44: Nutztier
Die Kannibalengöttin ist sein Glück. Sein einziges Glück. Sie endlich zurück seit einer Woche bereits. Schaut ihn sich schräg an, als er am Montag ohne was auf dem Kopf zur Schule kommt, scheint sie es besser zu finden offenbar, erzählt ihre Freundin ihm in der Pause. Das beruhigt ihn etwas, denn seitdem er acht oder neun Jahre alt gewesen ist, hat er sein Haar nicht mehr kurz gehabt, insbesondere nicht so kurz, das noch nie, denn sei wirklich kaum was übrig, höchstens winzigste Stoppelchen. Er hat sich mit seinen alten Vorhängen weniger beobachtet gefühlt, jetzt weit offen. Biologieunterricht, sie müssen allesamt einen Raum reinigen, in dem diverse Sachen gelagert liegen, mehr oder weniger einfach eine Abstellkammer, nur größer. Viele Regale mit Glasscheiben, die man zur Seite schieben muss, um an die Inhalte zu gelangen, sollen den Staub von absolut allem abwischen, versucht er, eines zu öffnen, da fällt die Scheibe aus ihren Fugen, kracht auf den Boden, er erstarrt, Hände noch in der Luft, mit weiten Augen runterblickend, etliche Scherben, in Sandalen er, überraschend wenige Wunden jedoch, nur wenige Schnitte an den Zehen, wird von der Lehrkraft zum Raum des Schulsanitätsdienst geschickt, soll wer ihn begleiten, die Kannibalengöttin sich meldend, gehen beide stumm, beide wartend, ein Lehrer kommt, nicht wirklich tief irgendwas gewesen, Blut abgewischt, Pflaster drauf, soll er noch ein bisschen bleiben hier, sie darf auch, tut es, schweigen sie, will er irgendwas sagen, schafft es nicht wirklich. Klingeln, stehen beide auf, gehen. Mehr bräuchte er gar nicht, um glücklich zu sein.
Dezember. Für den 6. des Monats ein Weihnachtscafé angesetzt. Werden sie vom Klassenlehrer in Schichten eingeteilt, sieht er, dass er zur selben Zeit wie die Kannibalengöttin die gemeinsame Aufgabe hat, einen Stand zu betreuen. Aufregung. Vorfreude. Spannung. Viele Leute hier, denkt er sich alle weg außer sich und sein Gottwesen. Ist sie nur noch nicht hier, haben nämlich erst gleich die Verantwortung, überteuerte Sachen an dumme Leute zu bringen, die keine Kontrolle über ihren Geldbeutel zu haben scheinen. Bekommt Waffeln kostenlos, sind lecker. Hört seinem Englischlehrer zu beim Singen, häkelt an einer Puppe weiter, dann ist es so weit. Himmel etwas düster, gelb-goldene Lichter überall. Sitzen beide nebeneinander, vertreiben sich die Zeit mit eher oberflächlichen Gesprächen, bis wer ihnen Klimpergeld gibt. Ihre Nähe ist angenehm. Vergeht schnell alles, sind fertig. Er setzt sich auf eine Bank hin, schaut auf die Uhr, müsse noch etwas warten, bis der Bus käme. Kannibalengöttin kommt an, setzt sich zu ihm, gibt ihm einen ganzen Berg an Waffeln, erfreut es ihn unendlich, verschlingt er eine nach der anderen, sie mit ihm redend, er mit vollem Mund antwortend, glücklich. Mond oben. Sie fragt ihn, ob er sie nach Hause begleiten könne, weil es eben schon so dunkel sei, nickt stumm, laufen sie gemeinsam durch die leeren Straßen, plappern etwas, erwähnt sie, wie sehr doch ihre Füße wehtäten, fragt aus Jux, ob er sie nicht tragen könne, das könne er nicht, nein, mehrere Wasserflaschen auf einmal seien ihm bereits mehr als genug, ein Mensch sei keineswegs leichter. Stille, laufen beide weiter, er sich wirklich anstrengend, sich bloß die Richtungen zu merken, dass er zurückfinden wird, »Ah, da wohne ich«, lebt sie seit ihrer Rückkehr in einer Pflegefamilie, wünscht er ihr eine gute Nacht, sie ihm ebenfalls, dreht er sich geradewegs um, fühlt sich übermenschlich, kommt an in seinem Zimmer, vergisst sich die Direktionen schnellstmöglich. Glücklich, so sehr wie noch nie zuvor. Lächelt er sich in den Schlaf, denkend an all das Schöne heute.
Fragt sie ihn in einer Pause nach Geld, nickend ihr ein wenig Klimpergeld gebend, dankt sie ihm, fragt, ob er ihr mehr geben könne morgen. Nickt er langsam, benutzt er sein Taschengeld eigentlich eh für nichts, wenn sie dafür einen Nutzen hätte, dann gerne gibt er ihr was, denn macht es ihn glücklich, wenn sie es ist. Erneut, diesmal sei ihre Großmutter krank, brauche für ganz genau zehn Euro Medikamente. Unwohl. Interagieren sie immer und immer mehr miteinander, holt sie ihn in einer Pause zu sich, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen, setzt sie sich im Unterricht neben ihn hin, helfen sie einander bei verschiedensten Aufgaben, eigentlich nur er ihr, bringen einander zum Lachen, was sei das, der Himmel etwa? Kämpfen mit Füller und Kugelschreiber gegeneinander, berühren sich die Hände, zuckt er zurück, sei es das erste Mal gewesen, dass er sie berührt hat. Malt sie ihn an, fährt mit der Tinte über seine Haut, kritzelt seine Ärmel voll, malt Viecher drauf, macht er es bei ihr gleich, oder fängt zumindest damit an, da pausiert sie, das sei der Pullover ihrer verstorbenen Großmutter, meint sie, eigentlich beide jedoch noch lebendig, wie wer später ihm sagen würde, die Farbe gehe nie wieder da raus, eigentlich aber schon direkt nach einem normalen Waschgang sauber wieder, von unbezahlbarem Wert sei er für sie gewesen, andere herzuschauen beginnend, Lehrer interessiert sich wenig jedoch, fragen einige Mitschüler, was passiert sei, was er gemacht habe, denn die Kannibalengöttin scheint wie eine Furie, starrt ihn böse an, beleidigt ihn leise, flüstert ihm zu, dass er doch sterben solle, zieht er es sogar in Betracht, er hat einen großen Fehler begangen, den würde er nie wiedergutmachen können. Versucht, sie zu beruhigen, stottert in absolutem Terror, weiß er nicht mal, was er sagen könnte, kratzt sich seinen Hals und seine Arme auf, er ist ein Dreck. Versucht, sich zu entschuldigen bei ihr, als er wieder zuhause ist und nun auch einfacher mit ihr kommunizieren kann, eben durch die Textform, denn sei ihm die Kehle wie zugeschnürt. Verlangt sie plötzlich fünfzig Euro, um sich einen neuen Pullover zu kaufen, auf die Zahl genau das, was er noch von seinem monatlichen Plus übrig hat, das hätte sie sogar wissen können, denn hat sie ihn das irgendwann mal gefragt. Er bietet an, zu einer Reinigung zu gehen, nachzufragen, sie lehnt ab, das wäre »sauteuer«, wolle zwanzig Euro dafür nun haben statt den fünfzig. Er macht sich auf, fragt wo nach, nicht mehr als ein paar Münzen. Sie entschuldigt sich, sagt ihm, dass sie nur wirklich dringend Geld brauche, hätte Schulden bei wem. Er fragt nach, wie diese entstanden seien, sie antwortet nicht drauf, Leute würden sie zusammenschlagen, wenn sie es irgendwem erzähle, er drängt dennoch nach einer Antwort, verspricht ihr sein Stillschweigen, sie habe sich Drogen gekauft bei einem Affen auf der Schule, irgendwelche Pillen, zeigt ihm ein Bild davon. Abscheu erfüllt ihn. Vor sowohl ihr wie aber auch vor sich selbst. Gibt ihr das Geld, das wäre es aber, kein Stück mehr. Er will nicht, dass sie in Schwierigkeiten kommt. Er will nicht, dass sie unglücklich ist. Irgendwelche Substanzen jedoch einzunehmen, das sei kein wahres Glück. Er will sie davon abbringen, weiß aber nicht, wie. Er hat ihren Konsum finanziert. Er ist mitschuldig dafür, schämt sich.
Zurückspulend, bevor die Kannibalengöttin in die Jugendpsychiatrie gekommen ist. Hat sie Geburtstag bald, da hat er sich bei ihr erkundigt, was sie sich wünsche, was er ihr schenken solle, was für ein Opfer er ihr erbringen möge. Damals, da hat sie gefragt danach, wie viel er denn monatlich ausgeben könne, darauf er, dass er viel angespart habe, gute zweihundert Euro. Fragt ihn nach Kopfhörern für neun Zehntel seines Budgets, stimmt er zu, geht auf die Suche danach, zwei Stunden im Laden umherwandernd ohne Erfolg, gestresst er so sehr, fragt er schließlich einen Angestellten, direkt neben ihm das, wonach er gesucht hat. Geht zur Kasse, will bezahlen, da wird er was gefragt. »Bist du denn schon achtzehn?« Achtzehn? Wieso spielt das bitte eine Rolle? Es sei sein eigenes Geld doch, ist er nur dafür hergekommen, um es auszugeben, hat die letzten Monate verzichtet auf so vieles doch, nur dass er ihr was schenken könne, das sie auch wirklich wolle. Umsonst etwa? »Tut mir leid, dann darf ich dir das nicht verkaufen.« Sprachlos, geht raus, behält die Tränen so gut wie nur möglich drinnen, fährt zurück, in sein Zimmer, schließt die Tür mehrfach ab, Rollläden komplett runter, will schreien, traut sich nicht dazu. Er erzählt ihr davon, sich unsicher, ob sie es ihm glaubt oder nicht, schämt sich, hasst sich. Geburtstag von ihr, sie schlägt ein Treffen vor bei einer Bushaltestelle in der Nähe von ihm, scheinbar auch bei ihr in der Nähe. Stottert er, tut es so unglaublich gut, sie sehen zu können, er sie unglaublich vermisst habend, seitdem sie auf eine andere Schule geht. Lange Pausen, Bedrückende Stille, öffnet er stotternd seinen Rucksack, gibt ihr Geld statt den Kopfhörern, sie sich dann nach einer Weile von ihm verabschiedend, gehen sie aber teilweise noch denselben Weg zurück, denn wohnen sie scheinbar unweit voneinander, ein paar Tage später wird er von ihr angerufen, er nimmt ab, erst Stille, hört er dann ein unbekanntes Männchen stöhnen, legt panisch auf.
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