Kapitel 1
"Ich habe versucht dagegen zu kämpfen und dich zu verleugnen und ich kann es nicht. Ich schaffe das nicht. Ich kann dich nicht verleugnen."
~ O.C. California
---Ihre Sicht---
Ich trommele mit den Fingern auf das Fensterbrett des Busses und sehe zu, wie die vielen kleinen Wassertropfen an der vom Regen geputzten Scheibe hinabfließen. Das Buch in meinem Schoß ignoriere ich schon seit einer Weile. Stattdessen blicke ich starr aus dem Fenster und beobachte die Menschen, die sich mit bunten Regenschirmen durch die Menschenmassen drängeln. Die Schirme sind weit und breit die einzigen Farben. Alles ist grau. Die Straße, der Himmel, die Betonhäuser...
Der Regen wird stärker und klatscht so heftig auf die Straße, dass die Pfützen schlagartig voller werden. Zwischen den Häuserdächern erkenne ich einen Regenbogen - das einzige Trostspendende im Moment. Ein Zeichen, dass es noch nicht vorbei ist. Dass ich es noch schaffen kann.
Ich zucke etwas zusammen, als die Lautsprecherstimme ertönt. Noch zwei Haltestellen. Langsam werde ich nervös. Es ist das fünfte Vorstellungsgespräch innerhalb einer Woche und dieses Mal muss es einfach klappen. Ich kann es mir nicht leisten, noch länger arbeitslos zu sein. Ich brauche dringend einen Job. Nicht unbedingt um mich über Wasser zu halten, sondern für Ben.
Mein Studium habe ich abgebrochen, weil es einfach nichts für mich war. Ich war unendlich erleichtert, als ich endlich mit der Schule fertig war, da wollte ich nicht noch länger die Schulbank drücken. Theoretisches lernen ist einfach nichts für mich. Im Nachhinein bereue ich es etwas, aber ich schaffe es schon aus meiner Lage herauszukommen.
Der Bus fährt um eine Kurve, wodurch ich gegen das kalte Fenster gedrückt werde. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich zu spät bin. Na toll! Das wird mir mit Sicherheit schon einmal negativ angerechnet, bevor ich überhaupt da bin.
„Pünktlichkeit hat oberste Priorität!", höre ich beinahe jedes Mal, wenn ich dem Geschäftsführer gegenübersitze. Aber ich kann es nicht ändern, dass ich zu spät komme. Ich musste mich heute zuerst um Benny kümmern. Und das hat für mich nun mal oberste Priorität.
„Nächster Halt: Picadilly Circus!", tönt es aus dem Lautsprecher. Ich klappe mein Buch zusammen, stecke es in meine Tasche und erhebe mich von meinem Sitz. Dann drängele ich mich durch eine Traube von Menschen, steige aus dem Bus und hechte über die Straße in die kleine Bäckerei. Es sieht aus, als ob sie von den Gebäuden rechts und links von ihr eingequetscht werden würde, so hoch ragen sie in den Himmel.
Als ich eintrete, schellt die kleine Ladenglocke über mir. Ich lasse die Tür wieder zufallen und sehe mich um. Der Laden sieht aus wie ausgestorben. Alle mit rotem Leder bezogene Stühle und Bänke, sowie hölzerne Tische sind unbesetzt und es ist keine Menschenseele zu sehen, was mich allerdings nicht sonderlich verwundert. Schließlich ist es sechs Uhr abends und dazu noch Samstag. An einer Wand des Raumes hängt ein Bild, das viele Farben zeigt, die in unregelmäßigen Strichen auf der vollständig schwarz bemalten Leinwand verteilt sind. Ich muss schmunzeln, da mich das Bild an meine Studienzeit zurückdenken lässt. Ich hatte noch nie viel für Malerei übrig, obwohl ich bis vor wenigen Wochen noch Kunst studiert habe. Für mich stand - und steht immer noch - die Fotographie und das Zeichnen im Mittelpunkt. Diese wahllos auf die Leinwand geklecksten Striche sind für mich keine Kunst. Das kann jeder Erstklässler.
Ich sehe mich weiter im Verkaufsraum um und will mich gerade durch ein Räuspern bemerkbar machen, als ein großer Mann, den ich auf mindestens so alt wie ich schätze, hinter der Theke erscheint. Er hat braune Haare, olivgrüne Augen und ein freundliches Lächeln, das sich zu einem Grinsen verzieht, als er mich bemerkt.
„Guten Abend, was darf's denn sein?", fragt er und zeigt auf die Ware hinter ihm.
„Nichts, danke. Ich bin wegen dem Vorstellungsgespräch hier.", sage ich.
„Ah, dann sind Sie Scarlett Jones, richtig?"
„Ja, genau!"
„Ich bin Christopher Turner. Der Laden gehört meinem Vater.", erklärt er. Ich schüttele die Hand, die er mir hinhält. „Ich bring Sie zu ihm. Kommen Sie!", sagt er und führt mich an dem Gemälde vorbei hinter die Theke durch einen Gang in ein kleines Büro, in dem ein etwa 60-jähriger Mann sitzt, der Christopher - bis auf die Augen - sehr ähnlich sieht.
Der Mann hat sich über einen Berg Papier gebeugt und kritzelt mit einem blauen, zu klein ausgefallenen Kugelschreiber darauf herum. Christopher räuspert sich und der Mann schaut auf. Sein graues Haar hängt ihm etwas unordentlich ins Gesicht und verdeckt beinahe auch noch seine eisblauen Augen, die von runden Brillengläsern umrahmt werden.
„Dad, das ist Scarlett Jones.", stellt Christopher mich vor. Der Mann steht auf, richtet peinlich genau seine Brille und bleibt vor mir stehen.
„Ah, freut mich! Ich bin Colin Turner.", sagt er und reicht mir ebenfalls die Hand. „Setzen Sie sich doch!", sagt er und weist auf einen Stuhl.
„Viel Glück!", zwinkert sein Sohn und verlässt den Raum.
Eine halbe Stunde später stolziere ich dann überglücklich in den Verkaufsraum.
„Und?", fragt Christopher, der gerade dabei ist die Tische abzuwischen.
„Ich hab' den Job!", sage ich grinsend.
Er hebt einen Daumen in die Höhe und meint: „Da wir ja jetzt Kollegen sind, könnten wir uns doch eigentlich duzen, oder?"
„Klar.", sage ich erfreut. Das nenne ich mal ein angenehmes Arbeitsverhältnis.
„Also auf ein Neues: Ich bin Christopher, du kannst aber gerne Chris sagen!"
„Und ich bin Scarlett! Sag aber bitte Scar."
„Ok, wann fängst du an?", fragt er und räumt das Putzzeug in ein Fach hinter der Theke.
„Du sollst mich heute einweisen und dann komm' ich morgen um halb sieben."
„Super! Dann komm' mal mit!", sagt er und winkt mich hinter sich her in die Backstube.
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