Kapitel 16

Als Charlie am Abend nach Hause kommt, liege ich in unserem Bett und starre die weiße Decke an. Die sterile Farbe lässt automatisch wieder die Erinnerungen hochkommen. Die weißen Krankenhauswände... die weißen Kittel der Schwestern... die Tücher... das gleißend helle Licht der OP-Lampe. Ich habe mich so nackt gefühlt, dort auf dem Operationstisch in dem blauen Kittel. Jeder hat mich angestarrt. Die Schwestern, die Ärztin, die Menschen hinter der Glasscheibe bei den Waschbecken für die Ärzte. Es war grausam. Ich habe mir nichts mehr gewünscht als in diesem Moment nach seiner Hand greifen zu können. Aber er war nicht da. An keiner Sekunde dieses Tages war er da. Er war nicht da, als der Krankenwagen kam, nicht, als ich kaum mehr laufen konnte, nicht, als ich vor Schmerzen so laut geschrien habe, wie noch nie in meinem Leben, nicht, als ich in diesem sterilen, hässlichen OP lag, und nicht, als ich weinend in meinem Bett lag und niemand da war. Ich habe nur die Wand angestarrt, weil ich den Anblick, der sich hinter mir bot, nicht ertragen konnte. Ich hätte ihn gesehen. Seine Augen, seine Nase, seine Haare. Nur ihn. Und das hätte mich zerstört. Lieber hätte ich mir selbst das Herz zerstochen als das mit anzusehen. Ich hätte es nicht überlebt.
„Scar? Alles ok?" Charlies besorgte Stimme reißt mich aus meinem Albtraum. Erschrocken blinzele ich und schlage nach der Hand an meinem Gesicht.
„Scarlett! Ich bin's!", sagt er und legt seine Hand auf meine. „Hey! Was ist los?" Ich schüttele nur den Kopf, da ich nichts sagen kann. Statt weiter zu fragen setzt er sich einfach nur neben mich und nimmt mich in den Arm.
„Hab' ich was falsch gemacht?", fragt er plötzlich. Vor Schreck vergesse ich meine eigentlichen Sorgen.
„Was?", frage ich verwirrt und befreie mich aus seiner Umarmung um ihn anzusehen. „Wie kommst du darauf?"
„Du weinst und wenn ich daran schuld sein sollte, dann will ich es wissen. Weil ich es dann nicht verdient habe, dich im Arm zu haben."
„Halt die Klappe!", rufe ich und schlinge die Arme um seinen Hals. Den Kopf an seiner Schulter gebettet flüstere ich: „Wehe du denkst das noch einmal. Ich bin die, die sich diese Frage stellen sollte." Er legt die Arme um mich und hält mich so fest, als könnte ich jeden Moment verschwinden.
„Das stimmt doch gar nicht.", sagt er.
„Ich... ich hab' dich angelogen.", sage ich. „Ich habe gesagt, ich würde dir alles erzählen, aber das habe ich nicht.", gestehe ich. Er antwortet gar nichts. Absolut keine Reaktion. „Bitte werde nicht sauer, wenn ich es dir sage."
„Du kannst mir alles sagen. Das weißt du doch.", sagt er nur. Seine Stimme klingt angespannt, als hätte er etwas Angst vor dem, was ich ihm sagen könnte.
„Es war vor etwa zwei Jahren.", fange ich an. „Kurz nach der Sache mit Will."
„Der Zauberer?", fragt er. Ich nicke.
„Er war gerade zwei Wochen weg, als ich es erfahren habe." Ich halte kurz inne, um mich zu beruhigen und die ungeliebten Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Charlie sagt nichts, sondern lockert nur den Griff um meine Mitte etwas. „Ich... ich war schwanger.", sage ich schließlich. Sofort spannen sich seine Armmuskeln an und ich spüre, wie er tief Luft holt, aber er schweigt noch immer. Nach einer gefühlten Ewigkeit regt er sich wieder.
„Wusste er es?", fragt er. Ich schüttele den Kopf.
„Und... was ist mit dem Kind passiert?", fragt er weiter.
„Ich war im Krankenhaus und es war ein Notkaiserschnitt nötig. Ich war ganz alleine, niemand war da. Ich war so froh, als es endlich vorbei war, aber ich konnte das Kind nicht ansehen. Ich hatte sowieso vor, es zur Adoption freizugeben, aber die Ärzte sagten, ich solle es mir noch einmal überlegen. Aber dann habe ich das Baby gesehen und ich wusste, dass ich es nicht schaffe, ihn anzusehen."
„Wegen ihm?", fragt er. Ich weiß sofort, wen er mit „ihm" meint: Will. Er hat seinen Namen noch kein einziges Mal ausgesprochen und ich verstehe das. Wer redet denn schon gerne über den Ex der Freundin?
„Er sah aus wie Will. Die Augen, die Haare, die Gesichtsform, die Nase. Es war er. Und ich wusste, dass ich es nicht schaffe, ihn anzusehen ohne an Will zu denken und welchen Hass ich auf ihn hatte, als er fortgegangen ist. Ich hätte immer ihn gesehen und das konnte ich nicht. Ich wollte es weder mir noch dem Kleinen zumuten.", schließe ich meine Erzählung.
„Wie heißt er?", fragt Charlie. Verblüfft über die Frage brauche ich einen Moment um mir die Antwort auf diese simple Frage klar werden zu lassen. Ich dachte, er wäre sauer, dass ich ihm ein so wichtiges Detail meines Lebens verheimlicht hatte, oder vielleicht genervt, weil das Gesprächsthema mal wieder mein Ex ist. Aber mit diesem Interesse hätte ich nie gerechnet.
„Leon."
„Schöner Name."
Das war's. Kein „Warum hast du es mir nicht gesagt?", kein „Wie konntest du nur dein Kind weggeben?", kein „Du warst von ihm schwanger und hast nicht abgetrieben?", kein „Vertraust du mir etwa nicht?". Absolut gar kein Kommentar, das meine Entscheidung auch nur annähernd in Frage stellen würde.
„Ist das alles?", frage ich und löse mich aus seiner Umarmung. „Du bist nicht sauer, nicht verwirrt, nicht -"
„Jetzt hältst du mal die Klappe, ok?", sagt er mit seiner angenehmen tiefen Stimme, die beruhigender auf mich wirkt als alles was ich kenne, und nimmt mein Gesicht vorsichtig in seine warmen Hände. „Das muss schrecklich gewesen sein... deinen Sohn wegzugeben. Und das tut mir Leid für dich. Aber ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Du träumst manchmal davon, oder?"
„Was?", frage ich überrascht.
„Manchmal... da redest du im Schlaf und weinst. Du beruhigst dich nur, wenn ich dich in den Arm nehme, aber wach kriege ich dich nie.", erklärt er. Fassungslos starre ich ihn an, während ein paar Tränen meine Augen verlassen und sich ihren Weg über meine Wangen bahnen. Er wischt sie weg und zieht mich zu sich. Erleichtert lege ich meinen Kopf an seine Brust und spüre, wie er mir über die Haare streicht.
„Ist gut...", flüstert er, als ich aufschluchze.
„Ich sehe immer diese Bilder. Alles ist voller Blut. Überall. Ich kann an nichts mehr denken als an die Schmerzen in meinem ganzen Körper. Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Immer wieder träume ich davon. Und ich kann es nicht unterdrücken.", sage ich. Er antwortet nichts, sondern streicht mir nur über den Kopf, und genau das brauche ich jetzt auch.
„Warum hast du mich nie danach gefragt?", frage ich schließlich, als ich mich beruhigt habe.
„Naja... ich dachte mir, du sagst es mir, wenn du bereit dazu bist. Mir war klar, dass dir was Schlimmes passiert ist. Da wollte ich dich nicht überfordern."
„Danke.", sage ich nur.
„Ich hätte eine Idee, wie ich dich auf andere Gedanken bringen könnte. Es sei denn, du willst einfach nur weinen.", sagt er.
„Das hab ich heute schon viel zu lange.", sage ich und versuche mich an einem Lächeln.
„Na gut.", sagt er und steht auf. Dann hält er mir seine Hand hin. „Komm, ich zeig dir was."

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