Verdrängung

„Es kann nicht sein."

Deutschland ist grau. Die Straßen sind grau. Die Häuser sind grau. Die Menschen sind grau. Ja selbst der Himmel, in meiner Erinnerung von Zuhause strahlend blau mit leuchtendem Sonnenschein, ist hier grau. Dichte Wolken bedecken den Himmel und lassen keinen einzigen Strahlen Licht hindurch. Das Einzige was von oben die Menschen hier am Boden trifft, sind die kleinen Regentropfen, die sich über das graue Land ergießen und mich zittern lassen.

Ich stand schon seit Stunden im Nieselregen und starrte in den Himmel hoch. Obwohl der Grabstein vor mir die gleiche Farbe hatte, war mir der Blick zu den Wolken doch lieber. Der Wind pfiff um mich, mal so stark, dass er mich fast von den Beinen riss, mal so leicht, als würde er mich sanft umarmen wollen. Mein Mantel wehte flatternd um mich, selbst er war nicht mehr strahlend rot, sondern mattes Braun, für mich auch nicht mehr als ein grauer Fleck in dieser grauen Welt.

Als ich den Kopf schließlich vom Himmel zur Erde abwandte, erblickte ich im Augenwinkel mein Spiegelbild in einer nahen Pfütze. Die nassen, honigblonden Haare wirkten mehr trist und braun, während ich in meinen goldenen Augen das Licht verzweifelt suchte. Fast erkannte ich mich selbst nicht mehr. Weder meine Kleidung noch mein Gesicht schien so zu sein, wie ich es aus meiner Welt kannte. Als wäre ich ein gänzlich anderer Mensch geworden.

„Das kann nicht wahr sein.", flüsterte ich zu mir selbst. „Das kann nicht sein."

Ich atmete tief durch und wandte meinen Blick von der Pfütze zurück zu dem Grabstein vor mir. „Eduard Elrick", las ich leise den Namen vor. Ein Stein von vielen auf dem großen Friedhof, doch der einzige Stein, zu dem ich eine Bindung hatte. Ich kam öfter her, las mir die Inschrift durch. Das dumpfe Gefühl, dass mein Herz dabei zusammendrückte, weilte in letzter Zeit nach dem Verlassen des Friedhofs zunehmend länger in mir. Die Schuld, die ich gegenüber dem Toten hatte, wollte mich einfach nicht mehr loslassen.

Hohenheim hatte mir geraten, nicht mehr herzukommen, wenn es mich zu sehr belasten würde. Dass ich aufhören sollte, mir selbst dadurch wehzutun. Dass ich nichts für seinen Tod konnte.

Ich lachte auf. „Natürlich. Es ist überhaupt nicht meine Schuld. Wie könnte es auch. ICH WAR JA NUR IN SEINEM KÖRPER, ALS ER STARB! ICH HÄTTE IHN RETTEN KÖNNEN, ALS DER ZEPPELIN ABGESTÜRZT IST! ICH HÄTTE DAS VERHINDERN KÖNNEN, ICH HÄTTE SEIN LEBEN RETTEN KÖNNEN, STATT ES ALS ENERGIE FÜR MICH ZU MISSBRAUCHEN UM-" Meine Stimme brach und die plötzliche Lautstärke verschwand, machte stattdessen der toten Stille des Friedhofs Platz, die mich erneut vereinnahmte und mir den Atem raubte. Nach Luft ringend blieb ich stillstehen, im verzweifelten Versuch, wieder Herr der Lage zu werden.

Meine Hand legte sich wie von selbst über meine Brust, direkt über meinem pochenden Herzen. Mehrere Minuten lang stand ich schweigend da, während der Regen meine Haare und meine Klamotten an mir kleben ließ.

Schließlich ging ein Zittern durch meinen Körper und ich wandte mich schnell ab, um mit schnellen Schritten den Friedhof zu verlassen.

„Es kann nicht sein.", nuschelte ich zu mir selbst. „Es kann nicht sein."

Ich wurde noch schneller, ehe ich schließlich rannte, immer schneller rannte, ohne überhaupt zu überlegen, wohin, ohne auf den Weg und die Richtung zu achten. Mein Körper lenkte sich wie von selbst als ich durch die Münchner Straßen eilte und gerade so mit niemandem zusammenstieß, während mir aufkommende Tränen die Sicht versperrten. Mein Zeit- und Raumgefühl ging verloren als ich nur noch meinen keuchenden Atem hörte, als ich spürte, wie mein Herz mir in der Brust zerspringen wollte. Kurz bevor es jedoch so weit kommen konnte, erreichte ich endlich unsere Wohnung.

Mit letzter Kraft schmiss ich mich gegen die Tür, erinnerte mich keuchend, dass ich beim Gehen abgeschlossen hatte und kramte mit zitternden Fingern die Schlüssel aus meiner Hosentasche, um schnell aufzuschließen. Kaum war ich in den Flur gestolpert und das Treppenhaus hochgerannt, beinahe dabei gestolpert und gefallen, schloss ich die Wohnung ebenso auf und ließ mich drinnen angekommen auf die Knie fallen.

Mein Vater sah auf, ehe er besorgt aus seinem Büro zu mir kam und mich auf die Füße zog. „Edward, du bist ja ganz durchnässt und außer Atem. Komm, ins Wohnzimmer mit dir." Kurz schloss er die Tür, ehe er mich ins Wohnzimmer führte und mir half, mich aufs Sofa zu setzen.

Ich spürte seinen strengen, analysierenden Blick auf mir und als ich nach mehreren Sekunden noch immer nicht sprach oder mich rührte, hockte er sich hinunter und sah so zu mir hoch. Seine Hand streckte sich mir entgegen, ich sah ihm an, dass er meine Wange berühren wollte, doch bevor er meine Haare auch nur zur Seite streichen konnte, hatte ich seine Hand weggeschlagen.

„F-Fass mich nicht an!", zischte ich ihn an, ungewollt zorniger als eigentlich beabsichtigt.

Er verzog nur traurig das Gesicht und stand wieder auf. „Ich habe auf dich gewartet. Das Essen steht in der Küche. Ich gehe jetzt zur Universität. Kommst du hier allein zurecht, Edward?"

„Natürlich! Ich bin doch kein kleines Kind!" Meine Hände krallten sich an meine Knie im verzweifelten Versuch, das Zittern zu unterdrücken. Ich spürte, wie meine Automails klapperten, ein Problem, das trotz der hautähnlichen Kunststoff-Beschichtung meines Vaters noch nicht behoben werden konnte.

Nach einem weiteren Blick Hohenheims wandte der sich schließlich ab und verließ innerhalb der nächsten Minuten, die ich zitternd und schweigend auf dem Sofa verbrachte, die Wohnung. Als die Tür schließlich zufiel, hob ich den Kopf und atmete einmal tief ein und aus.

„Es kann nicht sein." Ich fasste mir an die Lippen, fast als wollte ich überprüfen, dass die Wörter wirklich aus meinem Mund kamen. „Es kann nicht sein.", wiederholte ich, diesmal lauter. Meine Stimme erklang mir fremd, als würde sie zu jemand anderem gehören, den ich nicht kannte.

„Ich muss zurück."

Entschlossenheit flackerte in meinen Augen auf, als ich mich vom Sofa erhob und meiner vom Regen nassen Klamotten entledigte. Nach einer warmen Dusche aß ich das von meinem Vater zubereitete Mahl, auch wenn mich seine Kochkünste nach wie vor nicht überzeugten. Morgen sollte ich kochen, wenn ich was Leckeres haben wollte, auch wenn meine Fähigkeiten in der Küche nur mäßig die Hohenheims übertrumpften.

„Ach, was denke ich da, das bringts eh nicht. Morgen bin ich nicht mehr hier. Morgen bin ich zurück." Ich hatte mir Selbstgespräche angewöhnt, was mir, wäre ich bei klarem Verstand, hätte Sorgen bereiten sollen, aber es leider nicht tat. Mit Hohenheim als meinem einzigen Sozialkontakt war es schwer, gute Gesprächspartner zu finden.

Ich lachte leicht. „Dafür hab ich ihm ja heute Tschüss gesagt. Morgen bin ich Zuhause." Ich schloss die Augen und lächelte. Heute würde der letzte Tag sein, den ich in dieser schrecklichen Welt verbringen müsste. Morgen wäre ich wieder in Amestris, Zuhause, bei Winry, bei Alphonse, bei Mustang...

Meine Augen öffneten sich wieder und ich sprang auf, als hätte mich etwas gestochen.

„Zuhause... Dort geht es allen gut. Ja? Allen gut?" Mein nervöses Lachen unterbrach meine Gedanken. „Natürlich geht es allen gut, dafür habe ich doch gesorgt. Ich bin hier, damit Al wieder lebt. Er ist bestimmt bei Winry und sie essen gerade Apfelkuchen. Ganz sicher." Hilfesuchend krallte ich mich an die Tischkante, mein Blick auf meinen leeren grauen Teller fixiert. „Ihnen geht es gut. Es kann gar nicht anders sein." Ich lachte wieder, ehe ich mit einer schwungvollen Bewegung den Teller mitsamt Besteck und Glas vom Tisch fegte.

„Es muss...!" Um die Verzweiflung niederzukämpfen stand ich auf und ging durch die Wohnung. „Und Mustang... Mustang hat es auch geschafft. Als ob der gegen Bradley verliert. Er hatte den Oberleutnant dabei. Wenn er da versagt hat- Nein, unmöglich. Das wäre dämlich! Er muss es geschafft haben. Er muss, genau. Er muss."

Ich trat ans Fenster, ließ meinen Blick über die Straße schweifen, die Straße, die mir eigentlich vertraut war, doch jeden Tag wieder fremd erschien. Einfach, weil es nicht meine Straße war, nicht meine Stadt, mein Land, mein Universum. Ich gehörte hier nicht hin. Und dieses Gefühl, an diesem Ort fremd zu sein, verstärkte sich quälend mit jedem Tag, während ich mich gleichzeitig schmerzlich an diese Welt zu gewöhnen schien. Es war ein unangenehmes Gefühl, dem ich nur zu gern entfliehen würde.

„Ich muss zurück. Sie warten auf mich. Ich kann hier nicht bleiben. Es kann nicht sein, dass Hohenheim Recht hat. Ich war doch schonmal hier. Zwar im Körper meines Ebenbildes aus dieser Welt, aber ich war hier. Und ich habe es zurückgeschafft. Das schaffe ich nochmal. Ich muss nur einen Weg finden, Alchemie einsetzen zu können. Dann kann ich mich selbst transmutieren und durch das Tor zurückgehen. Dann bin ich wieder zurück, dann bin ich Zuhause."

Mein Blick fixierte sich von der Welt draußen langsam auf die Fensterscheibe der Wohnung, die durch meinen hektischen Atem leicht angelaufen war. Ich hob die Hand, die rechte, die eigentlich eine Automail war und mit Stoff versuchte, Haut zu imitieren. Ich wischte über das Glas und blickte in mein Spiegelbild.

Überrascht erkannte ich einen Unterschied zur Pfütze des Friedhofs. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während die Tränen über meine Wangen nach unten tropften.

„Es kann nicht sein, dass ich für immer hierbleiben muss. Es gibt einen Weg zurück. Es kann gar nicht anders sein!"

Ich ballte die Hand zur Faust.

„Es kann nicht sein."

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