Im Königreich der Ælfen

Sie verblieben zwei Nächte in den Ruinen von Enoria, denn der Sturm wütete weiter. Der darauffolgende Tag begrüßte sie jedoch mit einem klaren Himmel und den wärmenden Strahlen der Sonne. Der Duft des Regens, von feuchter Erde und Gras erhob sich in die Luft.

Sanna sog sie mit geschlossenen Augen auf und füllte ihre Lungen damit und für einen kurzen Augenblick spürte sie wieder den inneren Frieden. Der Frieden, den ihr seit der Verbannung abhandengekommen war. Für einen Moment war sie glücklich. Um diesen Gefühl Ausdruck zu verleihen wandte sie sich um und suchte nach ihrer Leda, um sie zu umarmen.

Doch der trübsinnige Blick aus den grünen und getrübten Augen ihrer Schwester brachte Sanna zurück in die Realität. Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb.

„Wie lange werden wir noch Reisen?", fragte Sanna, als sie gemeinsam aufbrachen.

Avis führte sein Pferd vorsichtig zwischen den steinernen Trümmern hindurch.

„Es sind noch ein paar Tagesmärsche bis zum Wald", erklärte er ernst. „Wie lange wir den Ælfenwald durchqueren müssen, um ihre Stadt zu erreichen, weiß ich nicht."

„Werden Sie uns freundlich empfangen?", fragte Sanna, die neben Avis ging, während Leda mit Abstand folgte.

„Die Ælfen sind ein friedliebendes Volk", sagte er. „Wenn man ihnen mit Respekt und Freundlichkeit begegnet, werden Sie dies auch mit uns tun."

„Auch wenn wir in ihr Revier eindringen?", fragte Leda missmutig von hinten.

Avis warf einen kurzen Blick zurück, bevor er antwortete: „Ich denke schon."

Doch Sanna sah einen Hauch von Zweifel in seinem Gesicht.

Der Rest der Reise blieb ereignislos.

Sanna und Leda fühlten sich sichtlich wohler, als sie endlich den Wald erreichten, konnten jedoch keinen Unterschied, zu ihrem Heimatwald feststellen. Sie folgten einem gewundenen Pfad, der von Wildtieren getrampelt worden war und übernachteten am Ufer eines Sees.

Sanna sah, wie Avis am Abend die Karte studierte und zum Schluss kam, dass sie dem Seeufer in Richtung Osten folgen mussten.

„Wir sind ganz in der Nähe", erzählte Leda, als sie von ihrer abendlichen Runde zurückgekommen war. „Es gibt Zeichen an den Bäumen und ich fand das."

In der Hand hielt sie ein kleines spitzes Metall.

Avis nahm es ihr vorsichtig ab, um es genauer zu betrachten.

„Eine Pfeilspitze", erklärte er und gab es Leda zurück. „Vielleicht treffen wir morgen schon auf sie."

Ledas schaute beunruhigt drein, sagte jedoch nichts. Stattdessen gab sie Sanna die Pfeilspitze, die sie neugierig begutachtete, bevor sie sich weiter um das Schüren des Feuers kümmerte.

„Wie sehen Ælfen aus?", fragte Sanna, die inzwischen mit Avis sprach, wie mit einem ihrer Stammesgenossen.

Ihr fiel nicht auf, wie sehr Leda dies missfiel.

„Ähnlich wie Menschen", erklärte Avis, der nun dem zweiten Kaninchen das Fell abzog, damit sie es zubereiten konnten. „Jedoch größer und feingliedriger ... manche sagen auch schöner."

„Habt Ihr schon welche gesehen?", fragte Sanna und vergrub ein paar Knollen in der Glut, um sie zu garen.

„Nein", gab der König aus dem Walde zu.

„Woher wisst Ihr es dann?"

„Aus Büchern", erwiderte Avis schmunzelnd, „und aus Geschichten."

„Was sind Bücher?"

„Menschen bewahren darin ihr Wissen", sagte er. „Man schreibt Worte auf. Kennt ihr das nicht?"

„Unser Volk hat Zeichen", versuchte Sanna zu erklären. „Zum Warnen und für Wege. Wir haben auch-"

„SANNA!" Wütend unterbrach Leda die Erzählungen.

Dass ihre jüngere Schwester die Geheimnisse ihres Stammes mit einem Menschen teilte, erzürnte sie.

„Es sind nur wenige Worte", verteidigte sich Sanna.

„Das ist egal", fauchte Leda. „Wann wirst du dich an Regeln halten? Hast du es, nach allem, noch immer nicht gelernt?!"

Es war ein gezielter Schlag, der sie traf. Sanna ließ den Kopf hängen und wandte sich vom Feuer ab. Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten.

„Ich werde eure Geheimnisse nicht weitertragen", versuchte Avis zu schlichten. „Ihr könnt mir vertrau-"

„Ihr seid ein Mensch", fauchte Leda zornig und erinnerte vermehrt an eine Wildkatze. „Menschen haben unsere Heimat zerstört! Menschen haben Mifa und Löven getötet. Und du redest mit ihm, als sei er einer von uns!"

Sanna wehrte sich nicht, zeigte auch keine Anzeichen des Widerspruchs. Avis wunderte sich darüber, doch er hielt sich aus dem Konflikt heraus.

„Hör auf!", warnte die Ältere abschließend.

Sanna warf ihr unter dem Vorhang ihrer verfilzten sandfarbenen Haare einen unterwürfigen Blick zu. Es bedurfte keiner Worte. Leda wand sich schließlich ab und verschwand wieder im Wald. Sie würde erst in der Nacht wiederkehren.

Sie ließ ihre beiden Gefährten in einer bedrückten Stille zurück und Sanna rollte sich nach der Mahlzeit in ihr Fell ein und weinte sich leise in den Schlaf.

Als sie am nächsten Tag weiterreisten, blieb Sanna an der Seite ihrer Schwester. Avis ging mit seinem Pferd voran und suchte einen Weg durch den immer wilder werdenden Wald. Die jungen Bäume wurden von alten Zeugen der Zeit abgelöst, dessen Kronen man vom Waldboden aus gar nicht sehen konnte.

Immer wieder kamen sie von ihrem Weg ab, weil sie eine Wasserstelle, einen Fluss oder einen kleinen Teich umgehen mussten. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel, dem Quaken von Fröschen und dem Säuseln des Windes.

Es war ein natürliches Paradies und es gab keine Anzeichen einer Zivilisation. Sanna hoffte, dass sie auf die Führung von Avis vertrauen konnten. Als Leda stehenblieb und lauschte, tat sie es ihr gleich. Avis schien derweil keine Notiz von ihnen zu nehmen und folgte dem schmalen Trampelpfad, den sie gefunden hatten.

„Riechst du das auch?", fragte Leda ihre Schwester.

Sanna hielt die Nase in den Wind. Sie vernahm einen Hauch von Schweiß und auch Haar und weitere Gerüche, die sie nicht kannte.

„Sind das Ælfen?", fragte sie leise.

„Ich glaube schon", antwortete die Ältere und lauschte. „Die Pfeilspitze war zu alt, es waren keine Gerüche mehr daran."

Sie nahm noch einmal die Metallspitze aus der Tasche und beschnupperte sie. Doch sie roch nur nach Metall und dem erdigen Duft des Waldbodens. Die beiden Frauen wandten sich um und bemerkten, dass Avis bereits aus ihrer Sicht verschwunden war.

„Er läuft blind in ihre Fallen", sprach Leda verächtlich und ging voran, um ihn einzuholen.

„So wie wir einst in ihre", flüsterte Sanna so leise, dass ihre Schwester es nicht hören konnten.

Tatsächlich fanden sie den König des Waldes zusammen mit seinem Pferd auf einer Lichtung, nicht weit entfernt. Um ihn herum standen mehrere bewaffnete Bogenschützen in schimmernden Rüstungen.

Sanna hatte noch nie so wundervolle und anmutige Menschen gesehen. Ihre Bewegungen waren flüssig und so elegant wie die eines Schwans. Leda duckte sie auf den Boden herab, aber die Ælfen hatten sie trotzdem im Dickicht wahrgenommen. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstanden, schließlich rief Avis über die Lichtung: „Sanna! Leda! Zeigt Euch bitte. Ihr seid in meiner Begleitung!"

Leda zögerte und kauerte am Boden, doch Sanna erhob sich und sah, wie die Ælfen interessiert zu ihr herüber spähten.

„Komm", forderte sie ihre Schwester auf und ging einfach los.

Leda knurrte, wie ein wütender Wolf.

Die Jüngere betrat die Lichtung. Ihre Schritte wurden von dem saftigen Moos gedämpft. Neugierig kam sie näher, blieb jedoch in gebührenden Abstand stehen. Avis strahlte allerdings eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sie beruhigte.

Einer der Ælfen kam an sie heran, doch alle hatten inzwischen ihre Bögen gesenkt. Sein Haar war so hell und strahlend, wie die Sonne und er sah aus Augen auf sie herab, die dem Himmel glichen. Sanna hatte noch nie ein vergleichbares Wesen gesehen und empfand unwillkürlich Demut, in dessen Anwesenheit.

„Ihr seid keine Menschen", stellte er mit einer angenehm klingenden Stimme fest.

Sanna schüttelte nur mit dem Kopf und der Ælf lächelte freundlich.

„Mein Name ist Leignir. Ich heiße Euch und Eure Schwester willkommen in dem Königreich Silvacra!"

„Danke", hauchte Sanna atemlos.

Sie wandte sich um und sah Leda, die nur wenige Schritte von ihr entfernt stand und die beiden beobachtete. In ihrem Gesicht erkannte sie gleiche Ehrfurcht, die sie selbst empfand.

„Wenn ihr uns folgt, werden wir euch den schnellsten und einfachsten Weg in die Stadt zeigen."

Sanna nickte, wartete jedoch noch darauf, dass Leda zu ihr aufschloss. Dicht aneinandergedrängt folgten sie eskortiert von mehreren Ælfen auf einen gepflegten Weg. Man führte sie an einer von Wasser benetzten Felsformation vorbei auf einen Tunnel zu. Sanna hatte Dunkelheit erwartet, doch die Tunnelwände waren bearbeitet und mit Zierrat und Skulpturen geschmückt. Immer wieder waren seltsam leuchtende Steine in den Fels eingelassen, deren eigentümliches gelb-grünliches Glimmen genügend Licht spendete, um den Tunnel auszuleuchten.

Sie gingen nicht weit, bis das Ende in Sicht kam. Das helle Leuchten am Tunnelende kündigte eine große Lichtung an, doch als sie wieder unter den freien Himmel traten, wurden ihre Erwartungen weit übertroffen.

Vor ihren Augen eröffnete sich eine Stadt, wie sie sich sie nie hätten ausmalen können. Zwischen den filigranen Steinhäusern mit begrünten Dächern standen mächtige Bäume, dessen Kronen sich beinahe berührten. Leise Musik drang aus dem Tal zu ihnen und das Geplätscher von Wasser mischte sich darunter.

Selbst Avis sah staunend und mit großer Ehrfurcht auf das Reich herab. Die Ælfen führten sie über eine lange Brücke in ihr Königreich, doch nur einer von ihnen begleitete sie durch die Stadt. Die Blicke der Bewohner waren neugierig, dennoch höflich. Sanna sah wie rufende Kinder sich auf einem Platz über ihren Köpfen versammelten und interessiert auf sie herabblickten. Sie gingen eine Weile zwischen den Häusern hindurch und Sanna wusste nicht, ob sie sich noch in einem Wald, oder doch in einer Stadt befanden.

Der Ælf, der sie begleitete, brachte sie in eines der kleineren Häuser und zeigte ihnen ihre Zimmer, bevor er sich von Avis verabschiedete.

In gebrochenen Worten bedankte dieser sich auf ælfisch bei dem jung wirkenden Mann der die Tür hinter sich schloss. Trotz dessen, dass sie sich scheinbar in einem Haus befanden, fühlte Sanna sich nicht eingeengt oder gefangen. Es war nicht mit den Häusern der Menschen zu vergleichen. Es war nicht ausmachen, ob das warme Holz, das sich in organischen Formen um sie schmiegte, noch lebendig war.

Avis wandte sich zu den beiden jungen Frauen um, als der Ælf fort war.

„Ihre Gastfreundschaft steht uns auf unbegrenzte Zeit zur Verfügung", erklärte er. „Wir mögen uns ausruhen und erholen. Man wird meinen alten Freund über unsere Ankunft informieren und vielleicht kann ich ihn schon morgen treffen."

„Was ist mit uns?", fragte Leda sofort.

„Ihr könnt mich gerne begleiten, wenn ihr das möchtet."

Leda sah Sanna kurz an, dann sagte sie: „Wir möchten so bald, wie möglich zu unserem Stamm aufbrechen!"

Avis nickte zustimmend.

Sanna fühlte sich in ihre Kindertage zurückversetzt. Alles war neu und aufregend. Was ihr in der Welt der Menschen einst Sorge bereitet hatte, empfand sie nun als spannende Entdeckungsmöglichkeit. Die Ælfen verfügten über ausgeklügelte Technologien, die ihre Vorstellungskraft überstieg. So gab es immer fließendes frisches Wasser in ihren Häusern und von dem steinernen Boden ging eine angenehme Wärme aus, die eine Feuerstelle erübrigte. Auf den begrünten Dächern und Straßen tummelten sich zahlreiche Insekten und Kleintiere. Die Ælfen schienen auf eine ganz andere Weise, als ihr eigener Stamm mit der Natur zu leben. Doch es funktionierte.

Am Abend brachte man ihnen ein ausladendes Mahl mit süßen Speisen und Früchten die weder die Schwestern noch Avis kannten. Selbst das blutrote Wasser, das man in glitzernde Kelche statt in irdene Becher servierte, schmeckte süß. Die Völlerei ließ Sanna jedoch schnell flapsig und auch müde werden.

Leda beobachtete ihr Gebaren mit kritischem Blick und beschloss schließlich, dass es Zeit zum Schlafen war. Trotz des großzügigen Platzangebotes legten sich die beiden Schwestern in ein Lager und schliefen gemeinsam im Schein des zunehmenden Mondes ein.

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