Verhandlung

„Ich schaff das schon selbst!"

Ich versuchte mich aus dem Griff Hohenheims zu winden, doch der zog meinen Kopf am Kinn nur wieder zu sich und fuhr damit fort, mit einem in Alkohol getränkten Wattebällchen meine aufgeplatzte Lippe zu reinigen.

„Aua! Au! Das tut weh! Man, sei doch mal sanfter!", fluchte ich wütend.

„Selbst schuld. Was prügelst du dich auch? So kenn ich dich gar nicht." Das schien mir sein Blick zu sagen. Doch in Wirklichkeit verließ nicht ein Wort seine Lippen. Stattdessen behandelte er schweigend und ohne Fragen oder Belehrungen von sich zu geben meine Wunden.

Nach dem letzten Pflaster auf einen Kratzer an meiner Stirn wurde ich endlich entlassen und floh aus dem Wohnzimmer in meinen eigenen Raum. Schnell zog ich mir ein frisches Hemd über, um meinen von Verband umwickelten Oberkörper zu verstecken. Wie ein kleines Kind, dass das vollgemachte Bettlacken vor den Eltern zu verstecken versuchte.

Ich war stiller, seit ich zurück in der Wohnung war. Die Wände, die mir zuvor viel zu groß erschienen, waren jetzt kleiner. Sie erdrückten mich nicht mehr. Aber sie sperrten mich ein. Sperrten mich ein in dieser sterblichen, irdischen Welt, die durch ein verfluchtes Tor von der meinen getrennt war.

Schnell begann ich, mein Zimmer zu hassen. Die hellen Wände, die weiße Decke. Die dunklen staubigen Regale, die alten durchgelesenen Bücher. Das rostige Bett mit der zu dünnen Decke. Das Fenster, dass mir nur diese Welt zeigte.

Ich verfluchte den Raum in Gedanken immer mehr, bis ich die Schritte meines Vaters im Flur hörte. Der Laminatboden gab knarzende Geräusche von sich, als sie vom Gewicht Hohenheims belastet wurden. Vor meiner Tür endeten die Geräusche und ich starrte mit großen Augen das braune Holz an, wartete darauf, dass die Messingklinke gesenkt wurde, was jedoch nicht geschah. Hohenheim blieb im Flur, statt das Zimmer zu betreten.

„Edward, ich gehe jetzt.", erklang seine Stimme.

Ich nickte, ehe ich mich erinnerte, dass er das ja nicht sehen konnte. „Ja, schon klar.", warf ich also schnell hinterher.

„Gut. Ich bin erst Übermorgen wieder da. Bitte pass auf dich auf, während ich weg bin." Mir war fast, als klänge er besorgt, doch dafür fehlte dann doch die Liebe in seiner Stimme. Ob ich mir die Kälte einbildete oder ihn einfach nur von mir und meinem Herzen stoßen wollte, wusste ich nicht genau. Es tat schon genug weh, alle anderen verloren zu haben. Wenn er mal wieder ging und nicht zurückkam, wollte ich nicht, dass es wieder wehtat.

„Geh nur. Ich komm klar, ich bin kein kleines Kind mehr." Ich wandte den Kopf von der Tür ab. Schweigend lauschte ich den Schritten, die zur Tür gingen, hörte zu wie diese sich öffnete und schloss und wieder Stille in der Wohnung einkehrte. Um mich zu beruhigen atmete ich tief aus und ein, ehe ich auf die Füße kam.

Es fühlte sich an wie schlafwandeln als ich durch die Räume wanderte. Mein Zeitgefühl verschwand wieder und ließ mich allein in dieser fremden Welt. Es hätte Abend oder Morgen sein können, ich wusste es nicht, Hohenheim hatte die Vorhänge vor die Fenster gezogen. Mattes Licht schien hindurch, doch nicht genug um mir zu zeigen, ob es die liebliche Sonne war oder der kühle Mond oder gar die emotionslosen Laternenlampen.

Über kurz oder lang, nach stundenlangem Wandern oder nur Schritten von wenigen Sekunden hatte ich den Weg zum Alkoholschrank meines Vaters gefunden. Teure Weine, ein Champagner sogar, eine halbleere Flasche Wodka und mehrere Bier fanden sich aufgereiht in den Regalfächern.

Winry hätte mich angeschrien, Alphonse vermutlich geweint, wenn sie gesehen hätten, was ich jetzt tat. Wie Mustang wohl reagiert hätte? Bei ihm war ich mir unsicher. Ob er wie Winry geschrien hätte aus Wut, dass ich in meinem Alter nicht trinken sollte? Ha, ich bin schon so lange hier, in dieser Welt gelte ich sogar als volljährig. Geweint hätte Mustang wohl nicht. Am ehesten ein strafender Blick, kühl wie der Mond in einer dunklen Nacht, aber still, denn Schweigen traf öfter stärker als Worte es tun könnten.

Ich lachte matt und entkorkte die Weinflasche. Ohne mich um ein Glas zu kümmern hob ich die Flasche an und trank direkt aus der Öffnung. Der Wein war rot und erinnerte mich an Blut, doch der Eisengeschmack fehlte, stattdessen schmeckte ich Beeren, welche genau vermochte ich nicht zu erkennen, Schärfe und Kräuter, sowie einen Geschmack, der sich schlicht und ergreifend als Alkohol beschreiben ließ. Ethanol, C2H6O, früher Ethylalkohol genannt. Ich kannte es aus der Alchemie, doch es mal zu trinken, fühlte sich anders an.

Ein Hicksen durchfuhr meinen Körper, welches mich leicht kichern ließ. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich die Flüssigkeit in mich hineingetrunken, während mein Lachen zwischendurch immer verzweifelter geworden war. Als die dunkelgetönte Weinflasche schließlich leer war, ließ ich sie achtlos zu Boden fallen. Schon wieder bedeckten Scherben den Boden, diesmal benetzt von den roten Weinresten. Ob man einen Unterschied sehen würde zwischen dem Wein und meinem Blut? Der Gedanke lungerte in meinem Hinterkopf, doch ich unterdrückte den Reiz, es auszuprobieren, in dem ich eine neue Flasche nahm und mich ans Leeren machte.

Zeit ist relativ, flüchtig und wie ein Fluss. Mal fließt sie langsam, träge dahin, in besonders schmerzlichen Momenten. Man meint sogar, dass sie stehenbliebe, damit du in diesem Moment den Schmerz voll auskosten kannst und musst. In anderen Momenten scheint die Zeit zu rasen, reißerisch und nimmt dich mit auf eine unvergessliche Fahrt, lässt dir kaum Zeit zum Durchatmen und Denken.

War mir das Trinken noch so zeitlos vorgekommen, so stand nun alles still. Eine leere Flasche kullerte über den Boden neben mir, während ich meine letzte angefangene noch fest in der Hand hielt. Ich spürte den kalten Boden unter mir, auf welchem ich lag, den Blick an die weiße Decke gerichtet.

„Hey...", hauchte ich leise zu Al und Winry. Sie sahen nicht glücklich aus über meinen Zustand. Doch allein, dass ich sie sehen konnte, vor mir stehend und auf mich runterschauend, zauberte ein unglaublich großes Lächeln auf meine Lippen. „Da seid ihr ja..."

„Du bist ein Idiot, Bruderherz. Ein richtiger Idiot!", schimpfte Alphonse und schien kurz vorm Weinen zu sein. „Alkohol ist schlecht, warum trinkst du denn so viel! Du bildest dir sogar unsere Anwesenheit ein!"

„Was sagst du denn da..." Ich lächelte breit, mein eigenes Lallen nahm ich nicht wahr. „Ihr seid doch da, das bilde ich mir nicht ein..."

Ich griff hoch und erwartete, den Stoff von Winrys rauer Werkhose spüren zu können. Stattdessen ging meine metallene Hand hindurch und fasste ins Leere. Kurz stockte ich, ehe ein leichtes Lachen meinen Körper erschütterte und kleine Tränchen meine Wangen seitlich hinunterliefen.

„Edward, reiß dich zusammen! Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um durchzudrehen!" Wütend musterte Winry mich von oben, während sie mir ihren geliebten Schraubenschlüssel wie eine Waffe drohend an den Hals hielt. „Werd nüchtern und-"

„Aber dann sehe ich euch ja nicht mehr." Ich ließ die Hand sinken. „Dann wäre ich wieder allein. So sehe ich euch! Kommt, lasst uns etwas zusammen machen!"

Voller Enthusiasmus wollte ich auf die Füße springen, doch schon beim Aufsetzen begann mein Kopf zu dröhnen und die Umgebung vor meinen Augen zu verschwimmen. Selbst Alphonse und Winry, die vor mir standen, verblassten etwas, was mir die Panik ins Gesicht trieb. „Al, Win!"

Als ich diesmal nach ihnen griff, verschwanden sie ganz. Das leere Zimmer war alles, was mir blieb. Schluchzend senkte ich den Kopf und vergrub das Gesicht in den Händen, um meine verzweifelten Tränen zu verstecken. „Das ist nicht fair! Nicht fair! Lass mich doch einen Tag mit ihnen verbringen! Nur noch einmal mit ihnen reden! Ich vermisse sie doch so, ich will doch zu ihnen zurück!!!"

„Also wirklich, Fullmetal. Seit wann bist du denn so eine Heulsuse?"

Das dunkle Lachen vor mir ließ mich den Kopf hochreißen. Fassungslos starrte ich Mustang an, welcher vor mir hockte und mich amüsiert betrachtete. Doch auch in seinen Augen spiegelte sich die Traurigkeit wider, die sich in meinen fand.

„Oberst... Oberst! Mustang!" Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Ja, ich hasste meinen nörgelnden Vorgesetzten, der an jedem meiner Berichte etwas auszusetzen hatte, der haltlos jede Frau anflirtete und mit seiner Flammenalchemie viel zu sehr angab. Doch in diesem Moment war ich so unglaublich froh, sein vertrautes Gesicht zu sehen, welches mir schon einmal Hoffnung geschenkt hatte.

Seine schwarzen Haare fielen ihm über die dunklen Augen, welche mich intensiv musterten. Seine Lippen zeigten ein freundliches Lächeln, welches gerade mir gegenüber befremdlich wirkte, genauso wie die Hand, die er mir handschuhlos entgegenhielt.

Statt die Hand zu ergreifen, warf ich mich in seine Arme und klammerte schluchzend an ihm. Seine Uniform war an der Schulter schon bald von meinen vielen Tränen nass geworden, während ich sicherlich schmerzhaft fest an seinem Rücken krallte. Doch statt eine sarkastische Bemerkung oder eine Beschwerde von sich zu geben, obwohl er Nässe und mich doch eigentlich nicht wirklich mochte, tat er etwas unglaublich Schönes.

Ich fühlte eine seiner großen Hände auf meinem Hinterkopf, wie sie mir sanft durch die zum Pferdeschwanz gebundenen Haare fuhr, während die andere sich auf meinen Rücken legte und diesen streichelte, mit einer Art, die fast schon als liebevoll bezeichnet werden könnte.

„Wir vermissen dich alle, Edward. Ich vermisse dich. Kommst du bald zurück?", hörte ich seine Stimme neben meinem Ohr, ruhig und kräftig wie immer, doch von einer gewissen Traurigkeit getrübt.

Ich nickte heftig. „Ich komme wieder! Ich komm bald wieder! Ich komme zu euch zurück! Wartet bitte noch etwas! Ich finde einen Weg, ich finde einen! Nur wartet bitte! Und... Und vergesst mich nicht!" Schluchzend wandte ich mein Gesicht Mustang zu, welcher nur ruhig lächelte und mir eine der zahlreichen Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Natürlich. Wir warten auf dich. Ich warte auf dich." Er lächelte und beugte sich mehr zu mir, zog mich näher an sich. Mir war, als wäre es auf einmal wärmer im Zimmer geworden. Ich spürte große Hitze in mir, die mit jedem Millimeter, den sich Mustangs Gesicht dem meinen näherte, stärker wurde.

Als seine Lippen schließlich die meinen berührten, war mir als würde ich brennen. Ich kniff die Augen zusammen und krallte fest an ihm, während neue Tränen meine Wangen hinunterliefen. Wie gut sich das anfühlte! Wie sehr ich dieses Gefühl vermisst hatte!

Ich schlug die Augen auf und schnappte keuchend nach Luft, ehe ich mich von meiner sitzenden Position zur Seite lehnte und einen Teil des brennend heißen Alkohols neben mich auf den Boden kotze. Das Zittern wollte meinen Körper gar nicht mehr verlassen, genauso wie die Tränen nicht aufhören wollte.

In Gedanken verfluchte ich den Alkohol für seine trügerischen Illusionen, während ich ihm gleichzeitig für das Gedankenspiel dankte, so sehr es mich auch der Verzweiflung hingeworfen hatte. Dennoch konnte ich Entschlossenheit darin finden, die meine Augen in unerkanntem Licht strahlen ließen. Ich würde zurückgehen. Schließlich warteten alle auf mich, also durfte ich jetzt nicht aufgeben.

„Ich schaff das schon!"

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