Von Menschen gefangen

Zusammengekauert saß Sanna in einer dunklen Ecke des Verlieses. Die Männer hatten sie mit Ketten an eine der Wände gefesselt. Sobald die Tür jedoch verschlossen worden war, hatte sie sich durch das Wechseln ihrer Gestalt befreit. Nun war sie gefangen, nicht in dem fensterlosen Raum, sondern durch ihre Gedanken. Es wäre ein leichtes für sie gewesen durch den Spalt unter der Tür zu huschen, doch man hatte ihr mit dem Leben ihrer Schwester gedroht und es gab nichts mehr, was Sanna so wichtig war, wie Leda.

Leda war alles, was ihr geblieben war.

Ihre Schwester, ihre Führung, ihre Zuflucht.

Sanna drückte sich tiefer in die Ecke. Durch die schlechte Luft im Verließ war ihr übel. Es roch nach modrigem Laub, feuchtem Boden und Schimmel. Die Finsternis war erdrückend.

In ihrem ganzen Leben war die Sanna noch nie gefangen, geschweige denn eingesperrt in ein Steinhaus gewesen. Die Einsamkeit zermürbte sie und schließlich weinte Sanna leise. Weinte um ihre Schwester, weinte um ihren Stamm und weinte auch um sich selbst.

In dieser Dunkelheit hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren und sie erinnerte sich schon bald nicht mehr daran, wie lange sie gefangen war. Jeder Atemzug war zu lang.

Wie es Leda wohl erging?

Wann würde Sanna sie wieder sehen?

In ihre Ecke verkrochen, saß sie die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt, als sie auf die Stimmen vor ihrem Verlies aufmerksam wurde.

Mehrere Männer schienen sich zu unterhalten. Dann erklang metallisches Klirren und der Eisenriegel wurde schleppend zurückgeschoben. Eilig sprang Sanna auf die Beine, bevor sich die Tür öffnete.

Der Eingang wurde durch Fackelschein erleuchtet und schließlich traten zwei Bogenschützen mit gespannter Sehne ein und ihnen folgte der Hauptmann. Den Menschen war die Überraschung über Sannas fehlende Fesseln anzusehen, doch der Hauptmann überspielte diesen Reflex.

„Wenn Ihr uns keinen Ärger bereitet ist es für Euch zum Vorteil!", sagte der er ernst und fixierte sie.

Sanna antwortete darauf nicht und so fuhr er einfach fort: „Aus welchem Grund ..."

„Meine Schwester", unterbrach sie ihn.

„Zunächst beantwortet Ihr meine Fragen", fuhr der Mann verärgert über die Unterbrechung fort.

„Ich will zu ihr", verlangte Sanna.

„Das ist Euch nicht gestattet."

„Dann", die Frau wandte den Männern den Rücken zu, „spreche ich nicht!"

Der Hauptmann machte einen Schritt auf sie zu, erinnerte sich aber an ihre letzte Begegnung und besann sich eines Besseren.

„Ich kann die Entscheidung nicht treffen und Euch zu Eurer Schwester schicken", sagte er wahrheitsgemäß.

Sanna wandte sich um.

„Ich spreche mit Stammesoberhaupt!"

Die Männer wechselten verwirrt einen Blick und einen Augenblick schwiegen alle. Der Hauptmann sah sie abschätzend an, dann fragte er erneut: „Aus welchem Grund seid Ihr in unser Reich eingedrungen?"

Sanna wandte ihnen abermals dem Rücken zu und wartete, bis sie gegangen waren. Die Tür schloss sich wieder und Sanna wurde von der Dunkelheit verschluckt. Deprimiert rutschte sie an der kalten Wand hinab und weinte verzweifelt.

Mehrere Tage vergingen, in denen keiner der Mannen in ihrem Gefängnis auftauchte. Gelegentlich kam eine Frau herein und brachte ihr eine Schüssel grauen Getreideschleimes, den sie mit großem Hunger aß. Körperlich hatte sich Sanna vollkommen erholt, aber der beengende dunkle Raum nahm ihr die letzte Hoffnung. Ihr Geist befand sich in einem Tief und sie trauerte um ihre Schwester. Sie hatte sich inzwischen an die ständige Anwesenheit der Menschen gewöhnt und registrierte sie und ihren Gestank kaum noch.

Als der Hauptmann erneut in der Begleitung einiger Mannen kam, sie fesselten und ihr abermals die Augen verbanden, nahm Sanna es mit abgestumpften Gleichmut hin, ohne zu verstehen, was sie zu ihr sagten. Die Beklemmung wich mit einem Mal, als sie draußen die frische Luft in ihre Lungen sog und die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut spürte. Ein sanfter Wind wehte um ihr verfilztes Haar und sie reckte blind ihr Gesicht der Sonne entgegen.

Die kleine Eskorte führte sie einen Weg entlang. Sanna konnte die alltäglichen Geräusche der Siedlung hören. Das Geplapper der Menschen, das Hämmern auf Metall und das Meckern von Ziegen und Gänsen. In der Ferne plätscherte auch ein Bach und sie spürte kurzes Gras unter der weichen Sohle ihrer Lederstiefel.

Erst als sie wieder auf Stein und dann auf Holz trat, wurden ihre Schritte gehemmter. Der Griff um ihre Handgelenke unwillkürlich fester und bestimmter und schließlich trat sie in den Schatten eines Gebäudes.

In dem Menschenhaus roch es nach Kräutern, nach Krankheit und auch nach Tod, doch Sanna hatte sich auf einen einzigen Duft versteift: Den Geruch ihrer Schwester.

„LEDA!", rief Sanna sofort.

„Seid still", sagte der Hauptmann, „wir bringen Euch zu ihr."

Vor Aufregung begann sie am ganzen Körper zu zittern und schließlich hielt man sie an und jemand nahm ihr die Augenbinde ab. Sie befand sich in einem hellen Raum, in das sogar Sonnenlicht hineinfiel. Alles hier drin wirkte befremdlich und neu, doch dann sah Sanna ihre Schwester, die auf einem aufgebockten Lager lag. Verunsichert warf sie einen Blick zurück auf die Soldaten und der Hauptmann nickte, um sein Einverständnis zu signalisieren. Eilig trat Sanna näher heran und Leda öffnete die Augen, als sie die Anwesenheit ihrer Schwester bemerkte.

„Wie geht es dir?", fragte sie sofort und berührte ihren Arm, mit ihren gefesselten Händen.

„Besser", brachte Leda hervor, „ihre Schamanin, hat sich um mich gekümmert. Und dir?"

„Sie halten mich in einem Erdloch gefangen", flüsterte Sanna, die nun unfassbar erleichtert war, „aber es geht mir gut."

„Gut", antwortete Leda schwach und schloss kurz die Augen.

Sie sah blass aus.

„Wie lange sind wir schon hier?"

„Ich weiß es nicht", gab Sanna zu und senkte die Stimme weiter. „Es ist dunkel, ich sehe weder die Sonne noch den Mond. Aber wenn du gesund bist, werden wir fliehen, es ist leicht, Leda. Fürchte dich nicht!"

Ihre Schwester lächelte kaum sehbar, weil sie wusste, dass Sannas letzte Worte ihrer eigenen Beruhigung dienten.

„Das werden wir", sagte sie schwach.

Der Hauptmann trat näher heran und er sah zuerst Leda und dann Sanna an.

„Wie Ihr seht, kümmert man sich um Eure Schwester", sprach er ernst und die sie sah, dass er die Augenbinde in den Händen hielt. „Nun seid Ihr daran, uns unsere Fragen zu beantworten."

Sanna drückte Ledas Hand, um sich zu verabschieden.

„Fürchte dich nicht", sagte Leda ernst, als man Sanna erneut die Augenbinde anlegte und sie abführte.

Doch dieses Mal, schienen ihre Worte Sanna tatsächlich ein wenig zu beruhigen.

Man führte sie in ein anderes Gebäude. Ein seltsames Echo hallte bei jedem Schritt von den Wänden wider. Sie gingen auf Stein und hier schienen viele unterschiedliche Menschen einherzugehen. Als man sie anhielt, drückte ihr einer der Soldaten den Fuß in die Kniebeugen und Sanna knickte mit einem Ächzen ein. Ihre Kniescheiben schlugen schmerzhaft auf den steinernen Boden und sie fauchte ungehalten.

Dann nahm man ihr die Augenbinde ab.

Das helle Licht, das von den hohen bunten Oberlichtern auf sie herabfiel, blendete Sanna und sie kniff die Augen zusammen. Heftig blinzelnd, versuchte sie sich zu orientieren.

„Wie lautet Euer Name?", erklang eine klare und laute Stimme.

Sanna nahm die Person, die vor ihr thronte wahr, aber auch die Bogenschützen, die sie mit gespannten Sehnen flankierten.

„Der König hat Euch etwas gefragt!", zischte der Hauptmann und stieß sie am Kopf an.

„Havseid!", mahnte der Mann von dem Podest aus.

Sannas Augen gewöhnten sich allmählich an die Lichtverhältnisse und damit erkannte sie auch, dass es sich bei dem Mann vor ihr, um den Gleichen handelte, der Leda die Klinge an den Hals gehalten hatte.

Wütend fletschte sie die Zähne.

„Wie nennt man Euch, dort, wo Ihr herkommt?", wiederholte er abermals.

Sanna wurde sich der Ausweglosigkeit der Situation bewusst und immerhin mussten sie lange genug gefügig sein, bis Leda sich erholt hatte.

„Sanna", sagte sie schließlich und sah zu dem Mann hinauf.

Er war in ein Gewand gekleidet, von der Farbe der Bäume, des Waldes in dem sie wohnten. An manches Stellen glitzerte es, wie das Sonnenlicht. Sein schulterlanges braunes Haar fiel in leichten Wellen auf seine Schultern und auf dem Kopf trug er etwas, dass Sanna an einen metallenen Blumenkranz erinnerte. Sein Bart war so kurz, als sei er gerade erst gewachsen.

„Ist dies Euer vollständiger Name?", fragte er.

„Sanna", antwortete die sie nur und ließ die Ohren zucken, um auch die restliche Umgebung wahrzunehmen. Es war ein großer und aufwendig verzierter Raum aus dem hellen Holz der Tannen geschnitzt. Sogar die Wände trugen Kleidung aus Grün und Sonnenstrahlen es wirkte unwirklich und auch etwas beängstigend auf Sanna.

„Was seid ihr? Hexen? Illusionisten? Magier?", wollte er wissen.

Sie konnte mit all diesen Begriffen nichts anfangen und er sah an ihrem fragenden Blick.

„Ich sah Euch, als Berglöwe", sprach der Mann, „dann wieder als Mensch. Erklärt es mir!"

„Eine Gestalt kann man wechseln", antwortet Sanna schlicht, „eine Seele nicht."

„Ist das normal für euersgleichen?"

„Wechseln ist wie schlafen. Ist wie essen", erklärte sie. „Ist wie Freiheit ..."

„Was führt euch in unser Königreich?", fragte er weiter. „Warum reist ihr alleine?"

Es gab einen schmerzlichen Stich in Sannas Brust und sie senkte traurig den Kopf, bevor sie antwortete: „Unsere Heimat wurde zerstört ... von Menschen."

„Wann ist das geschehen?"

Sanna hatte darauf keine Antwort. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits hier gefangen waren. Also schwieg sie.

„Wer hat euch angegriffen?"

„Menschen", erwiderte Sanna, legte die Ohren an und ihre Abneigung spiegelte sich auch in ihrem Gesicht wider.

Der Mann auf der Anhöhe sah sie nachdenklich an. Dann sprach er leise zu einem der Männer an seiner Seite. Dieser verschwand für ein paar Augenblicke aus ihrer Sicht. Als er zurückkam, hielt er einen kopfgroßen Gegenstand in den Händen. Der Mann auf der Anhöhe nahm es an sich, stand auf und kam die Stufen zu Sanna hinab.

„Eure Hoheit, Ihr solltet nicht-", begann Havseid warnend, doch der er wurde mit einer einfachen Geste des Mannes zum Schweigen gebracht.

Und damit verstand auch Sanna, dass er das Stammesoberhaupt war.

„Trugen die Menschen, die eure Heimat zerstörten, das hier?"

Er hielt Sanna einen mitgenommenen Helm hin. Ein ausgebeultes Stück Metall, über dessen Visier eine violette Flamme geprägt war. Sanna erkannte sofort die Ähnlichkeit mit dem Helm, den sie auf der Ebene gefunden hatten und sie erinnerte sich auch an die Worte ihrer Schwester.

Sanna nickte.

„Ist Euch das Beweis genug?", fragte das Stammesoberhaupt ernst seinen Hauptmann.

„Sir ... ich ..." Sanna erkannte die Demut in seiner Haltung, verstand aber den Grund nicht.

Dann wandte sich das Oberhaupt ihr wieder zu.

„Wir werden Eure Schwester heilen", sprach er milde, „und Euch eine bessere Unterkunft gewähren, wenn Ihr niemanden angreift. Ich werde Euch bewachen lassen und eine Magd zur Seite stellen, die Euch versorgen wird."

„Gefangen?", fragte Sanna irritiert.

„Nicht Gefangen", sprach das Oberhaupt und gab den Bogenschützen ein Zeichen.

Diese senkten ihre Bögen, doch Sanna sah auch die Anspannung in dem Hauptmann.

„Gäste", sprach sein Oberhaupt und hob die freie Hand auf Brusthöhe.

Sanna zuckte unwillkürlich zurück, doch sie hatte diese Geste schon bei anderen Menschen beobachtet. Zögerlich legte sie ihre Hand auf seine und er nickte zustimmend.

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