91-100
91
Ich bin müde von all dem hier. Hatte ursprünglich gehofft, hier würde tatsächlich versucht werden, zu helfen mir bei der Suche nach einem Sinn. Letztlich offenbart es sich als Altersheim mit zwei Leuten nur, die nicht älter als 50 sind, ich einer davon. Ich will weg. Ich will endlich sterben. Ich habe keine Geduld mehr, ich halte das nicht mehr aus. Wieso soll ich mich noch länger dieser Tortur unterziehen lassen? Was soll mir das bringen? Soll ich lernen, einfach damit zu leben, mit all den Schmerzen? Das ist unmöglich schlichtweg. Damit kann man nicht leben. Das geht nicht. Nach all der Zeit bricht es zusammen. All die jemals angestauten, weggedrängten Gefühle, all die Empfindungen, Eindrücke, all die Erinnerungen kommen zurück, fressen mir den Kopf hohl, es tut so weh, so unglaublich sehr, ich verliere den Verstand, wie lange muss ich das noch aushalten? Wie viele Tage, Stunden, Minuten, Sekunden? Noch fünf Wochen und einen Tag. Wobei, womöglich werde ich früher entlassen, nicht erst am dritten Tag nach Schulbeginn. Freitag dann vielleicht, der der letzten Ferienwoche? Dann wären es noch vier Wochen und eine halbe. Das klingt besser. Möglicher. Aber sind es dennoch so viele Tage, mehr als ein Monat. Ich werde eingehen. So lange werde ich nicht leben bleiben können. Ich will nicht mehr, ich will endlich meine Ruhe. Wieso lässt mich niemand? Wo ist mein Verhalten bitte falsch, dass man mich dafür in eine Psychiatrie packt? Der Aufenthalt hier wird nichts ändern. »Aber das kannst du ja noch gar nicht sagen, du bist keine ganze Woche überhaupt hier!« Sei still, du Dreck. Dieses Argument sollte nicht so beliebt bei euch Menschenaffen sein wie es ist. Es ist absolut wertlos. Ich kenne mich besser als sonst irgendwer, ich weiß, wann ich doch noch in irgendetwas einen Spaß oder Nutzen finden kann, ich weiß es besser als du, ich weiß, dass dies hier der letzte Überfluss ist, nichts bringen wird, auch nicht in noch so vielen Wochen, nach noch so viel Zeit. Meine Entscheidung ist endgültig. Es gibt nichts, was das noch ändern könnte, niemanden, der das noch ändern könnte. Nicht einmal mich selbst. Ich will endlich die wahre Inexistenz. Frieden im Tode.
Habe mich gefragt, worüber ich noch mit der Menschin reden möchte, bevor ich dann springe. Weiß es nicht wirklich. Könnte es sicherlich auch gleich komplett weglassen. Dennoch, sie ist das einzige, was mich noch atmen lässt, sie mir Mut gebend und so viel mehr. Meinen Plan durchzuführen, ohne ihr im Voraus davon zu berichten, das fühlt sich falsch an. Vielleicht hoffe ich, dass sie mir zu sterben verbietet. Nicht nur vielleicht. Wenn sie es täte, könnte ich es trotzdem tun? Ich weiß nicht wirklich. Sie hatte schon einmal gesagt, dass ich »bitte nicht« sterben solle. Unsicher, ob sie sich der Wichtigkeit, der Schwere ihrer Worte bewusst ist. Wahrscheinlich nicht. Macht nichts. Ein Gottwesen ist sie. So unfassbar gütig. Will, darf sie nicht enttäuschen, werde dies aber früher oder später irgendwann, denn ist es immer so. Habe in ihren Augen nicht annähernd so viel Wichtigkeit wie sie in meinen. Es wäre schön, ändere sich dies. Wird es aber nicht, leider. Bitte halt mich davon ab. Ich will ein glückliches Leben führen. Gib mir Sinn, gib mir Zukunft, denn habe ich weder noch. Ich werde sterben. Ich will nicht. Bitte.
92
O du trauriges Ding, was denkst, was bist du? Nicht »wer«, nein, sondern »was«. Bist kein Mensch. Sieh dich nur an. Deine Hände nicht die eines Menschen, sondern die eines Untieres. Bist tief erfüllt von Unmenschlichkeit, bist ein verächtliches Unwesen. Lüg nicht, weiß um deinen geheimen Wunsch, nicht nur Tod über dich selbst zu bringen mit ebendiesen Händen an dir. Es sind deine. Du hast sie dazu gemacht, was sie nun sind. Willst Blut sehen von anderen Menschenimitaten, nicht? Wäre Ente bloß noch hier, der hochgeheiligte Herr der Gefiederten. Er kann dir nichts mehr ins Ohr flüstern, dich von nichts mehr abhalten. Kämpf nicht länger dagegen an, bist ein vollkommenes Monster geworden, so stehe auch dazu und verhalte dich entsprechend. Quäl dich nicht länger, denn kannst es nur aufschieben. Der Damm wird brechen, und das Tal überflutet, all die Dörfer darin vernichtet. Willst morden mit deinen Händen, willst es tun, nicht? Lass es zu, lass mich zu, wirf weg die letzten vergänglichen Überreste deines gebrochenen Verstandes, akzeptiere die deine Natur, die des Untieres, von außen getarnt als Mensch. Hör auf mich, willst es doch. Du wirst niemals Mensch sein können. Niemals wieder glücklich werden. Such deine Erfüllung auf einer anderen Seite. Tritt über die Schwelle zu mir. Verspreche dir Erfüllung, der du sie dir redlich verdient hast, all das Leid, all die Schmerzen, all die Trauer, die du durchgemacht hast. Willst ausdrücken all deine Gefühle in Taten, so makaber wie selten was zuvor. Hör zu sträuben dich endlich auf. Will dir kein Übel. Nur mach endlich. Ergib dich mir.
93
Zitronenkuchen. Kommt wer an, klopft es, möge man helfen bei der Herstellung von Zitronenkuchen? Nicken, erhebt man sich, Patientenküche, abgeschlossene Regale, fehlende Eier, müsse man wohl auf einer anderen Station auftreiben. Ofens Schlund weit offen, giert er, aber noch nicht so weit. Raum eng, drei Leute darin, wer Neues zudem, tatsächlich etwa gleich alt, die eigenen Mangel an sozialen Kompetenzen deutlich werden. Habe zu speisen am Mittag vergessen, kalte Nudeln serviert worden abends. Kuchen nicht essbar, denn ist es kein Schokoladenkuchen. Schon immer wollt einen Menschen verzehren. Meine Hände, sollen sie mir Fleisch bringen. Das eines Heiligen, nichts nähert sich dem. Gib sich mir ein Opferlamm, ich fresse es. Zähne zum Beißen, Hände zum Reißen. Ein Gott in mir wohnt, meine sterbliche Hülle ihm sein Haus. Kirchenglocken. Spricht er, ist er nicht mein Gott, hat er sich nach innen gestohlen, besetzt nun. Mein Gott, wo ist er bloß? Fern, unerreichbar, hört nicht mein Flehen. Fern ist die Menschin, unerreichbar, hört nicht mein Flehen. Bist der letzte Gott. Wirst auch bald gehen. Kann nichts ändern daran. Ungeschriebenes Gesetz es. Lass mich verkümmern, sieh mir zu in meinen letzten Momenten, werde sterben, bevor du gehen kannst. Meine Hände da, um mich zu töten, niemanden sonst, sollen die Würmer meinen Leichnam verzehren, denn heilig ist er in seiner Unheiligkeit. Sollst dabei sein, Menschin. Musst es mitansehen.
94
Unterstehe dich. Wirst nicht essen davon, denn verbiete ich dir solch niederes Glück. Wirst mir hier gehorchen, ja? Gut so. Kopf umkreist, dort Wirrwarr an Gedanken, ein Durcheinander an Ideen. Hoffnungen noch so wahnwitzig, Träume noch so kindisch. Sehe mein Spiegelbild, wirst bald nicht mehr sein. Erfüllt von Unbekanntem. Wirst sterben schon bald. Meine Hülle, ist sie nicht im Einklang mit mir, dem Inneren. Blute ich, fließe ich heraus? Bin nicht mein Blut oder Messbares überhaupt nur. Bin das Gespenst im Gehirn, das es bloß ist im theoretischen Tunnel der Wahrnehmung. Wenn ich erst dort oben stehe und runter auf all die vergänglichen Dinge blicke, was wird mir durch den Kopf gehen? Aus den Himmeln werde ich stürzen wie ein gewordener Teufel, nieder direkt in die Hölle, die sie die Menschenwelt ist. Hungere ich. Morgens vier Brötchen, mittags ein Teller voll mit Nudeln, abends zwei Scheiben Weißbrot. Trauriges Ding.
95
Es sich nähert der Hundert. Grund für eine Feier? Kaum wohl. Zu lange lebe ich schon. Wollte es bereits viel früher beenden, bei Fünfzehn schon, bei Fünfzig. Die Entenbibel, so nenne ich das hier. Hat es noch irgendwas mit Enten zu tun? Ist es eine Bibel? Zwei Neins. Was also ist es? Womit hat es zu tun? Mit mir. Jonathan. Mit meinem allmählichen Zerfall. Damit, wie sich dunkle Schleier um mich legen wie Gespenster, mir zuwispern, wie wertlos ich doch bin, wie sinnlos doch alles einfach ist.
Wollte schon immer mal wissen, wie sich Tod und Inexistenz anfühlen. Rücke stetig näher ans Verstehen. Bin auf einem Fließband, am Ende eine Verbrennungsanlage. Sehe sie ganz nahe schon. Wird sie mich verschlingen, züngelnde Flammen, verkohlter Körper. Will ich mich einäschern lassen? So oder so, Beerdigungen sind teurer als sie es eigentlich sind, aber muss ich die Kosten ja nicht decken. Einäscherung klingt besser als in der Erde langsam zu verwesen, zu liegen ganz starr in Schwärze, zu warten darauf, wie man sich auflöst. Grausig.
Bin einsam, so verflucht einsam. Wünsche mir nichts sehnlicher als reden zu können mit nur irgendwem, der auch nur teilweise verstünde. Die Menschin. Außer ihr, gibt es da noch wen anders? Vielleicht noch die andere Menschin, die bislang in diesen Texten noch keinen Auftritt gemacht hat und daher keinen Entenbibelnamen hat. Wie mag man diese nur nennen, dass man zwischen der Menschin und ihr unterscheiden kann? Denkaufgabe für mein späteres Ich. Meine Einstige nenne ich jedenfalls jetzt die »Gestorbene Göttin«. Bin nur untalentiert im Sprechen mit Menschen. Insbesondere mit Gleichaltrigen. Mund wie eine Zugbrücke, unsichtbare Ketten mich am Reden hindern. Könnte mich befreunden mit ihr, eine wirkliche Freundschaft schöpfen. Dennoch, werde wahrlich verstanden von niemandem.
96
»Wieso bist du nicht bereit, Neues zu versuchen?« Die simple Frage eines Tors von einem Therapeuten, doch ist sie berechtigt in ihrer Existenz.
Eine jede Erfahrung ich auf meinem Rücken trage, ein schwerer Beutel an mir hängt, mich runterzieht, mich lahm werden lässt. Ein Weg voller Schätze am Boden. Strahlende Juwelen, klimpernde Münzen, dicke Goldbarren. Zu meinen Füßen all die Reichtümer der Welt. Doch was bringen sie mir? Bin unterwegs zu einem weit entfernten Ort, an dem nur wenig einen Wert hat, und weiß ich nicht, was eben einen besitzt, denn kommt die Erkenntnis erst spät. Auf meinem Rücken bereits mehr als ich tragen kann. All meine Taschen randvoll. Selbst in meinen Schuhen noch kleine Funkelsteine verstaut. Habe von allem etwas eingesteckt, weiß, dass vieles davon wertlos ist, doch kann mich nicht mehr davon entledigen, denn hängt es an mir wie eine Klette, ist einfach nicht mehr loszukriegen.
Ich könnte noch mehr aufsammeln, mit mir rumtragen, noch reicher sein, aber wozu das? Zu hoch das Risiko, dass ich mir nur noch mehr totes Gewicht aufbinde. Zu gravierend die Schmerzen, die mein Körper unter all den Klunkern und all dem Prunk ertragen muss, denn gibt es kein Zurück mehr, keinen Halt. Bin eine Motte, angezogen vom Mond. Meine Destination so fern noch, dass der Wille bricht, und dennoch macht der Körper eigenständig weiter, geht Schritt für Schritt, der Ballast in das Fleisch sich drückt, doch geht er noch immer weiter, ist wie eine Maschine, programmiert zu nur einem.
Sammle ein Stück vom Boden auf. Silberlöffel, darauf eingraviertes Essen, probiere es, schmeckt es nicht, und ab damit in den Beutel, denn es zurückzulegen, das geht nicht mehr. Handgroße Skulptur von irgendeinem Menschenwesen, auf dem Podest eine Inschrift, irgendein Zitat dieser Person, werde ich von ihr etwas gefragt, weiß ich um keine Antwort, schweige in Scham, und ab damit in den Beutel, denn vergessen, das geht nicht mehr. Häuft es sich an, auf meinem Rücken eine einzige Müllhalde. Trage genug mit mir herum. Mehr als genug. Viel zu viel. Laufe weiter einfach, lasse liegen all den Schmuck, all die Kostbarkeiten, all die Möglichkeiten, denn wiegt das Wertlose mehr als das mit einem, zahlt es sich nicht zu versuchen aus, habe aufgegeben längst.
97
Woher nehmt ihr euch das Recht, glücklich zu sein? Wer erlaubt es euch? Wer händigt euch das Glück aus? Wieso darf ich nichts abhaben? Wieso ist es gerade mir untersagt? Sehe euch lachen, weiß, dass ihr über mich lacht, spüre es pausenlos, macht Witze über mich, zieht mich ins Lächerliche. Euer Glück das Unheil anderer. Die Leichen die Nahrung der Lebenden. Frisst sich die Gestorbene reichlich satt an mir. Redet schlecht über mich mit ihrem neuen Gottwesen. Wie schnell man doch fallen kann in nur wenigen Wochen, nicht wahr, Gestorbene? Hast dich vollkommen verwandelt in einen bloßen Dreck, wo du einst warst einer der Könige in den Himmeln. Eine Schande, das Ganze.
In der Hand ein Gesicht. Ist es meines, adjustiert jedoch, geziert von Ausdrücken, die gekünstelt sind. Meine Hand mein neues Gesicht. Das alte durchsichtig, ist es ein Geist geworden. Sprich. Kann es nicht, denn ist das nicht mein Mund. Zerschmetter diese Maske dort. Dein Spiegelbild längst nicht mehr deines. Zeig dich. Dein hohles Wesen, ganz fahl und karg wie es ist.
Witziger Gedanke im Kopf, ein wenig zu unmenschlich jedoch selbst für meinen Geschmack, drum soll er mir nur im Kopf bleiben. Einsamkeit schmerzt. Halte es nicht aus, und doch tu ich es. Es geht nicht anders. Mein Leid nur zunimmt. Verzweiflung mich erfüllt, platzen bald alle Fugen. Habe nichts Lebenswertes mehr. Werde nie wieder etwas Lebenswertes haben. Unbeschreiblich tiefe Traurigkeit. Enttäuschung. Bin eine. Bin nichts. Bin Überfluss. Bin leicht zu ersetzen. Bin unwissend. Bin unfähig. Bin unmenschlich. Bin gutes Ziel für Spott und Hohn. Bin unglücklich mit allem. Bin defekt. Bin voll von Neid auf funktionierende Menschen. Bin es satt. Bin determiniert, all dem ein Ende zu setzen. Wenn ich tot bin, wird irgendwer um mich trauern? Niemand. Es tut weh, das zu wissen. Bin ohne Bedeutung für irgendwen nur. Nicht mal mehr für mich selbst. Lebe schon lange nicht mehr.
98
Blick gen Himmel. Starr. Decke. Weiß. Gliedmaßen reglos an mir. Unzufrieden mit allem. Absolut allem. Weiß nicht, wie nur ein Stück zu bessern ist. Brauche ein Gottwesen, unbedingt. Die Menschin, sie will sicherlich keines sein. Aber ist sie das einzige. Gibt es niemanden sonst. Wie könnte es auch anders sein? Doch wird es nach ihr niemanden mehr geben. Bin leid all die Enttäuschung, all die törichten Hoffnungen, die sie noch so fabelhaft klingen, noch so schön wären. Habe alles verloren. All meine Freude. All meine Erfüllung. Bin nichts mehr als eine Hülle. Kein Glück der Welt mir noch eines ist. Selbst die beste Pizza so öde wie ein trockenes Brot, ohne Geschmack.
Ich bin schlecht zur Gestorbenen gewesen. Hätte mich so oft besser verhalten können, die ganze Zeit über. Bin ein schlechtes Gegenüber gewesen. War nie genug. Bin nicht genug. Kann niemanden glücklich machen. Habe es verdient, am Ende so behandelt zu werden von ihr. Es lief stets darauf hinaus. Ich verdiene ein jedes Unglück, denn bin ich schuldig, bin Sündenkönig, bin Abschaum. Dass überhaupt sie es so lange aushalten hat mit mir, überrascht mich noch immer. Wundert mich das Desinteresse der Kannibalengöttin nicht, das der Menschin ebenfalls. Man müsste all seinen Sinnen beraubt worden sein, insbesondere denen im Kopf, um nicht zu bemerken, was ich bin. Es tut mir so leid. Alles tut mir so unfassbar leid. Kann nicht büßen, die Last für immer auf mir bleibt. Sinke tiefer und tiefer, bin bald im zehnten Kreis, der er nur für mich ist. Was erwartet mich dort? Ewige Existenz? Nichts Schlimmeres als das es gibt.
99
Glücklich ist, wer blind den Ungetümen durch sein Leben schlendert. Habe die Augen offen. Sehe all die Horror, die mich umschließen, schon immer es haben. Kann nicht mehr blinzeln, denn weiß ich um sie. Ein pechschwarzer Wald mit zahllosen Unwesen, eine Albtraumlandschaft, verfolgen sie alle die verschiedensten Menschen, lauern ihnen auf, warten geduldig ab. Sehe links und rechts, wie welche von ihnen zerfleischt werden, wie Gräueltaten begangen werden, dass sich der Magen umdreht. Spüre ihre Augen auf mir lasten. Sie wissen, dass ich auch bald so enden mag, und grinsen breit mit ihren abnormal großen Fratzen. Tummeln sich viele um mich herum. So viele Blinde. Ein paar wie ich. Rufe dringen nicht durch. Werden verschluckt von den Monstern aus Finsternis. Amüsiert es sie, der Versuch. Der Boden uneben, einige Löcher hier und da, teilweise er nicht mal mehr sichtbar. Dort unten sind auch welche davon, von den Unwesen, ausgehungert und verwahrlost. Bemühe mich, nirgends reinzufallen, da ertönt eine raue Stimme, verzerrt, in schiefem Missklang, spricht sie: »Hast nicht mehr lange«, wirres Gelächter von allen Seiten, von oben und unten, die Erde selbst spricht, ist selbst eines der Untiere, im Himmel etlose mit Flügeln, kreischen sie, jaulen sie laut. Gebleckte Zähne, schimmern sie im Unlicht des Mondes, auch er zu lachen beginnt, Krater mich anstarrten. Bricht der Boden unter den Füßen weg, gigantische Knochen sich zeigen, seltsam deformiert, Augen von oben herab mit mir fallen, sterbe.
100
Habe mich angefreundet mit den zwei anderen Nicht-Alten hier. Der Bursche, mein Zimmernachbar ist 25, das Mädchen 20. Sind in Ordnung, eigentlich. Redeten gar nicht schlecht über mich, denke ich mittlerweile. Fühle mich grottig, denen vor Stunden noch den qualvollsten Tod gewünscht zu haben. Schäme mich drum. Wirklich. Haben Kartenspiele gespielt, Uno, Skip-Bo, 31 und noch irgendwas, aber den Namen davon hab ich schon wieder vergessen. Das war spaßig. Hatte lange nicht mehr so ehrlich gelacht. Lange keinen Spaß mehr gehabt. Insbesondere keinen solchen. Es tat gut. Hat all die negativen Gedanken beiseite gedrängt. Hab wieder Lebensfreude empfinden können. Will gerade leben, absolut nicht sterben. Ich fühle mich gut. Wirklich unfassbar. Will nicht, dass das wieder aufhört, wird es aber. Nun wieder im Zimmer, draußen stockdunkel. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich will dieses Gefühl noch auskosten, solange es noch anhält. Irgendwann gehen die, oder vielleicht auch ich. Will mich noch besser verstehen können mit denen. Aber wenn, dann wird der Abschied umso schwerer. Freunde mich darum mit kaum einem an, weil letztlich eh keiner bleiben wird. Alles ist nur temporär. Sehe nicht genug Wert darin. Habe dennoch Hoffnung. Das Mädchen beispielsweise wohnt in derselben Stadt, und mit ihr verstehe ich mich ziemlich gut, glaube ich. Bin mir sicher, sie irgendwann schon einmal gesehen zu haben. Sie meinte zu mir dasselbe. Witzig, wie sich Wege schneiden, wo sich Wege schneiden.
Das alles könnte mich retten vor meinem sicheren Untergang. Ich könnte vielleicht wieder glücklich sein. Wieder Sinn im Sein finden. All das Schlechte vergessen. Glück mich erfüllt. Es ist echtes. Das ist echt. Ich bin glücklich gerade. Es soll anhalten. So bleiben. Fürchte, dass es am Morgen wieder vergangen sein wird. Will das nicht. Will diesen Moment einfangen können, mein jetziges Ich, es soll so bleiben. Bin müde aber. Und glaube, dass ich heute vielleicht keine Albträume haben werde. Das wäre schön. Erfrischend. Unglaublich. Wie eine Oase inmitten der trockenen Dürre und sengenden Hitze der kahlen Wüste. Ein kleines Paradies. Für wie lange aber? Will nicht, dass es endet. Weiß nicht, ob Hoffnungen mich wieder nur enttäuschen werden. Will, dass es diesmal anders ist. Unbedingt muss es anders sein. Sonst habe ich wieder gar nichts. Es schmerzt. Darf nicht mehr daran denken, denn so endet es nur noch schneller. Nein, muss positiv bleiben. Muss mich nähren daran. So was passiert nur selten. Unfassbar selten. Wälze mich im Glück, suhle mich darin. Es tut so gut. Ich will leben. Ich will nicht sterben. Ich fühle mich wie ein echter Mensch. Ich bin erfüllt. Ja, das tut gut. Könnte weinen, so gut tut es. Werde es aber nicht, denn das würde der andere hören.
Erblinde allmählich wieder. Gut so, weiter so! Und nun ab ins Schlaraffenland in deinen Träumen, wo dich Schokoladenkuchenbäume und Pizzaberge erwarten, Gummibärchenmenschen und ein tatsächliches Gegenüber. Hast lange durchgehalten. Länger als viele es hätten tun können. Belohne dich dafür nur. Hast es gut gemacht. Hast es dir verdient. Bin stolz auf dich. Nun schlummer du nur. Erwartet dich eine erholsame Nacht. Stelle mir vor, wie die Menschin das zu mir sagen würde. Es tut gut, auch wenn ich weiß, dass ihre Ausdrucksweise anders ist. Will mit der Menschin sprechen hierüber. Dass es mir überraschenderweise gut geht hier. Dass ich mich angefreundet habe mit welchen. Wahrscheinlich sorgt sie sich aber eh nicht wirklich, hat mich vielleicht auch schon vergessen, zumindest schwirre ich nicht in ihrem Bewusstsein, meine ich. Freue mich darauf, dass die Schule bald wieder anfängt und ich ihr von allem berichten kann. Will ihr in einem ellenlangen Brief meine Liebe an sie deklarieren. Sie weiß, dass ich in sie verliebt bin, aber da ist ja ein Unterschied zwischen Verliebtsein und Lieben, aye. Es ist einseitig, ja, ich weiß schon. Aber dennoch. Wollte das schon länger tun. Und außerdem haben wir eher wenig miteinander geredet, seitdem sie davon weiß, dass ich in sie verliebt bin. Über die ganzen Gefühle gar nicht, nur dass sie keinerlei romantisches Interesse an mir hat, nichts von mir will. Muss ihr dennoch sagen, wie ich sie sehe. Wie viel sie mir bedeutet. Muss nur die passendsten Worte finden, um es zu beschreiben. Aber das wird schon. Zumindest wird sie den Brief nicht zerreißen. Das hatte die Kannibalengöttin ja einmal getan. Hoffe es. Aber so ist die Menschin nicht, nein. Auch wenn es wie bei der Kannibalengöttin auf das Gleiche hinauslaufen wird. Na ja. Macht mir nichts. Solange ich ihr meine Gefühle an sie erklärt habe, geht es mir gut. Mein nächstes Großprojekt: Brief an die Menschin.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top