der Schmerz, das Brennen auf seiner Haut und sein gebrochenes Bein ließen nur langsam nach und zunächst wagte der Mann gar nicht den Blick auf seinen eigenen Körper herabzusenken, tat es schließlich doch. 

Mit einem unnatürlich schmatzenden Geräusch senkte sich der gebrochene Knochen seines Schienbeines wieder in sein Fleisch hinein, fügte sich wieder mit seinem anderen Teil zusammen, sodass sich die Muskeln und die Haut wieder nahtlos darüber schließen konnten. 

Auch jegliche Blessur auf seinem geschundenen und halb verbrannten Körper schloss sich mit solch einer Geschwindigkeit, dass David vom Hinsehen schlecht wurde. Dann war es vorbei, der Schmerz war weg und beinahe hätte er sich einreden können es wäre nie etwas geschehen, wenn sein eigenes Blut nicht noch immer auf seiner frisch zusammengefügten Haut kleben würde. 

Zitternd, obwohl selbst in dem Keller mit den Steinwänden Temperaturen von knappen 40 Grad herrschen mussten, kroch David so weit von der Lichtfläche, die durch den eingebrochenen Boden über ihm auf den Stein fiel, zurück, bis sein Rücken gegen etwas stieß. Mit einer Geschwindigkeit, welche nur die Panik einem Menschen einflößen konnte, fuhr er herum und blickte in einen ascheverschmieren, riesigen Spiegel. 

Ihm war selbst nicht klar, warum er tat, was er tat. Einer inneren Intuition folgend wischte er mit seinem Handrücken ein kleines Sichtfenster frei, sodass er sein eigenes Gesicht betrachten konnte. Zwar war das Silberglas noch immer mit einer nun verschmierten Schicht Asche bedeckt, aber es war genug frei, damit David in seine eigenen blassgrünen Augen blicken konnte, die ihm so vertraut waren.

Mehr Vertrautheit vermochte er in diesem Anblick aber nicht zu erhaschen. 

Seine braunen Haare waren so kurz, dass man seine blasse Kopfhaut darunter schimmern sehen konnte. Sein Gesicht war scharfkantig. Seine Wangenknochen stachen hervor, die Augen lagen tief in den Höhlen. Auch seine Lippen waren schmal, kaum mehr als zwei Striche in seinem Gesicht.

Hätte David die Kraft gehabt, um ein weiteres Mal zurückzuschrecken, er hätte es getan. So aber zitterte er einfach noch heftiger und kroch in die hinterste Ecke des Kellers, kauerte sich zusammen und versuchte seine Gedanken zu ordnen, wenn das überhaupt möglich war. 

Er war alleine, verwirrt, hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging... und er hatte Angst. Schreckliche Angst, wobei ihm nicht einmal klar war wovor er sich fürchtete. Dennoch war sie da, dieses schreckliche, starke Gefühl, fesselte ihn an die düstere Ecke, wo er wartete, bis die Sonne ihren Weg zum Horizont zurück vollenden würde. 

Erst als auch das Letzte Licht des Tages verglommen war fasste David sich ein Herz und begann aus dem Loch zu klettern, das ihm vor wenigen gerettet hatte. Der Asphalt, auf den er seine nackten Sohlen setzte war noch immer warm, doch die Ruinen um ihn herum waren in Schwärze getaucht. Manche Stellen zwischen den zerbröckelten Mauerresten und entzweigerissenen Stahlträgern waren noch dunkler, als andere. 

Es schien beinahe, dass das Dunkelste, der ganze Stolz der Nacht, sich dort verstecken würde, wie ein gefährliches Tier, und auf seinen großen Auftritt wartete. 

Jetzt wagte David es nicht mehr in die Überbleibsel von verlassenen Wohnungen zu spähen. 

Alles, was nun nicht mehr unter freiem Himmel lag wirkte bedrohlich und jedes Mal, wenn der Mann seine blassgrünen Augen in solch eine Dunkelheit wandte stellten sich ihm, aus irgendeinem Grund, die Härchen am ganzen Körper auf. 

Ziellos irrte David so umher, hielt sich, aus mangeln eines besseren Planes, immer auf der größten Straße, die er finden konnte. Als es schließlich so weit war, dass der aufgesprungene Asphalt unter seinen Füßen kalt wurde, erreichte er das Ende der Stadt. Die Straße, welche ihm in irgendeiner Weise Trost gespendet hatte, weil sie ihm eine halbwegs sichere Richtung gab, wurde von einem Meer aus weißem Sand verschluckt. 

Vor ihm erstreckte sich eine Wüste, die größer war, als Davids Vorstellungsvermögen es sich jemals hätte ausmalen können und die nächtliche Kälte schlug ihm daraus schon längst entgegen, sodass er die Arme um seinen Oberkörper schlang und leicht fröstelte. Das, was er vor sich liegen sah machte ihm beinahe genauso viel Angst, wie die brennende Sonne am Mittag. Dieses Feld aus weißem Sand, der in der Dunkelheit das Licht des schmalen Mondsichel reflektierte und dadurch zu leuchten schien, schien so endlos, so uferlos, dass David sich noch einsamer, noch verlorener vorkam, als zuvor. 

Er fühlte sich wie ein kleines Kind, dass seine Eltern verloren hatte und nun mit tränennassem Gesicht herumirrte. 

„Lauf nach Süden, David. Komm doch zu mir, mein Kind. Komm zu mir, hier wirst du sicher sein."

Mit zugeschnürter Kehle machte er einen Schritt weg von der ersten Schicht Sand, die seine Straße bedeckte.

Noch immer machte der Anblick der Wüste ihm Angst und alles in ihm sträubte sich dagegen die Sandlandschaft zu betreten, doch er wollte weg von dieser verlassenen Stadt, von der ständigen Erinnerung daran, dass etwas ganz und gar nicht richtig war. 

So sah er also zu wie seine Füße einen Schritt machten, noch einen und schließlich den Sand berührten. Er spürte ihn unter seinen Sohlen, zwischen seine Zehen, während David immer weiter hinauslief, in eine unbekannte Dunkelheit. David musste einen Brechreiz unterdrücken, er fühlte sich übermannt von etwas ihm komplett fremden, bösartigen, doch möglicherweise bildete er es sich auch nur ein, während er immer weiter in die Wüste hinein torkelte. 

„Vielleicht werde ich auch wahnsinnig..." murmelte der Mann laut zu sich selbst, seine Stimme hörte sich heiser und kratzig an, als hätte er sie zu lange nicht mehr gebrauchsmäßig verwendet.

 Die Bewegung seiner Beine wurde mit jedem Moment, der verging immer routinierter, bis es irgendwann so weit war, dass der junge Mann vorwärts ging, ohne auch nur zu registrieren was er tat. Diese winzige Routine tröstete ihn auf eine merkwürdige Art und Weise, bis sein Verstand sich schließlich komplett ergab und den Körper tun ließ, was auch immer er gerade tat. 

So wusste David nicht wie lange er gelaufen war, als er wieder zu Bewusstsein kam. Verwirrt sah er sich um, natürlich befand er sich noch immer in der Wüste, konnte um sich herum nichts erkennen, als im Mondlicht schimmernden Sand, und fragte sich warum er nicht mehr in Bewegung war, warum er auf dem Bauch in kühlem, feinen Wüstensand lag. Langsam, als müsste sein Kopf erst noch aus einer Starre erwachen wollte er sich aufrappeln, oder zumindest aufsetzen, aber seine Muskeln versagten ihm vehement den Dienst und schon nach diesem lächerlichen Versuch keuchte er, als hätte er einen Marathon hinter sich. 

Nur indem er seine letzten Kraftreserven mobilisierte schaffte David es sich auf den Rücken zu drehen und in den Himmel zu starren. 

Was sich über ihm erstreckte verschlug ihm ebenso den Atem wie die vermutlich stundenlange Wanderung zuvor. Es hätten schimmernde Diamanten sein können, die jemand in die schwarze Luft gehängt hatte, so nahe vor seinen Augen, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um danach greifen zu können, aber als er es versuchen wollte verweigerte sein Arm ihm den Dienst, was ihm im nächsten Moment Erleichterung einbrachte. Diamanten, die so funkelten mussten schrecklich scharfe Kanten haben. 

Sicher hätte der Versuch nach ihnen zu greifen ihn einen oder zwei Finger gekostet...In solche merkwürdigen Wahnvorstellungen driftet er ab, während sein Körper sich mit Gewalt die Ruhe holte, die er so dringend brauchte, sein Kopf aber wacher war denn je. So mischten sich ernste Gedanken mit dem Wahnsinn des Tages, den er soeben erlebt hatte und starrte an den kalten Nachthimmel. 

Die Diamanten starrten zurück. Sie standen so eng aneinander, dass sie sicher extra zusammengerückt waren, um dort über ihn zu tuscheln, den halb nackten, geschundenen, verlorenen Mann dort unten in dieser merkwürdigen Wüste.

Es musste die Hölle sein, dachte David kurz bevor er in die gnädige Welt des Schlafes abdriftete, aber wenn es wirklich die Hölle wäre, dann war die Hölle auf eine unbarmherzige Weise, zumindest ihrem Erscheinungsbild nach, unbeschreiblich schön.

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