Kapitel 3
Sie sah in Pauls hellbraune Augen auf. Einen Moment überlegte sie, ob sie Henrys Warnung ernst nehmen sollte. Doch ärgerte sich gleich darauf über sich selbst. Wenn Henry dort mit ihren Freundinnen saß, konnte sie zumindest mit Paul etwas quatschen. Nicht sie hatte darauf bestanden ihre Ruhe zu wollen, sondern Fabienne und nun kicherte sie mit Henry. Ihre Freundinnen hatten sich mit dem Feind verbündet. Warum sollte sie sich nicht mit Henrys Feind einlassen?
Wie sagte man doch so schön: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
„Na klar, Paul."
Sie setzte sich auf und machte Platz auf ihrer Matte für ihn. Vanessa spürte einen bohrenden Blick auf sich und wusste auch sofort wer sie anstarrte. Und dann schickte sie ein provozierendes Grinsen in Henrys Richtung. Seine Augenbrauen zogen sich noch mehr zusammen als ohnehin schon. Aus der Entfernung sah es so aus als wären seine Nasenlöcher aufgebläht vor Wut. Der Junge brauchte einen Aggressionsbewältigungskurs.
„Bist du auch so glücklich wie ich darüber auf den ungemütlichen Matten schlafen zu müssen?"
Irgendwie schaffte sie es einfach nicht den Blick von Henrys hasserfüllten Augen abzuwenden. Sie sah immer noch zu Henry als sie Paul antwortete.
„Ich kann die Genickstarre gar nicht erwarten. Aber warten wir mal ab, vielleicht kommen wir ja doch noch heute Abend hier raus."
„Das ist so gut wie ausgeschlossen. Der Sturm weht immer noch. Die werden erst Mal danach die Straße räumen müssen, bis sie an uns denken. Ich würde auf frühestens morgen um die Mittagszeit tippen."
„Kann gut sein", murmelte Vanessa und schaffte es endlich sich von Henry abzuwenden.
In der folgenden Stille grummelte ihr Magen plötzlich. Sie legte sich einen Arm um den Bauch und lachte kurz verlegen. Auch Paul stimmte in ihr Lachen ein.
„Hast du noch was zu essen dabei?" fragte er sie.
Kurz überlegte sie. Ihre Pizzaschnecke hatte sie schon in der Mittagspause verdrückt und ansonsten hatte sie nichts mitgenommen. Sie schüttelte den Kopf.
Paul stand auf und hielt ihr seine Hand hin. Mit gerunzelter Stirn sah sie zu ihm auf.
„Ich habe noch einen Müsliriegel in meiner Tasche. Kommst du mit oder soll ich ihn dir herbringen?"
„Oh, das ist nett von dir."
Vanessa ergriff seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Doch nachdem sie stand, ließ Paul sie nicht los, sondern zog sie hinter sich her in Richtung der Jungenumkleide. Über ihre Schulter sah sie noch, wie Henry ihnen nachstarrte und dabei war aufzuspringen.
In der Jungenumkleide angekommen, rümpfte sie die Nase. Testosteron und Deodorant lagen immer noch in der Luft, obwohl es schon eine Zeit her war, dass sich die Jungs umgezogen hatten.
Paul kramte in seiner Tasche und drückte ihr dann einen Müsliriegel in die Hand. Sie bedankte sich und seufzte leise auf als sie in den Riegel biss. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie hungrig sie wirklich war.
„Wenn du möchtest, kann ich dir auch meine Jacke borgen. Sollte der Strom ausfallen, wird es bestimmt eiskalt."
„Das ist sehr nett von dir, Paul. Aber die wirst du dann vermutlich selber brauchen. Ich habe doch eine Jacke und meine Sportsachen. Das muss reichen."
Vanessa schluckte den letzten Bissen hinunter und schmiss die Verpackung in den Mülleimer. Plötzlich war von draußen ein lauter Knall zu hören. Es kam nicht aus dem Turnsaal sondern aus dem Flur vor dem Ausgang.
„Kommst du mit nachsehen was das war?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich gehe noch kurz meine Wasserflasche auffüllen. Dann komme ich nach."
Paul nickte und verließ die Umkleide in Richtung des Ausgangs. Eigentlich war er ein netter Kerl. Nur Henry schien das anders zu sehen.
Vanessa ging durch den Turnsaal in die Mädchenumkleide. Mit der Trinkflasche in der Hand wartete sie, bis das Wasser aus dem Hahn kalt wurde. Eine Tür fiel zu und sie fragte sich, ob Lily oder Fabienne auch Durst hatten. Sie drehte sich um, aber niemand kam herein. Vielleicht hatte sie sich auch nur getäuscht.
Gierig trank sie ein paar Schlucke und drehte dann die Flasche wieder zu. Einen Augenblick betrachtete sie sich im Spiegel, aber schüttelte den Kopf. So schnell würde sie sich nicht einschüchtern lassen. Weder von Henry noch von ihren ehemaligen Freundinnen. Wenn sie sich gegen sie verbünden wollten, dann sollten sie das doch tun.
Sie wollte gerade wieder nach draußen gehen und auch nachsehen was im Korridor immer so laut knallte. Doch eine Hand packte sie am Oberarm.
„Was zur Hölle?"
Vanessa sah zu Henry auf, aber er zog sie einfach mit sich wieder zurück in die Toilette. Mit ihrem ganzen Körpergewicht versuchte sie sich dagegen zu stemmen. Aber obwohl sein Griff nicht fest war, half ihre Gegenwehr nichts.
„Lass mich los, Henry."
Er ignorierte sie und schloss die Tür hinter ihnen beiden. Nun war sie alleine mit Henry auf der Toilette eingesperrt. Seine Schlagader am Hals pulsierte. Also ging sie davon aus, dass er immer noch wütend war.
„Was soll das, Vanessa?"
„Das sollte ich wohl eher dich fragen. Bist du irre, dass du mich einfach hier rein schubst und dann die Tür zusperrst?"
„Sonst hörst du mir ja scheinbar nicht zu. Ich sage dir du sollst dich von Paul fernhalten und keine fünf Minuten später gehst du mit ihm allein in die Umkleide?"
„Er hat mir was zu essen gegeben", sagte sie und zuckte mit den Schultern.
„Klar, nimm nur Essen von dem Psycho an. Das ist sogar für dich eine geniale Idee."
„Der einzige Psycho, der mich gegen meinen Willen mit sich zusammen einsperrt bist du."
„Nur um mit dir in Ruhe zu reden. Bitte hör auf mich und lass dich nicht von ihm um den Finger wickeln."
„Schon gut. Ich passe auf."
„Wirklich?"
Im Moment würde sie alles sagen, damit Henry sie wieder hier rausließ. Seine breiten Schultern versperrten ihr sogar die Sicht auf die Tür. Wenn er sie nicht gehen ließ würde sie hier niemals rauskommen. Es sei denn...
„Was wenn ich schreie?"
„Was soll dann sein?"
„Nutz deine verkümmerten Gehirnzellen doch mal, Henry. Wie sieht das wohl aus wenn sich ein zwei Meter großer Typ wie du mit einem zierlichen Mädchen wie mir auf der Toilette einsperrt? Und dann weigerst du dich auch noch mich gehen zu lassen. Wie glaubst du würden unsere Lehrer von dieser Situation denken?"
Er knurrte aber drückte sie sanft an die Wand als wollte er seinen Worten damit mehr Nachdruck verleihen.
„Ich tue dir nichts. Und so wenig halte ich nicht von dir, dass du so etwas behauptetest wenn es nicht stimmt."
Während er sprach kam er ihrem Gesicht immer näher. Sein warmer Atem streifte ihre Wange. Sie schluckte hart, konnte sich aber auch nicht von ihm abwenden. Er sah zwischen ihren Augen hin und her und grinste dann.
„Außerdem würdest du doch freiwillig mitmachen."
Vanessa verdrehte die Augen.
„Träum weiter. Und beschäftig dich lieber weiter mit meinen Freundinnen."
Sein Grinsen wurde noch breiter.
„Sag bloß du bist eifersüchtig? Du kannst dich gerne auch zu mir setzten. Für dich werde ich schon etwas Zeit übrighaben."
Sie schnaufte frustriert.
„Lässt du mich jetzt, bitte wieder raus?"
Er hob beide Hände in die Höhe und ging beiseite, sodass sie zur Tür kam.
„Hey, du wolltest doch über mich herfallen."
Sie sperrte die Tür auf und stolperte nach draußen. In diesem Moment kamen Fabienne und Lily herein. Beide sahen sie aus großen Augen an, weil sie ihnen fast vor die Füße gefallen wäre.
„Was machst", setzte Lily an, aber ihre Augen wurden noch größer als Henry hinter ihr aus der Toilette trat.
Fabiennes Mund stand offen, aber trotzdem war sie die erste der beiden, die sich wieder fing.
„Stören wir bei irgendwas?"
„Er hat nur versucht mich einzuschüchtern."
„Erzähl das doch wem anders. Ihr flirtet die ganze Zeit und dann jammerst du uns damit voll, dass du ihn hasst. Und jetzt treibst du es mit ihm auf dem Klo wie so ein Flittchen. Obwohl du weißt das ich ihn mag. Ich bin fertig mit dir."
Fabienne stürmte aus der Umkleide und Lily folgte ihr. Am liebsten wäre sie ihnen nachgerannt, um ihnen noch einmal zu erklären was eigentlich vorgefallen war. Aber es war ihr zu blöd, jemandem nachzulaufen, der sich nicht ihre Seite der Geschichte anhören wollte. Vielleicht war sie auch ohne ihre Freundinnen besser dran.
Wieder hörte sie einen Knall von draußen. Dieses Mal ließ sie sich von niemandem aufhalten, sondern steckte ihren Kopf gleich aus der Tür. Eine Horde Jungs hatte sich vor dem einzigen Süßigkeitenautomat versammelt und einer nach dem anderen sprang dagegen.
„Was macht ihr da?"
„Der Automat ist kaputt. Wir springen dagegen damit etwas rausfällt."
„Hattet ihr dabei schon Erfolg?"
Vanessa wusste, dass das blöde Ding schon seit ein paar Wochen kaputt war, aber es war keine schlechte Idee, um zumindest irgendwie an Essen zu kommen. Tatsächlich hatte sie immer noch Hunger.
„Ein Kinder Bueno und ein Packung Chips sind schon rausgefallen. Aber Jakob hat sich dabei fast die Schulter ausgekegelt, darum wechseln wir uns jetzt ab mit dem dagegen springen."
„Könnte ich vielleicht auch etwas davon haben, wenn wieder was rausfällt? Ich habe ziemlichen Hunger."
„Lasst mich mal."
Henry drückte sich an ihr vorbei, wobei seine Schulter ihre streifte. Die anderen Jungs gingen beiseite und er sprang mit seiner Schulter dagegen. Doch nichts tat sich. Also probierte er es nochmal. Und tatsächlich fiel eine Tafel Schokolade fast aus dem Fach. Beim dritten Sprung fiel sie endlich runter. Henry bückte sich und nahm die Schokolade aus dem Fach. Grinsend drückte er sie ihr in die Hand.
„Danke", murmelte Vanessa leise.
Danach hatte sie sich das Spektakel rund um den Süßigkeitenautomaten lange genug angesehen. Mit der Tafel Schokolade in der Hand setzte sie sich wieder auf ihre Matte. Die würde sie noch verdrücken und dann ging sie schlafen. Vanessa hatte keine Lust mehr auf die Spielchen von ihren Freundinnen und schon gar nicht auf die Spielchen von Henry. Für heute hatten sie sie wirklich geschafft.
Außer den Lehrern war im Moment niemand im Turnsaal. Die Mädchen waren vermutlich in der Umkleide und die Jungs sprangen noch gegen den Automaten. So hatte sie zumindest ihre Ruhe. Als sie das letzte Stückchen Schokolade in sich reingestopft hatte, nahm sie noch einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
Dann faltete sie sich aus ihren Sportsachen einen Polster und deckte sich mit ihrem Wintermantel zu. Tatsächlich war es so ganz angenehm warm. Sie blieb so einige Minuten liegen und versuchte einzuschlafen. Aber so recht wollte es ihr nicht gelingen. Viel zu viele Fragen schwirrten noch in ihrem Kopf. Und auch wenn sie es sich ungern eingestand, war es hauptsächlich wegen Henry.
Auf einmal hörte sie wie die Stimmen ihrer Lehrer zunächst verstummten. Dann stöhnten sie genervt auf. Vanessa schlug die Augen auf. Doch sie war immer noch von Dunkelheit umgeben.
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