Die Formel eines Lebens
Wenn man so alt ist wie ich, kommt man in eine Lage, in der man unweigerlich dazu geführt wird, auf sein Leben zurückzublicken. Das alles begann für mich gar nicht mit dem Gedanken, wie mein Leben war, sondern damit, darüber nachudenken, warum ich einen Text brauche, um das, was ich als Ganzheit meines Lebens betrachte, reflektieren zu müsen. Und ich denke, dass es jeder braucht, eine Instanz, um auf das Leben und die damit verbundenen Entscheidungen zurückzublicken.
Die Ausgangslage ist eine ganz einfache, ein rationales Ergebnis rationaler Entscheidungen. Ich sitze in meinem Haus, mit einem schönen Grundstück, einem Vorgarten, einem Mausoleum und einem Hühnerstall. Drei große Fenster, jene mit Mittel- und Querstreben, befinden sich vor mir, ich sitze an einem alten Ebenholztisch und rechts von mir erheben sich schwere Bücherschränke. Ich habe das, was ich verdiene. Ich habe das, wofür ich gekämpft habe. Doch bin ich glücklich? Ich frage mich das häufiger, wenn Besuch kommt, wenn ich auf die Straße gehe und von den gesichtern fasziniert bin, die alle ihre eigene Geschichte erzählen. Ich hae sicherlich viel Glück gehabt, ich habe die Manifestation des Glücks geschrieben, ich muss wissen, wovon ich spreche. Ich habe mich mit dem theoretischen Ansätzen zum Glück befasst, ich bin vielleicht ein Experte auf dem Gebiet, wenn es um das „Glücklich sein" geht. Ich müsste so viel zu diesem Thema wissen, vielleicht noch mehr als jemand anderes, und dennoch bin ich immer noch unschlüssig, eine endgültige Antwort zu finden. Ist es Glück, an der Stelle zu stehen, wo ich bn? Dass ich aus die Fenster sehe, auf den Garten, auf das Mausoleum, auf die Blätter, die an den großen Pappel- und Kastanienbäumen verwelken? Ist es Glück, am Fenster zu stehen und am Ende des Horizonts die bunten Lärchenwälder zu sehen? Ist es mein Glück, einen Dahliengarten zu besitzen, Hühner, Hummeln, ist mein Besitz das, was mich glücklich machen sollte? Mit Sicherheit macht es mein Leben einfacher. Es macht mein Leben einfacher, aber stets fehlt etwas, das ich vermisse. Ich lebe in einem großen Haus, das für mich ausreicht, das mir den Platz bietet, den ich brauche. Und obwohl ich doch so viel Raum gebe, bin ich allein geblieben.
Stets habe ich nach einer Formel gesucht. Ich bin kein Mathematiker, habe auch nichts mit Physik oder Chemie zu tun. Ich würde nicht mal sagen, dass ich ein Philosoph gewesen bin. Ich war ein Mensch, der geschrieben hat, der gelehrt hat, der versucht (hat), die Welt zu verändern. Jetzt stehe ich vor meinen Fenstern und blicke auf etwas, das ich als Ergebnis betrachten könnte. Ist es das, was ich wollte? Ist das die Formel meines Lebens? Ist es der Kriterienkatalog, den ich benutzen kann, um darüber zu urteilen, ob mein Leben erfüllt und erfolgreich gewesen war? Ich weiß es nicht, wirklich, ich weiß es nicht.
Ich habe Bücher gelesen, viele, und ich habe wohl Stunden damit verbracht, darüber zu philosophieren, was das Leben ist, wofür wir dankbar sein können, was unser Glück ist. Ich habe Antworten für Philosophen gefunden, ihre Meinung kritallisiert, aber ich habe nicht mich gefunden. Die Formel meiner Überzeugung ist mir nicht offenbart worden. Ich habe es niemanden erzählt. Ich habe mich nie getraut, es jemandem zu erzählen, weil ich, und davon war ich stets überzeugt, dann vielleicht doch zu schwach gewesen bin. Ich wollte in einem scheinbar so einfachem Spiel, dass ich als Verlierer verlassen habe, nicht erkannt werden. Ich zeigte, dass ich glücklich war auf einer ganz anderen Weise. Ich habe Leuten glaubhaft gemacht, dass ich glücklich bin, um es für sie einfacher zu machen, um es für mich einfacher zu machen, um es für jene, die auch dieses Schicksal erleben, einfacher zu machen. Ich wollte zeigen, wie einfach es ist, so zu Leben wie ich, dass ich so glücklich sein konnte, auch wenn mir etwas so essentielles gefehlt hat. Es ist, als würde ich einen Kuchen ohne Mehl backen: Alle bestaunen das Endprodukt, dass ja so viel gekämpft haben muss, ein guter und leckerer Kuchen geworden ist, aber am Ende fehlt doch die alles entscheidende Zutat. Es sind zwei separierte Leben, Kuchen, die vor uns, vor mir stehen. Ich blicke aus dem Fenster. Es ist herbst, mein eigener, es ist Zeit, festzuhalten, was für mich stets wichtig gewesen ist:
Integrität und Authentizität. Das war etwas, worauf ich stolz gewesen bin. Ich bin es immer noch, denn es ist das wichtigste, was ich hatte. Wenn ich nicht zu mir selbst stand, dann tat es niemand. Ich musste das, was mir übrig geblieben war, beschützen und gegen alles, was auf mich zu kam, verteidigen. Ich hatte zeitlebens nur noch mich und deswegen war es auch so einfach gewesen, integer und authentisch zu sein. Wie sollte ich die Schattenseiten jener Eigenschaften erblicken, wenn mir die so wichtige Instanz, die sie bedingt, gefehlt hat? Wie sollte ich mich vor einer Entscheidung stellen müssen, integer oder unterstützend zu sein, wenn es niemanden gab, dem ich mich verpflichtet gefühlt hätte, stets zu unterstützen? Es ist einfach, nett zu sein, wenn man unaufhörlich mit dem „Bösen" konfrontiert wird. Wieso sollte ich, wenn ich mich doch so sehr von dieser gesellschaft abwandte, so werden wie sie? Wieso bewundern mich Menschen für etwas, dass nicht zwingend aus meinem eigenen Entschluss entstammte, sondern deshalb, weil ich niemals vor die Entscheidung gestellt wurde? Es ist nicht bewundernswert, das was ich immer wollte, für etwas geachtet zu werden, das ich nur durch einen Zufall erreichte. Mein Leben ist keine Lüge, mein Leben ist die Sammlung all meiner Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnisse. Ich bin das Ganze meines eigenen Werkes, das entstanden ist, weil die Welt so wollte. Ich bin das Resultat einer liebenden Mutter und eines rationalen Vaters, der mit seinen Schlägen die Gefühle, Chancen und Möglichkeiten aus meinem Körper trieb. Am Ende ist es das, was ich verdient habe. Das ist die Moral von dieser Erzählung, es ist eine, es ist meine ganz eigene.
Wer denkt, ich hätte mich nie verliebt, der lebt in dem Glauben, dass die Welt eine stählerne Konstruktion aus „gut" und „schlecht" gewesen ist. Ich habe mich verliebt, viel öfter, als es mir gut getan hat. Ich bin glücklich über die Gedanken, die ich erfahren durfte, über die Worte, die ich aufs Blatt schrieb, über die Texte, die ich verfasst habe. Junge Menschen verlieben sich so schnell, ich war einer, sie träumen von Gegebenheiten, die für andere Selbstverständlich sind. Ich habe meine Herzen verschenkt, so naiv und gut ich sein wollte, doch ich bekam nie eines zurück. Meine Herzen verbrannten für eine gute Sache, auf die ich im Endeffekt doch sehr stolz gewesen bin: Ich habe Menschen ein Gefühl gegeben, dass sie es wert sind, geliebt zu werden. Sie haben von mir die Versicherung erhalten, die Bestätigung, dass sie es wert sind, zu leben. Sie sind das Resultat einer Gesellschaft geworden, die sich angepasst hat, die gleiche Ideale erschaffen hat, um kompatibel zu sein. - Mehr waren sie nicht: sie waren kompatibel. Sie waren austauschbar, sie waren so leicht zu ersetzen und sprachen davon, wie besonders und vielfältig sind. Ich weiß nicht, ob sie wirklich davon überzeugt gewesen sind, denn sie waren es nicht. Sie hätten nicht die Liebe ihres Lebens erblickt, wenn sie tatsächlich so unterschiedlich gewesen wären, wie sie gesagt haben. Wir leben in einem Nudelregal. Wir wollen Hartweizennudeln, wir sind sie, manchmal, wenn wir müssen, wenn wir gezwungen werden, müssen wir Vollkornnudeln kaufen und merken, dass sie auch schmecken. Aber sie passen nicht zu uns. Unsere Gesellschaft lebt uns ein Ideal vor, in der wir dem nachgehen sollten, was alle tun, um nicht in die Falle zu geraten, „schwierig" und „unkompatibel" genannt zu werden. Wir sind zu feige, andere, individuelle Leben zu ergründen, weil uns die Kraft, die wir aufwenden, nicht wert für andere ist. Je kompatibler ein Mensch ist, desto mehr wissen wir von ihm: Es sind die Ursprünge über den Sexismus und Rassismus, die wir ausleben. Auch ich war ein Teil davon, auch ich habe mich in Stereotype verliebt. Ich hatte das Glück, schwierig gewesen zu sein. Ich habe niemals den Schmerz erleben müssen, dass ich ausgetauscht worden bin, zumindest nicht dann, als ich schon eine gemeinsame Zukunft vor Augen hatte. Ich hatte das Glück, nie betrogen worden zu sein. Ich müsste glücklich sein, aber ich bin es nicht. Statt Glück empfinde ich nur Hass und Abscheu, undefinierbare Worte, Tränen aus Glas, die am Boden zerschellen. Ich schreie und atme, aber es genügt niemals, ich zerbreche und doch kann der Stein, der mich getroffen hat, nicht entfernt werden. In mir bleibt eine Leere zurück, eine innerliche Leere, die ich doch immer versucht habe, zu kaschieren. Am Ende ist es das, was ich verdient habe. Das ist die Moral von dieser Erzählung, es ist eine, es ist meine ganz eigene. Es ist die, die ich mir selbst geschaffen habe, durch die Entscheidungen, die ich treffen musste und jene, die mir unweigerlich abgenommen wurden.
Schließlich ist die alles entscheidende Frage, vor der ich wieder einmal stehe, die ich mich immer gefragt habe, die, die an keinem einzigen Tag meines Lebens gefehlt hat, ob es all das wert war, was ich getan habe. Ob ich meine Integrität und Athentizität, das, worauf auch ich immer so stolz gewesen bin, das war, was ich im inneren wollte. War es das wert, Leute zu verteidigen, Kraft zuzusprechen, die am Ende nicht so gewesen sind wie ich? War meine Kraft, für das Gute einzustehen, um für die Leute, die ich glücklich gemacht habe, die meine Integrität geschätzt haben, an der richtigen Stelle eingesetzt? Ich glaube, ich würde es wieder tun. Ich würde wieder, so naiv wie ich bin, vor der Menge laufen und mit meinem Engagement, so nannten sie es, die Welt in eine bessere verwandeln wollen. Ich war optimistisch gewesen, das stimmt wohl, ich habe immer gedacht, dass es nur „Gutes" geben kann, dass es nicht das Ende ist, wenn es nicht gut geworden ist. Das „Es" bleibt undefiniert. Ich würde stets alles dafür tun, dass es den Menschen, denen ich begegne, gut geht, dass das Leben fair(er) wird, dass ich etwas dazu beitrage, ein gerechtes Leben zu schaffen. Aber so, wie viele Leben dafür keine Kraft haben, habe ich dadurch nicht die Chance, ein stereotypisches Leben zu führen. Mir wird es verweigert, ich verweigere es mir selbst und nun stehe ich vor dem Fenster, blicke durch das Glas, und nehme die Welt in meiner ganz eigenen Perspektive wahr, die sich von so vielen anderen unterscheidet. Ich würde all das wieder tun, weil es mein Gewissen ist. Es ist die Entscheidung, vor der ich schon immer gestanden habe. Es ist die Entscheidung, vor der so viele Menschen, die ich so sehr liebe, die mir alle begegnet sind, die ich von meinen Wünschen, Träumen und Gedanken niedergeschrieben habe, ebenfalls immer standen: nach dem eigenen Gewissen zu handeln oder danach, glücklich zu werden. Wir können kein erfülltes Gewissen haben, das sich immer fragt, ob die Entscheidung richtig war, wenn wir nur an uns selbst denken, wenn wir den Anspruch einer Gesellschaft nachkommen, die auf die eine Leistung visiert ist. Ich werde stets für mein Gewissen kämpfen und die Ironie dahinter ist, dass ich erfolgreich bin, zumindest in meiner Einbildung. Ich bin erfolgreich in meinem Leben gewesen, ich habe mich durch mein Gewissen leiten lassen, ich wurde integer und die Strafe, für diesen so schlimmen Rechtsbruch war, dass ich nun auf das Mausoleum blicke, dass ich mit dem Haus gekauft habe, und mich fragen darf, warum ich dort alleine liegen werde. Fehler werden gemacht und darüber bin ich dankbar. Ich würde ihn wieder so machen, weil es mir wichtiger ist, für ein gutes Leben zu streben, als eins zu besitzen. Nur dadurch, dass ich mich schon so früh aufgegeben habe, wurde ich wohl in eine Position gebracht, so viel für andere übrig zu haben. Es ist eine gute Handlung - weil ich nicht an mich selber denke, zumindest bei dem, was ich aktiv tue. Ich stehe zwar für mich selbst ein, aber mein Ziel ist eine bessere Welt für alle. Ich denke aktiv an die Fehler, die ich in meinem Leben getan habe und lächle. Am Ende ist es das, was ich verdient habe. Das ist die Moral von dieser Erzählung, es ist eine, es ist meine ganz eigene. Es ist die, die ich mir selbst geschaffen habe, durch die Entscheidungen, die ich treffen musste und jene, die mir unweigerlich abgenommen wurden. Am Ende bereue ich die Dinge, auf die ich stolz gewesen bin. Ich bereue jene Dinge, von denen man mir glaubhaft gemacht hat, dass sie erstrebenswert sind. Und ich frage mich: waren sie das?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top