Kapitel 64 - Die Geschichte des Raphael Santiago
Es war laut und stickig in der kleinen Dorfbar, die bald aus allen Nähten platzen würde.
Alec hatte sich gerade noch rechtzeitig einen Platz am Tresen sichern können, wo er nun mit einem halb vollen Bierglas saß. Er schenkte dem Getränk oder der feucht fröhlichen Stimmung um sich herum kaum Aufmerksamkeit.
Warum auch? Die halb verstümmelte Platte vor ihm war viel interessamter.
Die Lautstärke und das Klavierspiel im Hintergund hatten aber auch etwas Gutes. Sie hinderten ihn am Nachdenken und wenn er so weitertrank, würde es auch mit dem Vergessen funktionieren -er hatte noch nie viel vertragen.
Allerdings schien irgendetwas am heutigen Tag gegen ihn zu sein, denn eine Gestalt schob sich kurzerhand neben ihn. Dass sie dabei einen sturtzbetrunkenen, alten Mann unsanft vom Barhocker stieß, schien ihr nichts auszumachen.
Alec ignorierte seinen neuen Sitznachbar erst und stürzte das Bier mit einem Zug herunter, bevor er sich an den Barmann wandte.
~Noch eins.~
~Mach zwei draus. Geht auf mich.~, sagte der Mann neben ihm und Alec sah erstaunt zur Seite.
Raphael.
Er war so perplex über dessen plötzliches Auftauchen, dass er das Glas, welches vor ihm abgestellt wurde, nicht bemerkte.
Im Gegensatz zu Raphael, der sich einen großen Schluck aus dem Glas genehmigte.
Er verzog leicht das Gesicht und murmelte etwas, das wie Kotze klang.
Dann fragte er lauter, um das Getöse zu übertönen~Was machst du hier, Lightwood?~
~Mir ist egal, was du von mir hälst. Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen.~
~Davon mal abgesehen, dass ich zuerst gefragt und somit auch das Antwortrecht habe ... Ich bin öfters in solchen Bars und du kamst mir nie wie ein Trinker vor.~
~Woher willst du das wissen? Du kennst mich nicht.~
~Das mag sein, aber ich bevorzuge es auch, bestimmte Dinge zu wissen~, antwortete Raphael,~Also?~
~Du hast doch selbst gesagt, dass man keine Schwäche zeigen soll. Warum also soll ich jetzt damit anfangen?~, wich Alec aus, denn eigentlich war er hier, um zu vergessen und nicht, um über all seine Probleme zu sprechen. Schon gar nicht mit Raphael, den er einfach nicht einschätzen konnte.
Er wollte zwar betrunken sein, aber er war noch lange nicht so benebelt, um dieses Risiko einzugehen.
~Und du hast gesagt, dass es bei den richtigen Menschen durchaus ok ist.~
~Und du bist so ein Mensch?~
~Das hast du jetzt gesagt.~
~Und warum sollte ich mich dir dann anvertrauen?~, fragte er skeptisch.
~Solltest du nicht, aber ich werde wahrscheinlich der einzige sein, der dir kein Es tut mir leid entgegenbringen wird. Außerdem ist es oft einfacher, sich Fremden anzuvertrauen, als den besten Freunden. Denk drüber nach.~
Und er dachte darüber nach, auch wenn seine Gedanken langsam träger wurden.
Der Jüngere hatte nicht unrecht. Bei ihm fühlte Alec nicht diesen Wunsch, es ihm recht machen zu wollen. Natürlich war es dumm, sich jemandem anzuvertrauen, der dieses Wissen auch schamlos gegen einen verwenden könnte, aber ... irgendwie glaubte er, dass Raphael nicht der Typ war, der einfach Geheimnisse ausplaudern würde.
Auch könnte es genauso gut sein, dass er sich an diesem Abend so betrank, dass er sich am nächsten Morgen an nichts von Alecs Worten mehr erinnern könnte.
Er beschloss, dieses Risiko einzugehen.
~Kennst du das, wenn du eigentlich nur die schützen willst, die du liebst, aber alles nach hinten losgeht? Wenn deine Liebsten verletzt werden oder sogar ... sterben, nur weil du deine Aufgabe nicht erfüllen konntest?~, fragte er nun und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
Auch Raphael schien sich Mut antrinken zu wollen, denn er nahm einen weiteren großen Schluck, bevor er das Glas nervös in seinen Händen drehte.
~Ich kenne das sogar sehr gut~, erzählte er schließlich,~Als ich noch kleiner war, habe ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in Alicante gelebt, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Es war schön und als Ältester wollte ich für meine Geschwister da sein. Das war ich auch und als ich fünfzehn war, habe ich mich zum Soldaten ausbilden lassen. Ich wollte meine Familie stolz machen, aber alles ging schief. Während einem langen Einsatz wurde meine Schwester krank und ich war nicht da, um sie aufzuheitern und mich um sie zu kümmern. Sie hätte mich gebraucht, aber ich war nicht da und so ist sie gestorben. Das hat mich innerlich beinahe umgebracht, genau wie meine Mutter, die alle möglichen Arbeiten aufnahm, um die Familie über Wasser zu halten. Wir beide konnten nicht mehr in Alicante bleiben, also habe ich meine Ausbildung abgebrochen und wir sind in ein kleines Dorf fernab von allem gezogen. Wir waren zwar nicht glücklich, aber es hat gereicht. Aber das Schicksal schien es wieder nicht gut mit uns zu meinen und ich war wieder Schuld. Dabei half ich nur einem verwahrlosten Jungen und gab ihm Brot. Ich konnte doch nicht wissen, dass es ein Schattenweltler war. Die Soldaten, die kurz danach vor unserer Tür standen und wortlos meine Mutter fortschleiften, sahen das wohl anders. Ich habe sie nie wieder gesehen. Ab da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir überfallen wurden. Immerhin war ich allein und selbst fast noch ein Kind. Wie sollte ich da meine Geschwister schützen? Ich konnte es nicht und ich dachte wirklich, dass es vorbei war, als die Vampire unseren Hof stürmten und ich den Rest meiner Familie verlor.
Doch wieder hat mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht und sie nahmen mich gefangen, statt mich einfach umzubringen. Sie haben irgendetwas in mir gesehen, aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht mit den Mördern meiner Geschwister zusammenarbeiten. Aber als ich von den Schicksalen der anderen erfuhr ... Da habe ich abgewägt, welche Seite die bessere war und schlussendlich bin ich bei den Vampiren geblieben. Die Schattenjäger sollen dafür bluten, dass sie so viele Familien entzwei gerissen oder zerstört hatten. Nachdem ich die ersten Monate wortwörtlich nur überlebt habe, hat mich Camille zu ihrem Stellvertreter erklärt, ohne nennswerten Grund.
Ich vermute ja, weil ich nichts mehr zu verlieren habe.
Doch eins hat mich die ganze Geschichte auch gelehrt: Genieße jeden Augenblick mit denjenigen, die du liebst, denn es könnte immer dein letzter sein.~
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