Kapitel 63 - Ein französisches Schlaflied

Alecs Füße flogen nur so über den Boden und für eine Sekunde war sein Kopf wie leergefegt und alles schien um ihn herum zu verschwimmen. Da war nur der Weg vor ihm und sein Ziel.

Er konnte den Eichenhain, den Simon erwähnt hatte, schon bald sehen und seine Schritte schienen sich nochmals zu beschleunigen, obwohl seine Muskeln bereits schrien und sein Herz kaum hinterherkam. Aber das interessierte ihn nicht. Er spürte es kaum, denn auch jegliche Gefühle verschwammen um ihn herum.

Da war nur Max und seine Pflicht als großer Bruder auf seine jüngeren Geschwister aufzupassen.

Er huschte zwischen zwei alten Eichen hindurch und blieb wie angwurzelt stehen, als er seinen kleinen Bruder sah.

Er lag auf einer kleinen Wiese inmitten des Hains im hohen Gras. Die Sonne fiel schräg durch die dichten Baumkronen und gaben seinem braunen Haaren einen Bronzeschimmer. Mit dem Sirren der Libellen und dem sanften Wind wäre es beinahe idyllisch gewesen, aber das war es nicht.
Max war totenbleich, seine Augenlider flatterten unruhig und seine Atmung war flach, schnell und angestrengt.

Mit einem Mal kam Bewegung in den Körper des ältesten Lightwoods und er überbrückte den Abstand zu seinem Bruder. Er warf sich auf die Knie und zog Max auf seinen Schoß, wiegte den eiskalten Körper des Kleinen beruhigend hin und her.

Eine bekannte Last drückte auf Alecs Herz, machte ihm das Atmen schwer und die Sorge und Angst in ihm unbesiegbar.

~Max. Wach auf. Bitte.~, flehte er mit erstickter Stimme.

Er unterdrückte die Tränen mit aller Kraft, sodass sie stadessen seine Stimme in Kummer tränkten. Er hätte gerne geweint. Sich völlig gebrochen in eine Ecke geworfen und wäre nie wieder aufgestanden. Er konnte einfach nicht mehr und doch musste er weitermachen.

Er wurde mit seiner vollen Stärke gebraucht und konnte es sich nicht leisten, zusammenzubrechen. Er musste für andere da sein, sie stützen und halten.

Er wollte nicht noch mehr stille Versprechen brechen, wenn er sich jetzt gestattete, schwach zu sein.
Gefühle sind nichts als eine Ablenkung.
Aber manchmal war die Versuchung so groß ...

~Alec?~, hauchte eine Stimme fragend.

Sofort tauchte Alec aus seinem Gedankensee auf, nur um in die sturmgrauen Augen seines kleinen Bruders zu sehen.

Er hätte gerne erleichtert aufgeatmet, doch er konnte es nicht. Dazu sah Max einfach zu krank und erschöpft aus.

Vor allem der Ausdruck seiner Augen würde ihn wohl noch in unzähligen Albträumen heimsuchen. Sie wirkten so leer. Kein Kinderstrahlen oder auch nur ein Funkeln.
Nein, sie waren einfach zwei graue Scheiben, die schwach flackerten. Wie ein Teelicht, welches bald heruntergebrannt war.

~Ja, ich bin hier, Max. Ich bin da. Alles wird gut.~, beteuerte er mit tränenerstickter Stimme, während er fahrig und doch sanft ein paar Stränen aus Max' Stirn srich. Diese erschien ihm ungwöhnlich heiß.

~Wird es nicht.~, widersprach Max.

Alec lächelte traurig.
Max war schon immer sehr reif für sein Alter gewesen und hatte nichts von den normalen Kindsängsten und Lügen gehalten, die man Kindern erzählte, um die harte Wahrheit zu verschönern.

Er hatte nie Angst vor dem Monster unter dem Bett und von dem Mann im Mond hatte er auch nichts gehalten -Dinge, die bei Izzy ganz anders gewesen waren.
Und auch jetzt wieder war er ernst, aber das ließ ihn auch so stark wirken. Er war viel stärker als Alec, schon immer gewesen und dafür hatte dieser seinen kleinen Bruder immer bewundert, so wie jetzt.

~Bitte. Halt einfach noch etwas durch. Hilfe kommt gleich.~
~Aber nicht rechtzeitig.~, antwortete der Jüngere ruhig.
~Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht retten kann.~, hauchte Alec und nun waren die Tränen so nah, so greifbar, aber er ließ sie trotz allem nicht durchbrechen.

Wenn er jetzt anfangen würde zu weinen, würde er nicht mehr aufhören können. Doch die Trauer in ihm war so überwältigend stark, verdrängte jegliche Gedanken an Rache und Wut, sodass nur das Wissen eines baldigen Verlustes blieb und seine Atemzüge hecktischer werden ließ.

Und wieder gab ihm sein Bruder Kraft.
~Du kannst nichts dafür. Ich weiß nicht, was für innere Verletzungen es sind, aber ... du hättest sie nicht verhindern können. Bitte mach dir keine Vorwürfe.~
~Ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen.~
~Ich fürchte auch.~, überlegte Max lächelnd, was Alec einen erstickten Lacher entlockte.

Dann umgriff er die kalte Hand seines Bruders und drückte sie fest.
~Kannst du mir etwas vorsingen? So wie früher?~, fragte er nun ernster, hoffnungsvoller.

Erst zog Alec die Augenbrauen hoch. Max hatte sich so lange nichts mehr von ihm vorsingen lassen wollen. Das hatte er nur gemacht, wenn er Angst vor der Dunkelheit hatte und das war nun wirklich schon lange her.

Aber besondere Situationen verlangten besondere Maßnahmen. So hieß es doch immer und wenn Alec seinem kleinem Bruder den Übergang so erleichtern konnte, so wollte er dies tun.

~Alec?~, fragte er noch, als dieser gerade anfangen wollte,~Ich hab dich lieb.~
~Ich dich auch.~, hauchte Alec und drückte die Hand des Kleinen nochmals fest.

Dann begann er zu singen. Es war ein französisches Lied, welches bereits seine Eltern dazu benutzt hatten, um ihn in den Schlaf zu singen.

Als sie gestorben waren, hatte er diese Tradition weitergeführt und seine Geschwister in den Schlaf gesungen, auch wenn Izzy schon zu alt für solche Lieder war. Dennoch machte er es gerne und gerade seine melancholische Stimme gab dem Lied eine weiche, nahezu magische Note.

Er schaffte es sogar für eine Sekunde all seinen Schmerz in den Zeilen des Lieds zu vergessen, doch als die letzten Töne verklangen, er die Agen öffnete und seinen Bruder ansah, kehrte er mit aller Kraft zurück und prasselte erbarmungslos auf ihn ein.

Ihm entkam ein ersticktes Schluchzen, als er in Max' leere Augen sah, in denen sich die Wolken des kobaltblauen Himmels spiegelten. Er sah so friedlich aus. Als hätte er seinen Tod akzeptiert, sich sogar danach gesehnt, dass der Schmerz und das Leid endlich ein Ende hatten.

Alecs Schmerz begann jedoch jetzt erst und er spürte, wie sein Körper unter all der angestauten Emotion bebte. Wieder fühlte er die grausame Leere, aber auch vereinzelte Schuldgefühle.

Er hätte auf seine jüngeren Geschwister aufpassen sollen. Er hätte niemals fortgehen dürfen. Dann wäre all das nicht passiert und Max würde noch leben.

Aber dann hätte er auch Magnus nie kennengelernt und, so viel Schmerz ihm seine Gefühle zu ihm auch bereitet hatten, er bereute es nicht. Er bereute nicht, Magnus kennengelernt zu haben, aber da waren auch noch seine Geschwister ...

Der innere Kampf, wer ihm nun wichtiger war und was er bereute und was nicht, drohte ihn schier zu zerreißen, sodass er gar nicht merkte, dass er nicht länger allein war.

Deshalb fuhr er auch erschrocken zusammen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte.

Er sah auf, direkt in Catarinas mitfühlendes Gesicht und plötzlich wurde ihm alles zu viel.

Magnus' Verlust, Max' Tod, all seine Vorwürfe, all seine gebrochenen Versprechen kochten über und überfluteten seine Seele.
Er wollte anderen nicht länger zur Last fallen, wenn er sich bei ihnen ausheulte. Er wollte nicht länger Schwäche zeigen.

Gleichzeitig war da diese brennende Sehnsucht, alles für einen Augenblick zu vergessen. All die Probleme in eine Kiste zu sperren und für einen ganzen Abend lang nicht wiederzusehen.

Grob schüttelte er die Hand ab, ließ seinen Bruder sanft ins Gras gleiten und stand auf. Dann drehte er ich um und rannte wieder los, weg vom Eichenhain, weg von Max, weg von den flehenden Stimmen, die ihn dazu drängten zu bleiben. Einfach weg von allem. Alec wollte allein sein und einfach nur vergessen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top