Kapitel 2

Das konnte doch nicht wahr sein. Am liebsten hätte sie alle beiseite geschupst und selber an der Tür gerüttelt. Aber Henry kam ihr zuvor und versuchte mit aller Kraft die Tür aufzudrücken. Allerdings ohne Erfolg.

„Ihr seht doch, was da draußen im Moment für ein Sturm wütet. Selbst wenn wir hier rauskommen wäre der Heimweg nicht sicher."

„Gibt's hier keinen Gott verdammten Notausgang?" rief Henry.

„Doch aber wie bereits gesagt, ist das Wetter so schlecht. Niemand von euch geht da raus", sagte Frau Raunig.

„Ich werde es probieren."

„Das können wir nicht erlauben. Wir müssen als eure Lehrer dafür sorgen, dass ihr alle sicher nach Hause kommt. Und im Moment ist es am sichersten, wenn wir einfach ein paar Stunden in der Turnhalle aushaaren, bis der Sturm vorübergezogen ist."

„Ein paar Stunden? Bis dahin sind wir hier komplett eingeschneit. Da fehlen vielleicht noch dreißig Zentimeter bis der Schnee auf Höhe der Tür liegt."

Henry stürmte an ihnen vorbei zurück in den Turnsaal. Die Lehrer folgten ihm auf den Fuß und versuchten ihm ins Gewissen zu reden. Auch ihre Mitschüler gingen wieder hinein. Nur sie selbst blieb vor dem Eingang unschlüssig stehen. Eigentlich hätte ihr Vater sie jetzt abholen sollen. Ob er wohl dort draußen auf sie wartete? Sie zog ihr Handy aus ihrer Tasche und sah, dass er bereits viermal versucht hatte sie zu erreichen. Sofort rief sie ihn zurück.

„Alles in Ordnung, Schatz?"

„Ja, alles gut Papa. Wir sind hier in der Turnhalle eingeschneit und kommen nicht raus. Aber ansonsten geht es uns allen gut."

„Dann bleibt am besten dort. Deine Stiefmutter und ich kommen bei dem Sturm im Moment auch nicht raus. Ich wollte mich nur erkundigen, ob du in Sicherheit bist und dir sagen, dass ich dich leider nicht abholen kann."

„Schon gut, Papa. Ich hab dich lieb. Wir sehen uns bald."

„Ich hab dich auch lieb."

Vanessa legte auf und seufzte. So hatte sie sich den Ferienbeginn eigentlich nicht vorgestellt, aber nun konnte sie auch nichts dagegen machen. Was sollte schon so schlimm daran sein ein paar Stunden hier zu warten, bis der Sturm vorbeigezogen war? Im schlimmsten Fall bis morgenfrüh. Außer, dass Henry auch hier war, machte es ihr nicht besonders viel aus. Wobei sich das Problem mit Henry vielleicht bereits von selbst gelöst hatte.

Sie ging wieder zu den anderen in den Turnsaal. Die Tür des Notausgangs war nach innen geöffnet und einiges an Schnee war herein gefallen. Vanessa legte zitternd die Arme um ihren Oberkörper und ließ sich neben ihre Freundinnen auf die Sitzbank nieder. Fabienne telefonierte gerade, aber Lily starrte nur auf den Notausgang. Scheinbar sprachlos von dem was hier alles vor sich ging.

„Ist der Idiot da wirklich rausgegangen?"

„Ja, die haben ihn zu viert dahinauf gehievt. Und die Lehrer sind schon am Durchdrehen, weil er noch nicht wieder zurück ist."

„Da draußen tobt ein Schneesturm. Selbst wenn er es bis zu seinem Auto schafft, kann er wohl kaum damit nach Hause fahren. Manchmal frage ich mich warum Männer so von sich selbst überzeugt sind. Die bringen sich selbst und andere nur in noch ausweglosere Situationen."

Fabienne hatte bereits ihr Telefonat beendet und starrte auf den Boden. Doch dann fuhr ihr Kopf in ihre Richtung.

„Schon mal darüber nachgedacht, dass wir ohne dich gar nicht hier festsitzen würden? Du bringst doch genauso blöde Aktionen wie manche Männer."

Woher kam das denn nun schon wieder? Fabienne stand auf und stürmte in die Umkleide.

„Ich sehe mal nach ihr", murmelte Lily.

Sie blieb alleine auf der Bank sitzen, lehnte ihren Kopf gegen die Sprossenwand und beobachtete wie die Jungs im Turnsaal auf und ab tigerten, während sie auf ein Lebenszeichen von Henry warteten.

„Hey."

Vanessa sah auf und blickte in Pauls hellbraune Augen. Er hatte sich in den vergangenen Monaten immer mal wieder mit ihr über den Unterrichtsstoff unterhalten, aber als Freund hätte sie ihn nicht bezeichnet. Vielleicht als guten Bekannten.

„Hi, alles klar?"

„Ja, geht so. Wäre jetzt eigentlich lieber auf dem Weg nach Hause."

„Das wären wir doch alle. Aber wir können nichts ändern im Moment. Auch wenn manche denken sie müssten im Alleingang hier rausmarschieren."

Paul räusperte sich.

„Darf ich dich etwas fragen?"

„Schieß los."

„Was habt du und Henry da am laufen?"

Vanessa hustete weil sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckte.

„Was soll da schon laufen?"

„Na, ihr stichelt euch immer gegenseitig an und mich würde interessieren, ob es dazu eine Hintergrundgeschichte gibt?"

Die gab es tatsächlich aber sie fühlte sich nicht dazu verpflichtet mit Paul darüber zu sprechen. Viel zu weit ging diese Geschichte in ihrer beiden Familiengeschichte zurück.

„Er hat wohl einfach etwas gegen mich und ich lasse das so nicht auf mir sitzen."

„Verstehe. Er ist ein Idiot wenn er so darauf herumreiten muss."

„Das ist er wirklich."

Plötzlich war ein Poltern zu hören. Vanessa drehte ihren Kopf in Richtung Notausgang und sah, wie Henry von Schnee umgeben auf dem Boden lag. Frau Raunig kniete sich sofort auf dem Boden und griff nach Henrys Hand. Auch Vanessa sprang auf, doch als sie sah, dass seine Augen offen waren, setzte sie sich langsam wieder hin.

„Er ist ganz durchnässt und braucht frische Kleidung. Macht die Tür endlich zu. Hier drin ist es mittlerweile auch eiskalt."

Jakob lief in die Jungenumkleide, um seinem Freund seine trockenem Sportsachen zu bringen, wie sie annahm.

„Ist es nicht rührend wie sich jetzt alle um ihn kümmern?"

Paul stand auf zwinkerte ihr zu und ging zu den anderen, die sich alle um Henry scharten. Sie mochte Paul. Er verstand, wie frustrierend es war denjenigen, der einen täglich fertigmachte dabei zuzusehen, wie er von allen anderen umschwärmt wurde. Im Moment verstand er sie vielleicht sogar besser als ihre eigenen Freundinnen. Wobei wo waren die zwei nochmal? Immer noch in der Umkleide?

Auch sie stand auf, um nach ihnen zu suchen. Fabienne saß mit angezogenen Beinen auf der Umkleidebank und redete leise auf Lily ein.

„Alles wieder in Ordnung?", fragte Vanessa vorsichtig. „Ich fange auch nicht wieder von Henry an versprochen."

„Schon gut. Ich brauche einfach etwas Zeit für mich. Manchmal ziehst du uns einfach mit in deine Probleme, ohne auch nur eine Sekunde an uns zu denken. Wenn wir hier jetzt schon eingesperrt sind, will ich wenigstens nicht die ganze Zeit aufeinander mit dir hocken."

„Du willst deine Ruhe vor mir?"

„Ich meine es nicht böse. Aber im Moment ja."

„Schon gut", sagte Vanessa mit bemüht fester Stimme.

„Und was ist mit dir, Lily? Siehst du es auch so? Brauchst du auch deine Ruhe vor mir?"

„Ich meine, du bist schon etwas besessen von Henry. Aber wir mögen dich trotzdem. Und ich bin trotzdem immer für dich da."

Das war in ihren Ohren ein eindeutiges ja. Sie hatte ihre Freundinnen so mit ihrem Gelaber über Henry genervt, dass sich beide von ihr distanzieren wollten. Zumindest den letzten Rest ihres Stolzes wollte sie sich bewahren und nicht um ihre Freundschaft betteln.

Sie waren in dieser verdammten Turnhalle eingesperrt und jetzt hatten auch noch ihre Freundinnen keinen Bock mehr auf sie. War sie wirklich ein so unausstehlicher Mensch? Vanessa hatte sich immer schon schwer damit getan Freunde zu finden und nie hatte sie gewusst woran es lag.

Im Turnsaal setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden. Mit ihren Zähnen knabberte sie an ihrem Daumennagel und lauschte den Worten ihrer Lehrer.

„Wir werden für heute ein Nachtlager aufschlagen müssen. Und weil es sein kann, dass wir von einem auf den anderen Moment hier im Dunkeln sitzen, sollten wir es so schnell wie möglich hinter uns bringen. Im Geräteraum sollten ausreichend Matten sein", erklärte Frau Raunig.

„Die Mädchen schlafen auf der linken Seite der Turnhalle. Die Jungs auf der rechten. So hat jeder Zugang zu den Umkleidekabinen und damit zu den Toiletten. Wir Lehrer legen unsere großen Matratzen in die Mitte des Turnsaals. Sollten wir jemanden von euch dabei erwischen, wie ihr in der Nacht versucht auf die andere Seite des Turnsaals zu gelangen wird das ernstzunehmende Konsequenzen für eure weitere Schullaufbahn haben. Wir sind in einer Ausnahmesituation bitte bemüht euch euer bestes Verhalten an den Tag zu legen", ergänzte Herr Rossmann.

„Ich hätte noch eine Frage", sagte Paul und hob die Hand.

„Was Paul?"

„Was verwenden wir als Bettzeug?"

„Na, herbei zaubern werden wir keines können. Schnappt euch eure Sportklamotten und deckt euch damit zu."

Vanessa beobachtete wie die Jungs sich aufmachten, um die Matten aus dem Geräteschuppen zu holen. Mit dem Wagen auf dem die Matten aufgestapelt waren, kamen sie dann angefahren und warfen drei Matten auf die linke Seite des Turnsaals. Weil sie nicht zu nah neben den anderen zwei Mädchen liegen wollte, zog sie ihre Matte noch ein paar Meter weiter weg und ließ sich dann mit dem Rücken darauf fallen.

Nicht besonders weich, aber vermutlich besser als auf dem Fußboden zu pennen. Die Matten der Lehrer waren deutlich dicker und weicher als ihre, aber von denen gab es nur zwei.

Sie starrte auf die Löcher an der Decke und betete, dass der Sturm bald vorbeizog und man sie befreite. Auch wenn es ihr zunächst nichts ausgemacht hatte, wollte sie nun doch nicht Stunden mit Lily und Fabienne hier drin verbringen, obwohl die zwei sie gar nicht mehr mochten.

„Was ist los, Borsas?"

Sie sah nicht zu Henry rüber, sondern starrte einfach weiter an die Decke.

„Was soll denn sein? Dachte du hast deinen Ausflug ins Kühle nicht überlebt."

„Das hättest du wohl gern. So leicht haut mich nichts um. Das Problem war eher, dass ich da draußen die Orientierung verloren habe. Aber wenn du es besser kannst, lasse ich es mir gerne von dir zeigen."

„Nicht jeder hat so ein unerschütterlich großes Ego wie du."

Endlich blickte sie ihm in die Augen. Er leckte sich die Lippen und schien noch etwas sagen zu wollen.

„Was willst du von Paul?"

Dieses Mal zog sie eine Augenbraue nach oben. Er hatte es mitbekommen, dass sie mit ihm gesprochen hatte?

„Wir haben uns nur unterhalten. Was interessiert es dich?"

„Du solltest dich von ihm fernhalten. Ist besser so."

„Wieso?"

„Weil ich es dir sage."

Vanessa keuchte. Weil er es ihr sagte? Für wen hielt er sich?

„Und du kannst beurteilen, wer ein guter Umgang für mich ist, oder wie?"

„Ich sage nicht, dass du dumm bist und nicht weißt wer ein guter Mensch ist. Sondern, dass ich in dem konkreten Fall mehr weiß als du. Halt dich fern."

„Danke für die Warnung. Ich bin mir sicher, du hast nur das Beste für mich im Sinn."

„Ich behalt dich im Auge."

Er drehte sich um und ging auf die andere Seite des Turnsaals. Für wen hielt er sich, dass er ihren Aufpasser spielen wollte? Was konnte er schon über Paul wissen, dass sie nicht wusste? Bestimmt wollte er sich nur wichtig machen.

Sie beobachtete wie Lily und Fabienne den Turnsaal betraten und sich zu Jungs setzten. Lily hielt ihren Blick kurz fest, wandte sich aber dann an Jakob und unterhielt sich mit ihm. Während Fabienne ihre Hand auf die Schulter von Henry legte und ihm etwas zu flüsterte, worüber er lachte. Solche Verräter. Sie hatte immer gewusst, dass Fabi auf Henry stand, aber dass sie ihre Freundin abservierte und dann wenig später mit Henry flirtete, war unverzeihlich.

Sie ließ sich wieder auf ihre Matte fallen und schloss die Augen.

„Darf ich mich zu dir setzten?"

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