Majors finstere Pläne
Sanna erwachte an jenem Morgen, weil sie von den Strahlen der Sonne im Gesicht gekitzelt wurde. Selig schlug sie die Augen auf und blinzelte. Es musste eine Ewigkeit hiergewesen sein, dass sie so erholsam und tief geschlafen hatte.
Sie fühlte sich kraftvoll und voller Tatendrang.
Der Duft der ælfischen Speisen lag in der Luft und ein Vogel sang in unmittelbarer Nähe. Als Sanna sich aufrichtete, sah sie, dass Leda am offenen Fenster saß und ihren Blick nach draußen gerichtet hatte.
„Hast du geglaubt, dass es einen so schönen Ort geben kann?", fragte Sanna und streckte sich.
„Es ist beinahe beängstigend", erwiderte Leda. „Ich hatte geglaubt ... dass es nirgends schöner sein kann, als in unserer Heimat."
„Es ist anders", meinte Sanna. „Aber hier ist es ruhig und friedlich."
„Das ist wahr", bestätigte Leda ernst. „Dennoch möchte ich so schnell wie möglich zurück zu unserem Volk, Sanna."
Die Ältere hatte sich erhoben und kam zu ihrer jüngeren Schwester herüber, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
„Wir brechen auf, sobald wir erfahren haben, wohin wir müssen!"
Sanna stimmte dem zu, wenngleich sie ein undefinierbares Ziehen in der Bauchregion empfand. Einen Moment lang fragte sie sich, was es sein mochte, doch dann brachte Leda ihr die Stiefel und forderte sie auf aufzustehen.
Als die Schwestern den gemeinsamen Wohnraum betraten, saß Avis bereits am Tisch und aß zum Frühstück.
Der pflanzliche Duft an ihm erinnerte Sanna an das Bad, das sie in seinem Dorf genommen hatte, und er hatte sich die Barthaare aus dem Gesicht entfernt. Als er die beiden sah, lächelte er freundlich und begrüßte sie.
Sanna verspürte noch gar keinen Hunger, doch der Appetit ließ sie trotzdem essen und so viele verschiedene Speisen wie möglich probieren.
„Man wird uns abholen und zu der Hütte begleiten, in der Filcusus lebt", erklärte Avis, als sie am Tisch saßen. „Er erwartet uns schon."
Sanna fiel der Helm des Soldaten auf, den Avis ihnen bereits in seiner Heimat gezeigt hatte. Der Helm mit den Wappen, der violetten Flamme. Leda sah mit einem finsteren Blick auf den Kopfschutz.
Nach dem Essen blieb nicht viel Zeit. Schon bald klopfte es an der Tür und die drei wurden von einer hübschen Ælfenfrau abgeholt. Sie stellte sich mit dem Namen Valerana vor und geleitete sie durch die Straßen zum Rand der Stadt. Die Häuser lichteten sich und wurden von immer mehr Bäumen und Sträuchern ersetzt. Auch die Musik und das Geschwätz entfernten sich.
Schließlich kamen sie zu einem kleinen Haus, mit einem üppigen Kräuterarten. Valerana öffnete das Gartentor und sah sich um, bevor sie ihre Gäste hereinbat. Sanna konnte auch sehen warum. Im hinteren Teil des Gartens lag eine seltsame Kreatur. Sie hatte den schlanken und muskulösen Körper einer großen sandfarbenen Katze, doch ihr Gesicht war menschlich. Die runden Ohren drehte sich nach vorne und sie setzte sich auf, um die Neuankömmlinge besser sehen zu können
„Rasch", sagte Valerana, schloss das Tor und klopfte an die Haustür, bevor sie eintrat. „Mein Herr, Eure Gäste sind angekommen."
Eilig schob sie die Tür hinter ihnen zu und durch das Fenster konnte sie sehen, dass die seltsame Katze sich nun ganz erhoben hatte. Die Gerüche in dieser kleinen Hütte waren scharf und erdrückend. Als wären die Pflanzen und Kräuter, die von der Decke hingen alle, die Sanna jemals gesehen hatte. Die Wände waren zwischen den Fenstern mit bunten Teppichen behangen. Sie zeigten historische Ereignisse der Ælfen, große Schlachten und schneeweiße schlangenähnliche Drachen. Es gab auch einen Wandbehang, der einen monströsen Schatten über den Hügel einer Schlacht zeigte und Sanna wurde sofort an die Legende erinnert, die ihr Avis in der Ruine von Enoria erzählt hatte.
„Avis Alitu von Abietia", sprach plötzlich die Stimme eines alten Mannes, der aus einem Nebenzimmer kam.
Sanna war überrascht einen Menschen zu sehen.
„Filcusus", erwiderte Avis, trat heran und ging vor dem alten auf die Knie und küsste dessen Handrücken. „Es ist schön, Euch noch einmal wieder zu sehen."
„Dafür kommt Ihr zur rechten Zeit", sprach er milde und deutete dem jungen König, sich zu erheben. „War Eure Reise beschwerlich?"
„Nicht beschwerlicher, als von dieser Jahreszeit zu erwarten", entgegnete Avis, „ich hatte jedoch angenehme Gefährtinnen. Darf ich Euch Sanna und Leda vorstellen."
Er wandte sich zu ihnen um und Leda trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Das veranlasste Sanna die Begrüßung zu übernehmen. Sie ging näher heran und reichte dem alten Mann die Hand, so wie sie es inzwischen oft bei Menschen und Ælfen beobachtet hatte.
„Sehr erfreut", sprach Filcusus.
Doch anstatt ihre Hand loszulassen, drehte er Sannas Handgelenk um und strich mit der freien Hand über den flaumigen Pelz ihres Handrückens.
Sanna erzitterte und bereute ihren ungestümen Mut, aber als der Alte seinen Blick hob, lächelte er und sprach: „Ich bin noch niemals jemanden wie Euch begegnet, Leda."
„Sanna", korrigierte sie und starrte in diese seltsamen verschwimmenden Augen.
Er trug etwas, dass einer kunstvoll geschmiedeten Einfassung kleiner Fenster glich und das Sanna nicht kannte. Das Gestell saß auf seiner Nase und die Augen dahinter waren im ständigen Wandel. Der Blick war zunächst klar, die Iriden blau, dann verschleiert, um im nächsten Moment braun zu werden. Sein langer weißer Bart hing ihm bis auf die Brust und die kahle Haut auf dem Kopf wurden von einer Mütze verdeckt.
„Es gibt nicht mehr viele vom Stamm der Sangoten", sprach er und ließ ihre Hand los.
„Sangoten", sagte Avis und half Filcusus in einen Sessel vor einem Tisch. „Ich dachte mir, dass Ihr sie vielleicht erkennen würdet. Sie sind auf der Suche nach einem Stamm, der hier im Norden liegt. Wir hatten gehofft, Ihr könnten ihnen dabei helfen, den Weg zu finden."
Valerana kam mit einem Tablett an den Tisch und schenkte allen eine klare süßlich duftende Flüssigkeit ein, während Filcusus traurig antwortete: „Diesen Stamm gibt es nicht mehr. Genauso wie die Stämme östlich und süd-östlich von hier. Vermutlich sind jedoch noch weiter betroffen."
„Was soll das bedeuten?" Leda trat energisch vor und sah den alten Menschen anklagend an. „Wo sind sie?"
„Niedergemetzelt", erwiderte Filcusus und trank aus seinem Kelch. „Systematisch und ohne einen Überlebenden. Ein ælfischer Späher hat uns vor einigen Monaten davon berichtet."
Fassungslos und ungläubig sahen die beiden Schwestern einander an. Avis ahnte es jedoch schon.
„Von wem wurden sie angegriffen?", fragte er.
„Abgesandte des Magiers Majors." Er sah den jungen König über den Rand seiner Brille hinweg ernst an.
„Abgesandte unter dem Banner der violetten Flamme?", fragte Avis und zog den Helm aus dem Beutel, den er mitgeführt hatte, hervor und gab ihn Filcusus.
Sanna trat etwas näher heran, um die Reaktion des Alten besser erkennen zu können. Seine runzeligen Finger berührten das Emblem und die Farben seiner Augen wechselten in rasender Geschwindigkeit.
„So ist es", sagte Filcusus endgültig und gab Avis den Helm zurück.
„Soldaten des Magiers?", fragte Sanna verwirrt und sah von Avis zu Leda. „Es waren nicht die Menschen, die uns sahen, die unseren Stamm angegriffen haben?"
„Major macht gezielt jagt auf euersgleichen", erklärte Filcusus. „Warum, das vermag ich nicht zu sagen, aber es liegt wohl im Geheimnis Eurer Fähigkeiten begraben."
Sanna wurde schwindelig. Ihre Beine gaben nach und sie kniete sich auf den Boden. Sie war gar nicht schuld an dem Angriff auf ihr Dorf gewesen. Die Information sickerte wie zähflüssiges Baumharz in ihre Gedanken.
Leda blieb in der Ferne stehen und beobachtete die Szene kritisch.
„Es bedeutet aber auch, dass ihr weiterhin in Gefahr seid", sprach der Alte.
„Und unser Stamm", schloss Leda.
„Wenn es noch mehr von euch gibt ... ja."
„Wir müssen sie warnen", sagte Leda und trat an Sanna heran. „Sofort, steh schon auf!"
„Dafür könnte es schon zu spät sein." Der Alte sah sie aus traurigen Augen an. „Majors Macht steigt stetig. Sein Begehren nach Rache, mit jedem Atemzug. Er hat so viele Leben auf dem Gewissen. Ganze Städte ausgelöscht."
„Gibt es niemanden, der ihm Einhalt gebietet?", fragte Avis drängend.
„Es gab sie", sprach Filcusus ernst. „Der Orden er Erzmagier wäre im Stande gewesen Majors Machenschaften zu unterbinden, doch er kam ihnen zuvor. Der Vaillanc, das Zentrum der Erzmagier, wurde am Tag ihrer Versammlung gesprengt und hat die ganze Stadt unter sich begraben. Die mächtigsten des Ordens kamen dabei ums Leben."
„Sein Werk?", fragte Avis ungläubig.
„Das ist sehr wahrscheinlich", schloss Filcusus. „Es gab zuvor ein gescheitertes Attentat auf den abtrünnigen Magier, das ihn warnte. Er hat sich des Problems auf eine sehr perfide Weise entledigt."
„Und dabei unzählige Unschuldige getötet."
„Menschen bedeuten ihm nichts, Avis", beschwor der Alte. „Es gibt Stimmen, die sagen, er habe das Ziel, sie alle zu vernichten, einen Genozid zu vollziehen."
„Warum?", fragte Sanna und sah zu ihm auf. „Warum tut er so etwas?"
Filcusus lachte traurig, bevor er antwortete: „Unser derzeitiges Streben ist stets in unserer Vergangenheit verankert. Magier, die nicht lernen mit ihrer Magie umzugehen und auch solche, die sich nicht den Gesetzen des Ordens unterwerfen, sind äußerst gefährlich. Ich warne schon so lange davor ..."
Avis antwortete darauf nicht. Etwas scharrte an der Tür und Filcusus sah zu Valerana herüber und sagte: „Lass sie herein."
„Aber Herr", begann die Ælfin, wurde jedoch von dem Alten unterbrochen.
„Sie tut niemanden etwas, solange ich hier bin."
Valerana öffnete die Tür und und blieb dahinter stehen, als die seltsame Katze den Raum betrat. Mit ihren merkwürdigen schlitzförmigen Pupillen in dem menschlichen Frauengesicht bedachte sie die Besucher der Reihe nach, bevor sie zu Filcusus ging und sich neben seinem Sessel niederließ. Sie war so groß, dass der Alte mühelos seine Hand auf ihren Kopf ablegen konnte, um sie zu kraulen.
„Das ist Sira", erklärte er nebensächlich, „eine Sphinx. ich fand sie vor vielen Jahren nach einem Sturm am Fuße des Berges. Völlig ausgehungert und entkräftet. Ich kümmerte mich um sie und seitdem kümmert sie sich um mich."
Langsam ließ die Sphinx sich zu Boden sinken und überkreuzte die Vordertatzen, während sie die Gäste weiterhin kritisch beobachtete. Avis nahm den Blick von dem wundersamen Wesen. Dann fragte er leise: „Gibt es denn irgendetwas, dass wir tun können?"
Filcusus hob den Kopf und sah mit klaren gelben Augen zu dem König auf, bevor er sagte: „Glaube nicht, Avis, dass euer Weg zufällig war."
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