42: Kannibalengöttin
Pausiert er. Die Reihenfolge durcheinander leicht. Zuckt er mit den Achseln, Augen wieder auf die Leinwand, werden angezogen. Zwei Leute, Familienhelfer. Unternehmen sie ab und an was mit Mutter, Schwester und ihm. Bowling einmal, ein andermal sind sie schlittschuhgelaufen. Er blinzelt, besucht er mit ihnen drei Orte, lebt er nun an einem davon, von Familie entfernt, in unbekannter Stadt, muss bald zu einer anderen Schule, befremdlich alles. Zieht sich zurück noch mehr als je zuvor, ist beinahe schon fester Teil seines Zimmers. Isst er nur Nudeln, macht er sie sich selbst stets, denn kann er die von anderen nicht essen. Darf er bloß sein Handy mitnehmen sich, hat kein Guthaben, kein WLAN dort vorhanden. Bleibt er in Kontakt mit der Außenwelt durch monatlich kostenloses Netz von irgendeinem Anbieter. Einsamkeit füllt, zieht ihn zu sich, besieht ihn sich gut, ergreift, lässt ihn fallen. Taucht ihm wer auf. Schemen geben sich ihm, unterhalten sich beide miteinander, freunden sich an, nennt sich das Gegenüber Ente. Fällt er mit Ente in tiefe Delusionen, sich denkend als Gottwesen, als glückliche Leute, er wissend jedoch um die Wahrheit, er sich anlügend nur allzu gerne, verliert er all seine Sorgen. Halt.
Die Osterferien vorüber, er gezwungen dazu, sein Nest zu verlassen, Fahrt mit Bus, bedrückend viele Menschen, vier Gebäude, unterschiedlich groß und alt, Treppen lang, Hof klein, Menschen überall, so viele Gesichter, sich nirgends bietend ein Platz zum nur annähernden Alleinsein dort, laut, so unglaublich laut, dürfen sie in den Pausen nicht in den Gebäuden bleiben, ein einziger Witz, hockt er an einer Wand im Schatten. Klassenleute wirr, nicht wirklich wer dabei, den man mögen mag, einsam er, so unglaublich einsam, verkümmert er sich innerlich, da kommt wer an, spricht zu ihm, Worte klingen wie Engelschor, Blick hebt sich, sieht sie ihn an, sieht er zurück, blickt entgegen keinem Menschen, nein, viel mehr er sehend, Augen hell, funkeln sie, Haut wie Marmor, blinzelt er, wendet ab seine Augen. Sie sei in derselben Klasse scheinbar, sitzen sie nebeneinander nach der nächsten Änderung des Sitzplans, haben genau dieselben Kurse, interagieren nicht wirklich miteinander, aber ihr bloßes Dasein erfüllt ihn bereits, freut er sich auf den nächsten Tag stets und sei enttäuscht, wenn sie mal nicht da wäre. Zeit springt, ein beinahes Jahr nun vergangen ist, nicht viel sich verändert hat wirklich, höchstens Ente, der er sich neue Gefährten gefunden hat, einen Menschen und ein anderes Gottwesen, einen Diener namens Quakhardt auch. Valentinstag rückt näher, die Schüler aus den höheren Klassen anbietend für einen Preis von anderthalb Euro, anonym Rosen zu verschenken. Grübelt er etwas, wer Neues kommt auf ihn zu, fragt, ob er wem eine kaufen würde. Er lacht es kopfschüttelnd ab, tut es dennoch, nachdem die Person weggegangen ist, sich kaum selbst glaubend. Es sei so weit, Leute kommen an, verteilen Blümchen, bekommt sie eine, sitzt ganz vorne, er ganz hinten, schaut ihn lächelnd an, wissend es wohl, er schmunzelt zurück, zittert er, bekommt sie vom Lehrer gesagt, nach vorne schauen zu sollen. Zeit vergeht, passiert nicht wirklich was. Ein Brief vor ihm, viele Blätter im Mülleimer, atmet er tief ein, nickt, fällt erschöpft in Schlaf. Morgen, aufgeregt, fährt zur Schule, im Rucksack das Schreiben, sucht er sie, nirgends zu finden, sei sie krank heute wohl, lebe jedoch in einem Internat, wer anders aus der Klasse ebenfalls, die beiden befreundet, sogar im selben Zimmer wohnend, gibt er ihn an sie weiter, scheint ihm nicht wer Unvertrauliches zu sein, er sich fragend, was passieren würde nun. Stillschweigen, fragt er nach am nächsten Tag, die Kannibalengöttin, so hat er sie zu nennen begonnen, immer noch krank, habe so gut wie bei jedem zweiten Wort nach der Bedeutung davon fragen müssen, ganz am Ende hat er ein kleines »Ich liebe dich« hingeschrieben, schämt er sich nun, fühlt sich unwohl. Am nächsten Morgen ist sie wieder da, schaut ihn einmal an, Ausdruck leer. Beginnt sie, ihn vollends zu ignorieren, sitzt nun anderswo, ihre Freundin ihm sagend, dass sie viel Schlechtes über ihn erzählt. Hohl er, dennoch festhaltend, denn sonst bleibt ihm nichts anderes. Jemand fragt ihn nach seiner Telefonnummer, wird er zugefügt der Klassengruppe, sieht es als Opportunität, die Kannibalengöttin zu beeindrucken, macht sich offen lustig über die, die sie nicht mag, sei sie nämlich genau wie er Subjekt von Ausgrenzung, macht sich beliebt unter den Affen, dass sie ihn eines Abends anschreibt, unterhalten sie sich etwas, genießt er es wirklich, wird es etwas regelmäßiger sogar, scheint sie ihn zu mögen offenbar. Doch nicht wirklich.
Ihr Geburtstag in etwas weniger als einer Woche. Er will ihr was schenken, bemerkt dann, dass er kurz davor wo operiert werden würde, de facto morgen direkt. Wurde ihm gesagt, es solle nicht großartig wehtun, vertraut er dem, würde danach auf die Suche gehen nach einem Geschenk. Hat Angst. Augen weit, hat wirklich große Angst. Vollnarkose, bekommt er eine Beatmungsmaske auf, wird ihm versichert, dass es noch nicht losgehe, da setzt er aus bereits. Wacht auf. Schwummerig. Verband. Werden ihm Schmerzmittel verschrieben, soll er diese nehmen, nimmt aber keine, denn er kann keine nehmen. Brauche er eh keine, oder? Bleibt im Krankenhaus einige Tage. Laufen schwierig, tut es wirklich unglaublich weh, wirklich alles brennt, er würde kaputtgehen, wenn nicht um die Kannibalengöttin, denkt er sich bei ihr, denkt er sich glücklich. Wird entlassen, ein Samstag Abend es, Montag habe sie Geburtstag, hatte er nicht erwartet, so lange wegzubleiben, bekommt Panik, irgendwas muss her, schnell nur. Er könne ihr doch nicht nichts geben. Fragt er wen aus der Wohngruppe, suchen sie sich was im Netz, fahren beide wohin, um wem andern was abzukaufen, eine Kette, recht schick. Verpassen sie einen Bus, zum Glück früher sich auf den Weg gemacht, kommen sie endlich an. Haustür versteckt, ist es ein Wohnungskomplex, perfekt auf Zeit sie. Er habend sein Handy nicht dabei, seien sehr viele Namensschilder dort, er aufgeschmissen, hat er nicht nach dem Namen gefragt, schlägt der eine ihm vor, einfach überall anzuklingeln, macht er dies nach einer stressvollen Pause, ist es sogar die richtige Klingel gewesen beim ersten Versuch, entlastet. Er verpackt sie sich gut, läuft am nächsten Wochenbeginn vorsichtig zur Schule, einen schicken Anzug anhabend, denn es sei ja ein besonderes Ereignis. Pause, er sucht draußen nach ihr, wer anders aus der Klasse kommt herbei, sagt ihm, sie käme bereits zu ihm, habe anscheinend schon Wind von bekommen, dass er was für sie hätte, so schätzt er, wie auch immer das, sieht sie dort hinten, neben ihr ihre Zimmernachbarin, schubst diese sie schon beinahe zu ihnen. Setzen sich die vier auf eine gerade Bank, die Kannibalengöttin und er an den gegenüberliegenden Enden jeweils, beide stumm, er verwirrt. Das Päckchen wird weitergereicht, sie nimmt es an, öffnet es, steckt es sich in die Tasche, ein »Danke«. Sie stehen auf, die Kannibalengöttin geht, ihre Freundin ihr folgend, davor ihm sagend jedoch, dass er nicht ihr Typ sei. Blinzelt er, hat Sport am nächsten Tag. Sitzt am Rand, hat eine Entschuldigung vom Arzt. Kannibalengöttins Freundin setzt sich neben ihn, erzählt ihm, dass diese sein Geschenk weggeworfen hätte, zerbricht er innerlich, sie ihn nicht mehr ansehend, er unsichtbar geworden, vielleicht auch einfach eine Plage er, etwas, das man einfach nicht ansehen will. Was müsse er tun, dass sie ihn mögen würde? Wie müsse er sein, dass sie ihn mögen würde? Egal wie, er müsse ihr gefallen. Das sei sein einziges Ziel, sein größtes Glück wäre es, und auch sein einziges. Er will, dass sie ihn beachtet, ihn schätzt, ähnlich für ihn empfindet, so wie er für sie. Er will sie ergänzen, denn scheint sie ihn zu ergänzen, er schaut zu ihr auf, so als wäre sie ihm ein Idol. Tag darauf, der Verband geht nicht ab. Er zieht dran, es schmerzt, versucht es auch langsam, Verband klebt fest. Versucht, sich selbst ihn zu lösen auf nur irgendeine Weise, es geht nicht. Zum Krankenhaus erneut, Arzt versucht es wie auch er es hatte, erfolglos, zuckt mit den Achseln, beide überfragt wohl, da reißt er urplötzlich dran, Aufschreien, Jaulen, sein ganzer Körper beginnt, zu zucken, solche Schmerzen ihm noch nie zuvor begegnet, doch hängt der Verband noch immer, und es wird nochmals dran gerissen, heult er auf, kauert er sich zusammen, alles Gefühl verlierend für ein paar Momente, wird ihm gesagt, dass er nun wieder gehen könne, er brauche keinen Verband mehr zu tragen, steht er auf, läuft etwas, kippt um nach ein paar Schritten nur, eine jede Bewegung zu viel, sein ganzer Körper brennend, bleibt er drei weitere Tage dort, will zu leben aufhören einfach nur noch.
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