Kapitel 3 - Zwei Welten

Alec hörte den restlichen Tag über nichts von Magnus, bis es am Abend darum ging, wer dem Gefangenen das Abendessen brachte.

Alle waren mehr als überrascht gewesen, als er sich freiwillig gemeldet hatte, aber noch überraschter war wohl er selbst. Dennoch hatte er nicht gekniffen. Auch nicht, als man ihm das Tablett in die Hand gedrückt und unter Deck zu den Verließen geschickt hatte.

Nun aber, als er vor der Tür zu den Zellen stand, zögerte er. War er zu aufdringlich? Immerhin hatten er und Magnus sich erst vor ein paar Stunden das letzte Mal gesehen und es könnte seltsam erscheinen, wenn sie sich erneut begegneten.

Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass die stickige, penetrant nach nassem Hund riechende Luft seinen Verstand benebelt hatte.
Er war schließlich nur hier, um ihm das Essen zu bringen, nicht um ihn um ein Date oder dergleichen zu bitten.

Also öffnete er schwungvoll die Tür und trat in einen länglichen Raum ein, in dem es insgesamt vier Zellen gab, von der aber nur eine besetzt war.

Magnus saß auf einer schmalen Pritsche in der Zelle, die der Tür am nächsten war und starrte stur auf den Boden, bis er das Knarren der Holzdielen hörte, als Alec eintrat. Er sah auf und sofort erhellte sich seine Miene ein wenig, zumindest glaubte Alec dies, denn die Laternen an der Wand spendeten mehr Wärme als Licht.

~Hey.~
~Hey.~, begrüßte ihn Magnus mit einem belustigten Funkeln in den Augen.
~Wie geht es deinem Bein?~, fragte er, während er näher kam und das Tablett durch den kleinen Spalt zwischen Gitterstäben und Boden schob.

~Ganz gut so weit. Ich habe, weiß Gott, schon schlimmeres erlebt~, meinte er, aber als er Alecs geschockte Miene sah, schob er nach,~Ich habe schon sehr viel erlebt, Alexander. Trotzdem danke der Nachfrage. Ist das mein, hoffentlich nicht vergiftetes, Abendessen?~
~Warum sollte es denn vergiftet sein?~, fragte er geschockt.

Magnus sah ihn an, als hätte er gerade die dümmste Frage der Welt gestellt, bevor sich sein Gesicht wieder glättete.
Dann deutete er erst auf sich und dann nach oben~Pirat. Skrupellose Schattenjäger, die mich lieber tot als lebendig sehen wollen.~
~Schattenjäger?~

Wieder dieses Gesicht, als könnte Magnus einfach nicht glauben, dass er nicht wusste, von was er sprach, aber er wusste es wirklich nicht. Seine Verwirrtheit überlagerte glücklicherweise den brennenden Stich in seiner Brust, den er bei dem Wort Pirat verspürte.

~Ihr fahrt hier mit der Shadowhunter über die See. Man nennt euch deshalb im Volksmund Schattenjäger. Wusstest du das nicht?~

Alec schüttelte peinlich berührt den Kopf.
~Woher denn?~, fragte er.

~Bitte entschuldige, ich habe vergessen, dass du noch nicht lange hier bist, mein Hübscher.~
~Lass das.~
~Was denn?~, fragte er gespielt unschuldig.
~Das ist nicht normal.~, meinte er und schämte sich für seine zitternde Stimme.

~Was denn?~, wiederholte er, machte sich aber nicht mehr die Mühe, sein Grinsen zu verbergen,~Sag bloß, du findest es nicht normal, wenn ein Mann einem anderen Komplimente macht.~
~Hör auf!~, bat er und nun zitterte seine Stimme unkrontrolliert.

Dennoch überbrückte er den letzten Abstand und umfasste die leicht angerosteten Gitterstäbe mit seinen Händen.

~Ich will doch einfach normal sein, verstehst du das nicht?~
~Aber du bist nicht normal~, hielt Magnus mit erstaunlich sanfter Stimme dagegen, während er sich ebenfalls an die Gitterstäbe stellte und sie umfasste,~Du bist anders, besonders, besser.~
~Nein, lass es einfach.~, bat er mit neuer Härte in der Stimme und wandte sich ab, um sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen, doch es klappte nicht.

Magnus' Stimme, gepaart mit dem sanften Ausdruck seiner Augen und seinem Atem, der gegen Alecs Lippen geprallt war, war einfach etwas viel für ihn.

Er wollte weg von hier und so ging er wieder zur Tür und legte eine Hand auf die Klinke.
~Warte!~, bat Magnus und unterschwellige Verzweiflung schwang in seinem Ton mit,~Bitte bleib noch ein wenig, Alexander.~

Alec atmete tief durch, denn wieder erklang diese eine Saite in ihm, die sein ganzes Sein ins Schwingen brachte. Dieses Mal war es die Art, wie Magnus seinen vollen Namen betonte. Wie er sich partout dagegen wehrte, ihn wie alle anderen Alec zu nennen. Es klang, als spräche er einen besonderen Namen aus, den es nur ganz selten gab und Alec gefiel das. Es fühlte sich nämlich jedes Mal an, als sei er etwas Besonderes, was er eigentlich ja nicht war.

Sein weiches Herz, welches wieder erfreut und schnell klopfte, trug den Sieg in seinem inneren Zweikampf davon, weshalb er sich umwandte und wieder zurückging.

~Es tut mir leid~, entschuldigte sich Magnus langsam, als sei er es nicht gewohnt, einen seiner Fehler zuzugeben,~Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen. Leider neige ich dazu und achte dann zu wenig auf die Reaktionen anderer. Meine offene Art ist für viele einfach ungewohnt.~
~Schon ok. Reden wir einfach über etwas anderes.~, beschloss er lächelnd und setzte sich auf den leicht feuchten Boden.

Magnus tat es ihm gleich und griff dann zu dem Brot, welches auf dem Tablett lag. Er biss zaghaft hinein und verzog dann kaum merklich das Gesicht.
~Ich bin sicher, damit könnte man die gesamte See aufsaugen und dann wäre dieses Brot immernoch staubtrocken.~
Alec lachte leise und bemerkte so  den erstaunten, aber auch erfreuten Ausdruck auf Magnus' Gesicht nicht.

~Was ist das?~, fragte Magnus schließlich und deutete mit dem angebissenen Brot auf den Kompass, den Alec an einer dünnen Lederschnur am Gürtel trug.

Dieser Kompass war mittlerweile sein ständiger Wegbegleiter geworden und sein kostbarster Besitz. Dementsprechend vorsichtig holte er ihn hervor und beinahe routinemäßig fuhren seine Finger die filligrane Gravur nach, die er erst vor ein paar Tagen entziffert hatte.
Cupiditas.

Der kleine Zeiger drehte sich mehrere Male um seine eigene Achse bis er zwischen Norden und Westen stehen blieb. Ohne genau in sich hineinzuhorchen, wusste er, dass der Kompass zu seinem zu Hause zeigte, in dem seine Geschwister lebten, die er so sehr vermisste.

Die kleinen, am Rand ins schwarze Eisen eingelassenen, Rubine funkelten zwischen den Flammenverzierungen und er spürte die gewohnten Gravurmuster auf der gewölbten Unterseite. Vor Kurzem hatte Alec bemerkt, dass auf der Unterseite des Kompasses eine winzige, detaillgetreue Karte von Idris und den umliegenen Inseln abgebildet war.
Der Kompass musste unfassbar wertvoll sein, wahrscheinlich sogar wertvoller als das ganze Haus, in dem er gelebt hatte.

Deshalb zeigte er ihn auch nur widerwillig, denn er wollte nicht, dass ihn jemand entwendete. Aber auf irgendeine Art, die er selbst nicht ganz verstand, vertraute er Magnus und so zeigte er ihm den Kompass.

Seine Augen weiteten sich überrascht, aber seine Stimme klang weiterhin klar und fest~Der ist ja schön! Erbstück?~
~Von meinen Eltern.~

~Sind sie auch ...~, Magnus ließ den Rest der Frage in der Luft hängen, aber Alec wusste ja, was damit gemeint war.
~Von den Soldaten umgebracht wegen Verdacht ...~, er stockte und sah Magnus unsicher an.
~... Verdacht auf Piraterie? Man sollte meinen, dieser Grund ist langsam etwas ausgelutscht und langweilig.~
~Du findest es langweilig, dass meine Eltern tot sind?~, fragte er entrüstet und steckte den Kompass wieder weg.

Dabei bildete er sich ein, wie Magnus' Augen dem Kompass gierig folgten, doch der Ausdruck war genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

~Natürlich nicht. Aber das ist so ziemlich der Grund für jede zweite Hinrichtung, oftmals total unbegründet.~
~Tja, dieser Grund würde nicht existieren, wenn ...~
~... es keine Piraten gäbe?~, vollendete Magnus seinen Satz und erhob sich,~Vielleicht hast du recht, vielleicht würde man sich dann aber nur einen anderen absurden Grund für diverse Hinrichtungen ausdenken.~

~Das stimmt nicht! Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.~, widersprach Alec, als er ebenfalls aufstand.
~Achja? Schon einmal daran gedacht, dass das Gesetz nicht perfekt ist? Dass es Fehler hat oder man es zu seinen eigenen Vorstellungen auslegen kann, um das Leben anderer zu zerstören? Bestimmt nicht.~, schnaubte Magnus verächtlich.

Alec schwieg, schluckte aber schwer.

~Denkst du etwa, der Tod deiner Eltern war gerechtfertigt? Das war er nicht. Man hat das Gesetz lediglich so verbogen, damit es diesen Anschein gemacht hat. Aber warum gebe ich mir eigentlich die Mühe? Du wirst mir ohnehin nicht glauben, immerhin bin ich ein reudiger Pirat, dein Feind.~

Bist du nicht, wisperte sein Herz, doch er sprach es nicht aus.
Seine Zunge war schwer wie Blei und fühlte sich seltsam pelzig an. Er brachte keinen einzelnen Laut heraus, also machte er das naheliegendste. Er drehte sich um und lief weg, während einzelne Tränen aus seinen Augenwinkeln entkamen.

So sah er nicht, wie Magnus am ganzen Leib erzitterte, als die Tür krachend ins Schloss fiel.
Es tat ihm so unbeschreiblich leid, aber gleichzeitig hatte er endlich das gefunden, was er die ganze Zeit über gesucht hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top