Verzweiflung
„Bitte, bitte, lass mich zurück..."
Ich saß auf dem Fensterbrett meines Zimmers und spürte die kalte Winterluft in meinem Gesicht, die dafür sorgte, dass sich die Tränen auf meinen Wangen nur noch kälter anfühlten. Seit Hohenheims Abwesenheit hatte ich nichts mehr gegessen oder getrunken, was vermutlich auch zu großen Teilen dem gestrigen übermäßigen Alkoholkonsum geschuldet war, der mich dazu gebracht hatte, meinen Magen vollständig zu leeren. Der folgende Ekel, sowohl vor den Getränken als auch vor mir selbst, hatte nicht gerade meinen Appetit angeregt, weshalb ich auf weitere Nahrungsmittel lieber verzichtet hatte.
Stattdessen hatte ich mit großem Eifer und verschwommenem Blick die ganzen Bücher nochmal durchgelesen und nach einem Weg zurück gesucht. Der gewünschte Erfolg war genauso wie die tausenden Male zuvor ausgeblieben und hatte meine Hoffnung wieder zerschmettert.
„Lass mich zurück... Bitte, lass mich doch zurück...!"
Meiner Verzweiflung machte ich mit Flehen Luft, auch wenn mir eigentlich hätte klar sein sollen, dass den Himmel anschreien mich nicht zurück in meine Welt brachte. Könnte man mit einfachem Flehen und albernen Dingen wie Gebeten Dinge bewirken, wären viele Probleme schneller beseitigt, als unsere grausame Welt es zuließ.
„Verdammt bitte, ich tu auch alles! Ich gebe alles, aber lass mich zurück...! Lass mich zurück...!"
Ich klammerte so sehr am Fensterbrett unter mir, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. Die Kälte des Winters verlor zunehmend ihre erfrischende Kühle, stattdessen wandelte sie sich zu taub machender Gefühllosigkeit, die es mir nur erschwerte, klare Gedanken zu fassen.
Schließlich machte ich meiner Verzweiflung Luft, indem ich einen lauten Schrei ausstieß. Ein Schrei, voll mit all meinen Sorgen und Ängsten, mit meinen Schmerzen und Alpträumen, mit meiner Hoffnungslosigkeit und der letzten Kraft, die ich noch hatte, bevor ich unter dem Gewicht meiner Aufgabe zusammenbrechen würde.
Einige Menschen, die sich unten durch den Schnee wagten, um ihren alltäglichen Geschäften nachzugehen, sahen erschrocken zu mir hoch. Einige zeigten sogar auf mich und flüsterten ihrem Nebenmann etwas zu.
Ich jedoch ignorierte das Geschehen zu meinen Füßen. Stattdessen wippte ich mit dem Oberkörper etwas vor und zurück, im Unterbewusstsein überlegend, ob ich mich aus dem Fenster fallen oder nach hinten ins Zimmer kippen lassen sollte. Schließlich nahm mir mein vom Alkohol noch getrübter Gleichgewichtssinn die Aufgabe ab und zog mich mit einem festen Ruck nach hinten, der mich auf dem Rücken in meinem Zimmer landen ließ, die Beine senkrecht an der Wand. Ich fragte mich, ob die Menschen unten noch meine Füße sehen konnten, die gerade so auf Höhe des Fensterbretts waren, doch ich bezweifelte es.
Ein leichtes Kichern ging durch meinen Körper, welches immer mehr zu einem Zittern ausartete. Tränen gesellten sich als Gegenteil zum Lachen dazu und ich rollte mich zur Seite, um das Gesicht in den Händen vergraben und meine Emotionen verstecken und kontrollieren zu können.
„Scheiße verdammt... Bitte..." Ich schluchze und wischte mir durchs Gesicht, doch ich konnte mich kaum beruhigen, weder das gequälte Lachen noch das Weinen beenden. „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht..."
Ich wusste nicht ob es Minuten oder Stunden waren, aber irgendwann raffte ich mich auf, knallte das Fenster zu und ging schnellen Schrittes aus meinem Raum.
„Ich drehe durch. Verdammt ich drehe durch. So eine Scheiße. Zusammenreißen. Zusammenreißen, Edward!", versuchte ich mir selbst Zuspruch zu geben. Mehrfach patschte ich mir gegen die Wangen, ehe ich in der Küche zusätzlich den Wasserhahn aufdrehte und mir die kühle, klare Flüssigkeit ins Gesicht spritzte, mit der Hoffnung, dass mein Kopf ebenso klarer werden würde.
„Tief durchatmen, ein und aus... ein und aus..." Auch wenn mir die Selbstgespräche unterbewusst immer noch etwas Sorgen bereiteten, so half es mir dennoch, die Anweisungen laut auszusprechen. Auf Befehle zu hören, wie man beim Militär gesagt hatte. Wie Mustang es gesagt hatte.
Ich senkte die Hände wieder, als sich statt der erhofften Klare lediglich Leere in mir breit machte. Mühevoll hielt ich weitere Emotionen zurück und setzte eine Maske auf, um irgendwie meine Fassung zu wahren. Ich brauchte meinen Verstand, wenn ich dieses Problem lösen wollte.
Hohenheim würde erst Morgen zurückkehren, also hatte ich noch einige Stunden, um mich zu sammeln, bevor ich ihm wieder gegenübertreten würde.
Ohne es zu wollen fühlte ich mich plötzlich unendlich allein. Allein in dieser Wohnung, allein in dieser Welt. Ich kannte hier keinen außer meinem Vater, doch selbst diesem gegenüber fühlte ich mich fremd aufgrund der jahrelangen Distanz. Keiner hier in dieser Welt kannte mich, keiner verstand mich. Nicht so, wie meine Freunde und Familie es in meiner Heimat taten.
„Alphonse... Winry... Mustang..." Ich schloss die Augen für einige Momente, ließ gemeinsame Momente und Erinnerungen in meinem Kopf Revue passieren lassen. Es waren einige schöne Sachen dabei, erstaunlich viele sogar. Immer wenn ich über mein Leben nachgedacht hatte, war es mir wie ein Trauerspiel vorgekommen, gezeichnet von Verlust, Schmerz und Pech. Ob es so war oder nur meine subjektive Vorstellung es mir so zeigte, wusste ich nicht. Aber jetzt wurde mir bewusst, wie viele strahlende Momente es inmitten all der Trauer gegeben hatte. Wie oft ich gelächelt und gelacht hatte, wie oft ich mich glücklich gefühlt hatte, wie oft ich umarmt und geliebt wurde.
Ohne es selbst zu bemerken, begann ich zu lächeln, als meine Gedanken von Winrys Geburtstagsfeier hin zu einem Badeausflug wanderten, nur um dann bei einer durchgemachten Nacht mit Partyspielen zu landen. Unweigerlich musste ich auch für einige Sekunden an diese eine Nacht denken, die ich in Mustangs Büro verbracht hatte.
Doch mit diesem Gedanken kam auch wieder der Verlust hinzu, der die schönen strahlenden Momente kurz darauf überschattete, wie eine Decke, die sich über das Licht gelegt hatte und nur Dunkelheit zurückließ.
Ich öffnete die Augen wieder und ging mit schnellen, bedachten Schritten zur Tür, wo ich mir meinen Mantel von der Kleiderstange nahm und wenige Minuten später die Wohnung verließ. Inzwischen waren die Straßen überfüllter trotz zunehmender Kälte, doch es schien, als würde es inmitten der umherwuselnden Menschenmasse wärmer werden.
Dennoch trennte ich mich nach einigen Straßen von ihnen, um meinen eigenen Weg zu gehen. Zu meinem Überraschen führte dieser mich nicht wie sonst zum Friedhof, sondern zum Bahnhof. Ein in Amestris mir sehr vertrauter Ort, an dem ich mit Alphonse schon allerorts viele Stunden verbracht hatte, um auf einen Zug zu warten, der hier jedoch gänzlich anders und fremd, neumodisch und modern erschien.
In Gedanken verabschiedete ich mich von Hohenheim und München, als ich in einen Zug stieg, ohne überhaupt die Richtung zu überprüfen, geschweige denn ein Ticket zu kaufen. Ich hoffte einfach, ich würde inmitten der vielen Passagiere nicht auffallen und unbemerkt davonkommen.
Nach längeren Minuten des Stehens bekam ich sogar einige Haltestellen weiter einen Sitzplatz, von welchem ich aus dem Fenster blicken konnte. Die Landschaft schien gar nicht so verschieden von der meiner Heimat zu sein, was mich nicht so recht glücklich stimmte. Es war, als würde diese Welt immer wieder versuchen, wie meine zu sein, ihr zu ähneln und sie nachzumachen, nur um mir kurz darauf mit einem Faustschlag ins Gesicht zu verdeutlichen, dass es hier ganz anders war.
Ich seufzte und schloss die Augen etwas. Wie von selbst sank mein Kopf zur Seite und lehnte an der bald kalten Scheibe des Zugfensters. Die durchgemachte Nacht und der Alkohol verlangten ihren Preis und ließen mich in einen traumlosen, tiefen Schlaf gleiten.
Erst das laute Pfeifen des Zuges an einem der größeren Bahnhöfe ließ mich aufschrecken. Desorientiert und überfordert sah ich mich panisch um, drehte den Kopf in alle Richtungen und versuchte mich auf etwas zu fokussieren, um zu verstehen, was los war.
Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, war Mustang. Draußen auf dem Bahnsteig stand er, gekleidet in zivile Klamotten, seinen schwarzen Mantel sich typisch für ihn über die Schultern gelegt.
„MUSTANG!", schrie ich erschrocken, ehe ich von meinem Platz sprang und mich durch die Menschen im Zug zum Ausgang quetschte. Kurz bevor die Tür geschlossen worden war, schaffte ich es noch hinaus und sprang auf den Betonboden des Bahnhofs. Ich wusste nicht einmal, in welcher Stadt ich mich eben befand, doch es hätte mich nicht weniger interessieren können. Alles was zählte war, dass Mustang hier war.
Ich schob Menschen aus dem Weg und duckte mich unter einigen Armen hinweg. Da ich weder Gepäck bei mir hatte noch - zu meiner Schande - sonderlich groß war, schaffte ich es einigermaßen schnell zu ihm. Ohne darauf zu achten, mit wem er sich gerade unterhielt, sprang ich auf ihn zu und umarmte ihn eng und stürmisch.
„Mustang! Was machen Sie denn hier, Oberst?! Wie haben Sie mich gefunden?! Oder ist der Zug wirklich bis nach Amestris gefahren? Unmöglich! Aber Sie sind es! Das ist wunderbar! Sie-" Ich konnte kaum aufhören, meine übermäßige Freude über das langersehnte Wiedersehen kund zu tun. Doch als Mustang eine Waffe zog und sie mir gegen die Stirn drückte, erstarben meine Worte sofort und mein Mund blieb sprachlos offen, während ich meinen einstigen Vorgesetzten mit großen Augen ansah.
„Wer zur Hölle bist du. Fass mich nicht an. Zurück, na los." Es war nicht ein Funke Freundlichkeit in seinen Augen. Nichts als eisige Kälte starrte durch schwarze Augen auf mich herab, so viel kälter als der weiße, fast schon unschuldige Schnee, der in traurigen Flocken vom Himmel fiel.
„M-Mustang... Was..." Ich wich mit kleinen Schritten zurück, während mein Verstand verzweifelt zu begreifen versuchte, was ich vor mir sah. Ich hatte ihn berührt und ich war nicht mehr betrunken, er war keinesfalls eine Einbildung! Warum also behandelte er mich, als würde er mich nicht kennen?!
„Ich frage ein letztes Mal." Mustang entsicherte die Pistole, die er weiterhin auf meinen Kopf gerichtet hielt. „Wer bist du und woher kennst du meinen Namen."
Diesmal entfloh kein Ton meine Lippen, sondern nur Tränen meinen Augen, als ich langsam verstand, was sich vor mir abspielte. Spätestens als ich die altbekannte Armbinde an seinem rechten Oberarm sah, war mir klar, dass es sich keinesfalls um meinen Oberst handelte. Das hier war ein anderer Mensch, der vielleicht so aussah wie er, scheinbar so hieß wie er, aber nicht er war. Ein Trugbild, nein, eine andere Version von ihm.
„Wie mein Ebenbild aus dieser Welt...", schoss es mir durch den Kopf. Durch die vielen Selbstgespräche angeregt sprach ich den Gedanken laut aus, was nur dafür sorgte, dass der Mustang dieser Welt mich finsterer ansah.
Ein trauriges Lächeln zwang sich auf meine Lippen, während mehr Tränen zu rollen begannen. „Verzeihung, das war wohl eine Verwechslung...!" Ich hob ergeben die Hände, während der Zug, mit dem ich hergekommen war, hinter mir abfuhr. Beim erneuten Pfeifen, welches beim Ausfahren aus dem Bahnhof ertönte, sagte Mustang etwas, doch ich konnte seine Worte durch die Lautstärke nicht verstehen. Doch ich sah sein Gesicht, welches für einige wenige Augenblicke, vielleicht eine Sekunde lang, gefüllt war von Reue und Trauer. Dann drückte er ab.
Ich sah es wie in Zeitlupe vor mir, blendete urplötzlich den Lärm um mich herum aus und fokussierte mich ganz auf Mustang und die Kugel, die auf mich zukam. Ich hörte meinen eigenen Atem, zittrig und flach, ich spürte mein Herz schneller in meiner Brust klopfen. Die Kugel kam näher, zielte geradewegs auf meinen Kopf, die Stelle zwischen den Augen, während Mustangs Blick mich bereits durchbohrt hatte.
Zeit zum Denken blieb mir nicht, weshalb meine Instinkte übernahmen und mich zum Handeln zwangen. Wie von selbst hob sich mein rechter Arm und blockte mit meiner Automailhand die Kugel ab, die sich tief in die metallene Handinnenfläche bohrte. Für einen Momente setzte mein Atem aus und ich sah auch, dass dieser Mustang mich gebannt anstarrte, sich versteifte und mit jeder Faser seines Körpers diesen Moment fühlte.
Ich stolperte zurück und der Augenblick war vorüber, die Lautstärke dröhnte in meinen Ohren, während der Boden vom ausfahrenden Zug noch bebte. Ich senkte die Hand, aus welcher die Kugel kullerte, die schließlich auf dem Boden liegenblieb.
Weder Mustang noch ich sagten ein Wort, während die Menschen um uns herum den Schuss gänzlich durch den ausfahrenden Zug überhört und keine Aufmerksamkeit für uns übrig hatten. Mein Blick versank in den schwarzen Augen, deren Feuer ich so dringend vermisste und in dieser Winterkälte nicht fand.
Als er schließlich den Mund öffnete, um zu sprechen, schnellte ich vor und legte ihm meine kühle Hand über die Lippen, während die Verzweiflung aus mir sprach:
„Bitte, lass mich zurück!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top