Kapitel 1
"Die Gleichung löst sich nicht von allein, Frau Borsas."
Vanessas Kopf schnellte von ihrem Pult nach oben. Alle Blicke lagen auf ihr. Doch sie zog nur die Augenbrauen zusammen.
„Wie bitte?"
„Sie sollen nach vorne kommen und die Gleichung an der Tafel lösen", erklärte Frau Hermann, während sie mit der Kreide in der Luft herumfuchtelte.
Quietschend schob sie ihren Stuhl zurück und die Blicke ihrer Mitschüler richteten sich wieder auf ihre Bücher. Langsamen Schrittes schlürfte sie nach vorne. Dabei kaute sie auf ihrer Unterlippe. Wie war das nochmal mit den Gleichungen?
Genau, x auf eine Seite bringen und jede Rechnung auf beiden Seiten durchführen. Nur was war dann nochmal mit den Klammern?
Zögerlich nahm sie die Kreide aus der Hand ihrer Lehrerin und begann die Gleichung umzuformen. Nach nur einer Zeile sah sie aus dem Augenwinkel wie Frau Hermann die Hand hob.
„Da hat sich leider schon ein Fehler eingeschlichen. Henry, kommst du bitte nach vorne?"
Vanessa hörte wie ein weiterer Stuhl zurück geschoben wurde. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder in Richtung ihres Sitzplatzes. Auf halber Strecke kam ihr Henry entgegen und streckte die Hand nach der Kreide aus.
„Wenn dir Unterstufen Mathematik nicht liegt, bleibt immer noch ein Job als Putze", flüsterte er mit einem Grinsen auf den Lippen.
Augenblicklich knirschte sie mit den Zähnen. Ohne ihn zu berühren, ließ sie die Kreide in seine Handfläche fallen.
„Dafür, dass deine Mutter jahrelang als Putzfrau gearbeitet hat, spuckst du ganz schön große Töne."
Seine Miene verfinsterte sich.
„Wird das heute noch was mit der Gleichung?"
Anstatt ihr Konter zu geben, rempelte er sie im Vorbeigehen leicht an der Schulter an. Vanessa verdrehte die Augen und setzte sich wieder neben ihre Freundin Fabienne. Diese reckte ihren Hals von einer Seite auf die andere um hinter Henrys breitem Rücken einen Blick auf das Ergebnis erhaschen zu können.
„Er sieht heute wieder so gut aus", meinte sie schließlich seufzend.
Auch Vanessa musterte ihn nochmal kurz. Raspel kurze braune Haare, gebräunte Haut, und blaue Augen. Wenn er sie nicht jedes Mal reizen würde, wenn sie sich unterhielten, hätte sie Fabienne vielleicht zu gestimmt. Aber so war er nur ein weiterer Grund, warum ihr die Schule Pickel bescherte.
„Er ist ein Arsch."
„Sind sie doch alle in dem Alter manchmal."
Wo sie recht hatte... Die restliche Stunde über beobachtete Vanessa nachdenklich die immer schneller fallenden Schneeflocken. Gestern hatte es bereits einen halben Meter geschneit und heute waren nochmal gut zwanzig Zentimeter hinzugekommen. Ziemlich weiße Weihnachtsferien würden das dieses Jahr werden.
Es klingelte und sie packte ihre Schulunterlagen zusammen. Nur noch zwei Stunden Sportunterricht trennten sie von den Ferien. Sie wusste, dass einige Schüler den Sportunterricht schwänzen würden. Und zugegebener Maßen hatte auch sie diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Nur hatte sie in den vergangen Monaten schon viel zu oft „Periodenkrämpfe" gehabt, als das ihre Lehrerin ihr das noch einmal abkaufen würde.
Vanessa hängte sich ihre Tasche über die Schulter, während sie darauf wartete, dass auch ihre Freundinnen ihre Sachen zusammengesucht hatten.
„Was meinst du wer heute überhaupt zum Sport kommt?", fragte Lily und schmiss ihre langen blonden Haare über die Schulter.
„Keine Ahnung, kann mir auch vorstellen, dass wir die einzigen sind, die heute nicht blau machen."
„Stimmt, aber unsere Vanessa musste ja so tun als hätte sie drei Wochen im Monat ihre Tage", sagte Fabi und schickte ihr einen gespielt bösen Blick.
„Wer hätte denn damit rechen können, dass sie sich das so genau aufschreibt?"
„Ich hätte damit gerechnet."
„Ich auch."
„Schon gut. Schon gut. War eine dumme Aktion. Danke, dass ihr mir heute dabei wenigstens beisteht."
Gemeinsam gingen sie die Gänge entlang in Richtung Turnhalle. Überall drängten sich Schüler an ihnen vorbei, die nur noch so schnell wie möglich aus der Schule verschwinden wollten. Lily hielt ihr die Tür nach draußen auf. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Weg von der Schule zur Turnhalle frei zu schaufeln und so stapften sie durch den Schnee zum Eingang der Turnhalle. Fabienne zog an der Tür, doch schaffte es wegen der Schneemassen davor nur diese gerade soweit aufzumachen, dass sie nacheinander hineinschlüpfen konnten.
„Sogar der Schulwart hat schon Weihnachtsferien."
Vanessa lachte über Lilys Kommentar. Das würden ihre Freundinnen ihr wohl noch eine Weile vorhalten, dass sie wegen ihr noch nicht schulfrei hatten.
Sie betraten die Umkleidekabine und wie bereits erwartet, war diese leer. Scheinbar war sie wirklich die einzige Idiotin, die sich keine Fehlstunden leisten konnte.
Fertig angezogen ließen sie sich in der Turnhalle auf eine der Bänke nieder und warteten auf Frau Raunig. Diese watschelte nur kurz darauf mit ihrem Klemmbrett unter dem Arm herein. Als sie die drei Mädchen auf der Bank sitzen saß, runzelte sie die Stirn.
„Ist das für heute meine ganze Klasse?"
„Denke schon", sagte Vanessa und plötzlich war sie froh doch gekommen zu sein.
Ohne sie wäre ihre Lehrerin heute alleine dagestanden.
„Na gut, dann lauft euch doch schon mal etwas warm. Ich überlege mir inzwischen etwas, dass wir zu viert spielen können."
Vanessa nahm das Haarband von ihrem Handgelenk und band ihre schulterlangen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz. Langsam joggten die drei Freundinnen nebeneinander her.
„Glaubt ihr sie lässt uns wenigstens früher gehen? Bringt doch nichts wenn wir allein hier rumlaufen."
„Denke nicht. Sie wird mit uns wahrscheinlich die ganzen zwei Stunden absitzen wollen."
Sie waren erst eine Runde gelaufen als die Tür zur Turnhalle aufging. Henry und hinter ihm eine ganze Horde Jungs aus ihrer Klasse kamen herein.
„Was macht ihr denn hier?" entfuhr es Fabi entgeistert.
„Na, wir haben Sportunterricht was denkst du denn?" schoss Henry zurück.
Alle Jungs sahen sie an als wäre sie auf den Kopf gefallen. Fabi wurde unwillkürlich rot und wandte den Blick Richtung Boden. Auch Vanessa hätte diese Frage gestellt, wäre Fabi ihr nicht zuvorgekommen. Obwohl sie regelmäßig mit den Jungs turnten, weil es in ihrer Schule nur diesen einen großen Turnsaal gab, hätte sie nicht gedacht, dass sie heute auftauchen würden.
„Sie meint, weshalb ihr die letzten beiden Sportstunden vor Weihnachten nicht schwänzt so wie es jeder normale Mensch machen würde?"
„Kleine, nicht jeder drückt sich vor dem Sportunterricht wegen ein paar Blähungen so wie du."
Vanessa merkte, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Das hatte er gerade nicht gesagt? Ihr Blick wanderte zu den Jungs neben ihm, die mit verzehrten Gesichtszügen und rotangelaufenen Köpfen ein Lachen zurückzuhalten versuchten. Hinter den Jungs klatschte ihr Trainer so laut in die Hände, dass Vanessa zusammen zuckte.
„Na los, lauft euch warm. Worauf wartet ihr?"
Die Jungs liefen vor ihnen und auch die drei Freundinnen joggten wieder los. Die ganze Zeit ruhte Vanessas Blick auf Henrys Rücken. Wie konnte er es wagen sie so bloß zu stellen? Er hielt sich für den Größten dabei war er nur ein großer Fisch in einem kleinen Teich. Niemand würde sich für ihn interessieren, wenn sie nicht in diesem Kaff leben würden. Hier in Kose sahen die Jungs zu ihm auf und die Mädchen himmelten ihn an. Alles nur weil er ein Schönling mit einem ausgeprägten Gottkomplex war.
„Bist du dann damit fertig ihn mit deinen Blicken zu erdolchen?" fragte Lily keuchend.
„Solange er nicht tot umgefallen ist, bin ich noch nicht mit ihm fertig. Vielleicht sollte ich in meinem Keller mal nach ein paar alten Kinderfotos von ihm suchen. Da ist bestimmt etwas peinliches dabei, womit ich ihn bloßstellen kann."
„Willst du dich wirklich auf sein Niveau herunter bewegen? Ich beobachte diese Hänseleien zwischen euch jetzt schon seit ein paar Monaten und befürchte, dass es noch eskalieren wird."
„Wie soll es denn noch mehr eskalieren? Will er mir vor allen die Hose runterziehen? Ich dachte, dass ich mich ausreichend gegen seine Sprüche gewehrt habe, aber vielleicht sind jetzt andere Mittel angebracht."
„Dann jammere aber nicht uns voll, wenn es schief laufen sollte", meinte Fabienne schließlich.
Alle Schüler setzten sich in einem Halbkreis zusammen und warteten darauf, dass ihre Lehrer ihnen sagten was sie in den letzten zwei Stunden noch machen würden. Vanessa versuchte Henry nicht mehr anzusehen. Auf eine weitere Konfrontation konnte sie im Moment gut verzichten.
„Wir haben uns dazu entschieden, dass wir heute ein paar Ballspiele spielen", meinte Herr Rossmann. „Henry und Jakob ihr wählt eure Teamkameraden wir spielen Völkerball."
War ja klar. Vanessa rollte mit den Augen. Nun würde sie bestimmt als letzte gewählt werden. Jakob war Henrys bester Freund und hatte sich mit ihm gegen sie verschworen. Warum auch immer.
Schnell zählte sie wie viele ihrer Mitschüler da waren. 15. Eine ungerade Zahl damit war für sie schon klar, dass sie übrigbleiben würde.
„Wer fängt an?"
„Mach du."
Henry rieb sich die Hände und sah auf sie herunter.
„Vanessa."
Ihr Mund klappte auf.
„Was?"
„Hörst du schlecht? Du sollst deinen Arsch in mein Team bewegen."
„Nein."
„Wie nein?"
„Ich will nicht in dein Team, frag wen anders."
„Alles klar dann nehme ich Fabi."
Vanessa funkelte ihn mit einem wütenden Blick an. Das machte er doch nur um sie noch mehr aufzuregen. Er wusste, dass Fabienne ihn seit langem anhimmelte.
„Ich nehme Vanessa."
Sie stand auf und stellte sich neben Jakob. Weshalb auch immer die beiden sich dazu entschieden hatten sie zuerst auszuwählen zumindest würde sie nicht übrigbleiben. Dann teilten sich die Jungs auf die zwei Mannschaften auf. Lily kam noch zu ihr ins Team.
„Paul du bist der letzte komm noch zu uns ins Team", rief Henry.
Jakob zuckte nur mit den Schultern, weil es ihm nichts auszumachen schien, dass sie eine Person weniger waren. Die beiden Mannschaften stellten sich in ihr jeweiliges Feld. Frau Raunig schmiss den Ball Jakob zu und pfiff das Spiel an. Er ergriff die Gelegenheit und pfefferte den Ball in Henrys Richtung. Dieser redete eigentlich gerade mit Fabienne, aber fing den Ball trotzdem mit einer Hand. Er blickte in ihre Richtung und grinste sie an. Langsam ging er bis zu Linie vor. Vanessa hielt die Hände nach oben um den Ball abzufangen, aber er erwischte sie direkt in den Magen. Entgegen ihrer Erwartung hatte er nicht all seine Kraft in den Schuss gelegt.
Sie ging auf die Seite ihrer Gegner und wartete darauf, dass ihr jemand den Ball zu spielte. Wenn sie schon draußen war, konnte sie zumindest dafür sorgen, dass Henry das gleiche Schicksal ereilte. Jakob spielte ihr den Ball zu und sie schoss sofort auf Henry. Erneut fing er den Ball mit einer Hand und traf jemanden aus ihrem Team. Dann stellte er sich so nahe wie möglich zu ihr an die Seitenlinie.
„Weißt du vielleicht sollten wir unser Kriegsbeil begraben. Schön langsam wird es langweilig immer die Oberhand über dich zu haben."
„Kannst du vergessen."
Vor allem nach seinem Spruch von vorhin hatte sie keine Lust mit ihm zu quatschen. Er wollte sie bestimmt nur noch mehr reizen.
„Aber vergiss nicht, dass ich dir angeboten habe Frieden zu schließen. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss noch den Rest deiner Mannschaft zu dir befördern."
Er zwinkerte ihr zu und widmete sich dann wieder dem Spiel. Ihre Mannschaft verlor drei Mal hintereinander. Plötzlich wusste Vanessa wieder, weshalb sie sich so gerne vor dem Sportunterricht drückte. Sie konnte gut darauf verzichten in jedem Spiel von Henry fertig gemacht zu werden.
„So Kinder wir haben nur noch zehn Minuten übrig. Ihr könnt euch bereits umziehen gehen. Falls wir uns auf dem Weg nach draußen nicht mehr sehen, wünschen Frau Raunig und ich euch schöne Weihnachten und ein frohes neues Jahr."
Auch die Schüler wünschten ihren Lehrern eine besinnliche Zeit und verschwanden dann in der Jungen- und Mädchenumkleide.
„Heute hätte Henry ja wohl mal einfach seinen Mund halten können. Was hat er eigentlich zu dir gesagt Fabienne als ihr vorhin geredet habt?"
„Er meinte nur, dass Ihm meine neue Frisur gefällt"
„So ein Idiot. Der will sich nur bei dir einschleimen um mir eins auszuwischen."
Fabienne wendete sich von ihr ab.
„Ja, wer könnte den schon glauben das mir jemand, den ich attraktiv finde, ein Kompliment macht."
Vanessa wusste, dass Fabienne seit längerer Zeit damit Probleme hatte sich in ihrem Körper wohlzufühlen. Einmal dachte sie sie wäre zu dick. Dann plante sie eine Nasenoperation weil ihr der Höcker darauf nicht gefiel. Keinesfalls wollte Vanessa diese Unsicherheiten noch weiter befeuern mit ihrer Aussage.
„So meinte ich das nicht..."
„Ich weiß genau wie du es meintest. Die Welt dreht sich nicht nur um dich Vanessa und dieses dämliche Spiel, das zwischen dir und Henry läuft,-", sagte Fabi und funkelte sie dabei an.
„Was habt ihr eigentlich über die Ferien vor?" fragte Lily und versuchte damit zwischen ihren aufkeimenden Streit zu grätschen.
„Das übliche", erwiderte Vanessa. „Wir fahren zu meinen Großeltern und feiern mit meiner Tante und den Kindern dort. Meine Stiefmutter wird sich dieses Mal hoffentlich besser benehmen als letztes Jahr."
Fabienne und Lily waren bereits fertig angezogen und auch sie streifte sich nur noch kurz ihren weißen Wollpullover über.
„Wir feiern nur zu dritt mit meinen Eltern. Vielleicht gehen wir aber zumindest Ski fahren in den Ferien."
„Und du Lily?" fragte Vanessa und hielt ihren Freundinnen beim Verlassen der Umkleide die Tür auf.
„Wir hatten ja eigentlich vor wegzufliegen. Aber daraus wird nichts, weil mein Vater nächste Woche doch geschäftliche Termine hier hat. Aber meine Mutter meinte, dass wir zumindest die Familie einladen und bei uns zuhause groß auftischen werden."
„Das hört sich doch schön an."
Die Drei gingen Richtung Ausgang. Doch vor der Tür standen alle Jungs und auch ihre beiden Lehrer schienen noch auf irgendetwas zu warten, ehe sie die Turnhalle verließen. Wild sprachen alle durcheinander aber sie konnte dem ganzen nicht folgen.
„Was ist los?" fragte Fabienne.
„Die Tür geht nicht auf. Wir sind eingeschneit."
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