Wut
„VERDAMMTE SCHEISSE!"
Ein Buch nach dem anderen warf ich nach kurzem Blick hinein gegen die Wand. In keinem von ihnen fand ich eine Antwort auf mein Problem. Keins zeigte mir den Weg zurück in meine Welt, einen Ausweg aus diesem schrecklichen Universum.
Ich war froh, dass Hohenheim nicht Zuhause war. Sicherlich wäre er sauer geworden, wie ich mit seinen Büchern umging, die er so mühsam zusammengesammelt hatte. Doch als ob mich seine kleine Privatbibliothek hier in München interessierte!
Gerade so konnte ich mir einen weiteren Schrei der Wut verkneifen und trat stattdessen den Kreidekasten vor mir über den Boden.
Nirgendwo war eine Antwort, nirgendwo war eine Lösung. Meine Frage, diese scheinbar unüberwindliche Aufgabe, stand groß und bedrohlich vor mir. Ohne Waffe in den Händen, ohne Anleitung, stand ich ihr schutzlos und schwach gegenüber, wurde von ihrer Endgültigkeit erschlagen und zu Boden geworfen.
„Verdammte Scheiße...!", wiederholte ich leiser, meine Stimme kaum mehr als ein leises Hauchen, als würde mich meine mir selbst auferlegte Aufgabe, einen Weg zurück nach Amestris zu finden, erwürgen. Ich stolperte vom halbleeren Bücherregal zurück, ehe ich mich umdrehte und aus dem Büro meines Vaters eilte.
„Es ist alles seine Schuld...! Hätte er doch nie etwas mit dieser Dante angefangen! Seine Schuld, seine Schuld! Was musste er sich auch von ihr fangen und hierherschicken lassen?! Warum hat er das Tor zu dieser Welt geöffnet?! Alles seine Schuld!"
Zornig sah ich mich in der Wohnung um, schnappte mir eins der wenigen gerahmten Bilder und schmiss es auf den Boden, mich direkt hinterher. Auf allen vieren schlug ich auf das Bild ein, ohne mich um die Glasscherben zu kümmern, die meine Haut und Stoffbeschichtung beschädigten und den Parkettboden mit Blut befleckten. Ich schlug und schlug und schlug, immer wieder Flüche ausstoßend, auf das unschuldige Bild ein.
Es war ein altes Bild, zumindest älter, als ich in dieser beschissenen Welt war. Darauf abgebildet waren in schwarz-weiß Hohenheim, welcher sich scheinbar unwohlfühlend hinter einem jungen Mann befand und diesem eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Der besagte junge Mann strahlte in die Kamera, ein breites Grinsen im Gesicht, während er stolz eine Urkunde hochhielt. Was darauf stand konnte ich nicht lesen, ich verstand die Sprache nicht, doch ich wusste, dass es eine Urkunde einer englischen Universität war, aus dem Land, in welchem der Junge gelebt hatte und gestorben war.
„Scheiße..." Erst als Tränen sich zu den Blutstropfen gesellten stoppte ich in meinem Tun und starrte auf das Chaos am Boden herunter. Das zerbrochene Geschirr vom Vortag hatte Hohenheim weggeräumt, als er in der Nacht nach Hause gekommen war. Diese Scherben würde er auch wieder wegräumen müssen. Mir tat er dafür nicht leid.
Ich stand schwankend auf, meine Beine zitterten und ich hatte das Gefühl, als wäre mein Automail-Bein zu schwer für meinen Körper. Ich musste aus dieser Wohnung raus, musste weg aus dieser Welt.
Von diesem Gedanken getrieben stolperte ich nach draußen. Zu meinem Überraschen regnete es heute nicht. Mein Blick wanderte prüfend über den Himmel, der zwar vom üblichen Grau geschmückt wurde, aber keine nassen Tränen vergoss.
Fast fing ich an den Regen zu vermissen, als der altbekannte Wind mich begrüßte. Es roch nach Winter, kalt und unfreundlich, mit einer so schneidenden Frische, dass man sich am liebsten wieder nach drinnen flüchten wollte.
Ich jedoch tat das Gegenteil und ging hinaus. Diesmal war mein Ziel nicht der Friedhof. Um ehrlich zu sein wusste ich gar nicht so genau, wohin ich ging. Ich wusste nur, dass ich wegmusste.
Der Markt war mir zu voll, also ging ich durch kleinere Seitenstraßen, die kaum von den zum Abend leuchtenden Laternen beleuchtet wurden. Das Grau wurde immer mehr zu Schwarz, doch ich heftete meine Augen auf den Boden, da ich fühlte, dass der Himmel mich erdrücken würde, wie es die Bücher zuvortaten.
Ich hätte wohl mehr auf meine Umgebung achten sollen, denn unvermittelt endete mein Weg, als ich gegen jemanden stieß. Von der Begegnung überrascht stolperte ich durch die Wucht zurück und fiel sogar auf den Po.
„Pass doch auf!", schrie man mir entgegen, doch ich schenkte dem kaum Beachtung. Zu sehr war ich verblüfft, dass jemand so plötzlich mein Schicksal hatte beeinflussen können.
So wie auch die Homunculi und Dante urplötzlich in mein Leben getreten waren, mich zurückgestoßen und mir meinen Platz als Mensch, als Alchemist gezeigt hatten. So überraschend wie Mutter gestorben war, wie der Rückstoß die Transmutation vereitelte. So wie Mustang in mein Leben getreten war, als er in die Werkstatt kam und mich am Oberteil packte, um mir wenige Minuten danach fast schon sanft neue Hoffnung zu spenden.
„Hey, ich rede mit dir!" Die Stimme vor mir erklang erneut, ehe ich, fast als wären meine Gedanken gehört worden, vorne an meinem Hemd gepackt und auf die Füße gezerrt wurde, höher noch, sodass ich den Boden kaum mehr berühren konnte.
Meine großen goldenen Augen richteten sich auf den Menschen vor mir. Es war als wollen meine Erinnerungen mir einen Streich spielen und Mustang zeigen, doch nach wenigen Sekunden des Schrecks erkannte ich die Lüge, erkannte die Maske. Es war nicht Mustang, der mich hochgerissen hatte.
Der Mann sah Mustang bei genauerem Hinsehen immer weniger ähnlich und ich ärgerte mich, dass ich ihn auch nur kurz für ihn hatte halten können.
Doch weil noch immer kein Wort meine Lippen verlassen hatte, wurde der Mann nicht netter, sondern machte seiner Wut mit einer Ohrfeige los.
Ich spürte, wie mein Kopf durch die Wucht zur Seite gerissen wurde und keuchte erschrocken auf, meine Wange feuerrot und pochend. Fast wie Mustangs Feuer, wenn wir uns beinahe spielerisch in seinem Büro geärgert hatten und er meine Antenne verbrannt oder gegen meine Wange geschnipst hatte, nur um von mir seine Papiere ins Gesicht geworfen zu bekommen.
„Haha..." Ich schloss die Augen halb. „Du bist nicht Mustang... Nun hör schon auf, so wie er zu tun..."
„Was redest du da? Sag das nochmal lauter, du Missgeburt!" Der Mann zog mich näher zu sich und ich konnte seinen stinkenden Atem riechen, der mich die Nase rümpfen ließ. Im Gegensatz zu Mustangs angenehmen Parfüm konnte man den Geruch dieses Mannes nur als Gestank beschreiben. Stechend scharf und faulig, so wie der Tod riechen würde, plus eine nicht unerhebliche Menge Alkohol.
Zorn blitzte in meinen Augen auf, ehe ich dem Mann aus nächster Nähe meine Metallfaust ins Gesicht schlug. Durch die Aktion erschrocken wurde ich losgelassen und landete wieder auf den Füßen. Nach kurzem Schwanken fand ich mein Gleichgewicht wieder und sah zu dem Mann hoch.
Diesem schien die Gegenwehr meinerseits noch weniger zu gefallen, sodass es nicht lange dauerte, ehe er mit seiner Hand wieder nach mir ausholte. Ich regierte wie mechanisch, die Bewegungen von unzähligen Kämpfen vertraut. Es tat gut zu kämpfen, es tat gut etwas zu tun, was ich noch konnte. Das Lächeln schlich sich wie von selbst auf meine Lippen, als ich mich unter einem Schlag wegduckte, nur um kurz darauf nach meinem Gegner zu treten. Kämpfen, eine Fähigkeit, die man in dieser Welt kaum brauchte im Vergleich zu meiner, in der ich so oft gegen andere die Waffen erheben musste. Doch mein Gegner war kein Monster, war kein künstlich geschaffener Mensch, kein korrupter Militär, keine verrückte Frau, die nach Unsterblichkeit gierte mit der Ausrede, die Menschen vor schlimmerem zu beschützen. Nein, mein Gegner war ein einfacher Mensch, ein Mensch so wie ich, ohne Alchemie, ohne Waffe, nur ein Mensch!
Meine Gedanken hatten sich überschlagen, waren zu wild geworden, um in dem reißerischen Fluss die Oberhand zu behalten. Sie schleuderten mich hin und her, kurz in Erinnerungen, in alte Träume, in Zukunftswünsche, ehe sie mich herauszogen und weiterwarfen. Ich kam kaum mehr hinterher, rannte verzweifelt hinterher auf der Suche nach etwas, nach etwas nach dem es mir schon so lange verlangte, aber meinem Griff entfloh, wenn es gerade greifbar geworden war!
Klatsch. Schlag.
Unvorbereitet stolperte ich zurück, ließ die zum Transmutieren gehobenen Hände, mit welchen ich geklatscht hatte, sinken, als ich durch den festen Faustschlag in mein Gesicht aus meinen Gedanken gerissen wurde.
Warmes Blut lief dickflüssig aus meiner Nase und tropfte auf den Boden, während ich meine Oberlippe unangenehm prickeln fühlte.
Mit großen Augen sah ich den Mann an, welcher siegessicher grinste, sich jedoch selbst immer mehr nach hinten lehnte und schließlich mit einem lauten Rumps umfiel und auf dem Boden liegenblieb.
Erschrecken machte sich in mir breit, doch nicht wegen meinem bewusstlosen Gegner, sondern wegen mir.
„Es ist meine Schuld.", erkannte ich geschockt. „Meine Schuld. Ich habe die menschliche Transmutation vorgeschlagen. Ich bin ins Militär gegangen. Ich habe den Kampf gegen die Homunculi begonnen, habe Greed getötet, habe Mustang und sein Team mitreingezogen, habe gegen Dante gekämpft. Es ist meine Schuld, dass Alphonse sein Leben geben musste, um mich zurückzuholen. Hätte ich besser gekämpft, hätte er das nicht machen müssen. Wäre ich richtig gestorben, wäre es vorbei gewesen. Es ist meine Schuld. Durch mich mussten Menschen sterben. Ich bin ein Mörder."
Ich sah auf meine blutverschmierten, dreckigen Hände hinunter, die unvermittelt zu zittern begonnen hatten.
„Das hier ist meine Strafe. Ja! Meine Strafe! Ich muss hier sein, weil ich es verdient habe! Ich darf nicht mehr zurück! Es gibt keinen Weg zurück! Das hier ist mein Gefängnis, meine Hölle, die ich bis zu meinem Lebensende durchleben muss! Ich werde nicht zurückkommen, ich werde nicht zurückdürfen!"
Meine Stimme überschlug sich bei der Erkenntnis, wurde immer lauter und schriller.
„Es ist meine Schuld! Es ist meine Schuld! MEINE SCHULD!"
Ich stieß einen lauten Schrei raus.
„MEINE WAHRHEIT!"
Mit aller mir verbliebenen Kraft schlug ich gegen die Steinwand, was meine linke Hand sofort schmerzen ließ. Meine Augen brannten wie Feuer, angestachelt durch die Entdeckung.
Die Wahrheit, ein grausames Ding, dass mir schon so oft das Leben versaut hatte. Es ließ mich meine Mutter nicht zurückholen, es ließ mich Al nicht beschützen, es ließ mich Mustang nicht helfen, es ließ mich nicht nach Hause zurück, ohne weiter Blut an meinen Händen kleben zu lassen.
„ICH HASSE ES! ICH HASSE DICH! VERFLUCHTE WAHRHEIT!"
Tränen der Wut rannen meine geröteten Wangen herab als ich nach dem letzten Schlag gegen die Wand auf die Knie runtersackte.
„Verdammte Scheiße!!!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top