Die violette Flamme
Als Sanna und Leda den Wald hinter sich ließen, erstreckte sich vor ihnen ein Meer aus Gras. Irritiert blieb Sanna am Waldrand stehen. Noch nie hatte sie eine so weitläufige Ebene gesehen, die so wenig Schutz bot. Es gab nur ein paar Büsche und vereinzelte Bäume und kleine Herden Vieh. Es war beängstigend und als sie zu ihrer Schwester hinübersah, erkannte sie, dass es ihr ähnlich ging.
„Was tun wir jetzt?", fragte Sanna verunsichert.
Leda antwortete zunächst nicht.
„Wir", sagte sie zögernd und klang nicht überzeugend, „gehen einfach weiter."
Keiner der beiden rührte sich.
„Was soll schon passieren", sprach Leda und deutete in die Ferne, „dort hinten beginnt ein anderer Wald."
Auch Sanna konnte ihn sehen, doch er schien ein halbes Leben entfernt zu sein. Ihn noch vor Anbruch der Nacht zu erreichen war unmöglich.
„Wir werden zu Wölfen wechseln", beschloss Leda schließlich, „und von Gestrüpp zu Gestrüpp ziehen.
Und ohne einen Einwand abzuwarten, nahm sie die Gestalt eines schwarzbraunen Wolfes an. Sanna tat es ihr gleich. Ihr sandfarbenes Fell stand im Kontrast zu dem ihrer Schwester und gab ein wundersames Bild ab.
Sanna spitzte die Ohren, hörte das Geraschel der Mäuse im Laub hinter ihr und das gleichmäßige und gediegene Getrampel von Hufen. Von der Ebene wurde der Duft von Beutetieren zu ihr herangetragen. Sie hob den Kopf, um die Fährte aufzunehmen, als die schwarze Wölfin lostrabte. Reflexartig lief Sanna hinterher, leckte ihr im Vorbeilaufen die Lefzen und sprang dann voraus. Die Schwarze folgte vergnügt. Spielerisch durchquerten sie die Ebene, liefen interessanten Gerüchen nach und erwischten beinahe ein Kaninchen. Während Sanna ihrem Instinkt folgte und zu graben begann, kam die Schwarze zurück und rügte sie tief knurrend. Mit eingezogener Rute duckte sich die Sandfarbene ab und lief wieder energiegeladen voraus.
Die Sonne sank tiefer und die beiden Wölfe trabten, mit den Nasen auf dem Boden weiter. Sie schreckten einen Schwarm bodenbrütender Vögel auf und plünderten ein paar Nester, bevor sie weiterzogen und ihre Schritte immer langsamer, immer gemächlicher wurden.
Es war schließlich Leda, die zuerst ihre Gestalt wechselte und gleich auf dem abgegrasten Boden sitzen blieb. Die sandfarbene Wölfin holte sie mit Leichtigkeit ein und leckte vergnügt ihr Gesicht ab.
„Lass, das Sanna!", wehrte Leda ab und schob sie fort.
Dann nahm auch ihre Schwester wieder ihre natürliche Form an. Erschöpft glitt sie rücklings auf den Boden und ließ die vergangenen Eindrücke auf sich wirken. Noch immer schmeckte sie den sämigen Dotter im Mund. Unwillkürlich leckte sie sich über die Lippen.
„Den Wald erreichen wir heute nicht mehr", räumte Leda ein. „Du hast viel zu viel getrödelt."
„Das war es Wert", antwortete Sanna nur, schloss die Augen und legte sich die Hände auf den gefüllten Bauch.
Für einen kurzen Moment lang hatte sie tatsächlich all ihre Sorgen vergessen. Doch mit dem menschlichen Bewusstsein kamen auch diese allmählich zurück. Als sie die Augen öffnete, sah sie weiße Wolken über sich hinweggleiten.
„Wir sollten uns einen Ort für unser Lager suchen", sagte sie ohne den Blick vom Himmel zu nehmen.
„Das Gestrüpp dort hinten sieht geeignet aus."
Unter Anstrengung setzte Sanna sich auf und folgte dem Blick ihre Schwester. Nicht weit entfernt stand eine Insel aus Sträuchern und Büschen. Murrend stimmte sie zu.
„Dann lass uns sofort aufbrechen, ich bin müde."
Leda half Sanna auf die Beine und mit schweren Schritten näherten sie sich dem auserkorenen Versteck. Als sie hineinkrochen schreckten sie allerlei Kleingetier und Vögel auf, doch im Innern richteten sie sich eine Nische ein, in der sie bequem und ungestört liegen konnten. Während Leda noch lange wach lag und über ihre Gedanken brütete, war Sanna bereits vor dem Sonnenuntergang eingeschlafen. Die Reise und das Halten der fremden Gestalt, hatten an ihren Kräften gezehrt.
Sie träumte von ihrem Stamm. Von der Jagt, Tanz und dem Klang der Trommeln.
Trommeln?
Sanna schlug die Augen auf, doch das rhythmische Trommeln war noch immer zu hören. Es war dunkel und ihre Schwester schlief neben ihr. Dann nahm Sanna das Vibrieren des Bodens unter sich wahr und verstand nun, dass das Geräusch nicht von Instrumenten herrührte. Es kam von Pferdehufen. Doch das allein hätte sie nicht verängstig. Es war das Geschrei von Menschen, dass ihren Puls sofort in die Höhe trieb. Starr vor Angst klammerte sie sich an ihre Schwester und Leda erwachte. Auch sie brauchte ein paar Atemzüge, um die Bedrohung wahrzunehmen.
„Sie kommen näher!", zischte Sanna panisch.
Leda hob vorsichtig den Kopf und legte ihrer Schwester eine Hand auf den Mund.
„Hier wird uns keiner entdecken", flüsterte sie. „Bleib still."
Die Jüngere nickte und Leda nahm ihre Hand weg und die beiden Frauen duckten sich flach auf den erdigen Boden.
Die Tiere kamen immer näher und schließlich waren auch Reiter erkennbar. Zwischen dem Wiehern der Pferde und den Schreien der Männer mischten sich nun Schläge auf Metall, Schläge auf Leder und Schläge auf Fleisch. Der Geruch von Blut wurde von der Nachtluft herangetragen und die Schlacht näherte sich ihrem Unterschlupf.
Leda deutete an, tiefer in das Dickicht zu robben. Sie duckten sich unter dem dünnen Geäst hindurch und rückten dichter aneinander. Zitternd schmiegte Sanna sich näher an ihre Schwester. Die Erinnerung an die Nacht, in der ihr Dorf überfallen worden war, kam zu ihr zurück und quälte sie erneut.
Zwei Reiter verstrickten sich direkt vor dem Gestrüpp in einem Zweikampf zu Pferd. Sanna konnte die Angst ihrer Rösser spüren und wendete den Blick ab, bis einer von ihnen zu Boden stürzte und reglos liegen blieb. Das reiterlose Pferd ergriff die Gelegenheit zur Flucht und Sanna konnte es ihm nachfühlen.
Ein weiterer Kämpfer griff den Sieger zu Fuß an, war jedoch deutlich im Nachteil und der Reiter besiegt ihn schnell. Der Kopf des Angreifers rollte in die Hecke und Sanna konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den verzerrten Gesichtsausdruck sah. Leda stieß ihr hart in die Seite.
Auch der Reiter hatte ihren Schrei vernommen, wendete sein Reittier und trabte zurück. Er umritt die Hecke und als er keinen Feind fand, hielt er kurz an. Sanna erhaschte einen Blick auf ihn. Er war groß, seine Beine berührten fast den Boden, er trug eine Rüstung, und darüber einen Umhang aus grünem Stoff. Sein Pferd schnaubte ungeduldig und schließlich kam er zu dem Entschluss, sich verhört zu haben, wendete sein Ross und spornte es an, den anderen zu folgen.
Erleichtert atmete Sanna auf. Ihr Herz pochte unkontrollierbar.
„Das war sehr knapp", flüsterte Leda.
„Tut mir leid", antwortete ihre Schwester, die noch immer auf den verzerrten Gesichtsausdruck des Kopfes im Helm starrte.
Den Rest der Nacht, verblieben sie reglos in ihrem Versteck und warteten darauf, dass die Menschen verschwanden. Das Treiben hielt beinahe bis zum Morgengrauen an. Nach der Schlacht wurden die Opfer auf einen Haufen geworfen und verbrannt. Am Morgen stieg eine große schwarze Wolke in den Himmel.
Die Reiter waren verschwunden.
„Hast du gesehen, woher sie gekommen sind?", fragte Sanna, als sie sich allmählich aus ihrem Versteck trauten.
Leda kam hinter ihr her und in den Händen hielt sie den Helm mit den Kopf. Als Sanna sich umwandte, zuckte sie überrascht zusammen.
„Was tust du damit?", fragte sie entsetzt.
„Dieses Zeichen", erklärte Leda und zeigte auf die violette Flamme, die auf den Helm geprägt war, „trugen auch die Reiter, die unser Dorf überfielen."
Sanna trat überrascht näher an ihre Schwester heran und fragte: „Du hast sie gesehen?"
„Bevor wir auf dich trafen, ja." Leda schüttelte den abgetrennten Kopf aus dem Helm, um ihn genauer zu betrachten. „Was hat das zu bedeuten?"
Darauf hatte Sanna keine Antwort.
„Lass uns nachsehen", sagte sie und deutete auf den Scheiterhaufen.
Leda ließ ihren Blick über die Ebene schweifen, doch von den siegreichen Reitern war nichts zu sehen.
In Ferne konnten sie noch ein paar entkommene Streitrösser erkennen, die nun grasten.
Die Ältere stimmte zu. Gemeinsam näherten sie sich dem schwelenden Haufen aus Asche und Knochen. Es roch nur noch nach Ruß, Rauch und Erde. Die Rüstungen waren verkohlt, aber erhalten und das Wappen, das Leda auf dem Helm bemerkt hatte, setzte sich auch auf ihnen fort.
„Das verstehe ich nicht", gab Sanna zu. „Die Menschen, denen wir begegnet sind sie waren ... Das waren doch nicht sie, oder?"
Leda zuckte mit den Schultern.
„Das werden wir von ihnen nicht mehr erfahren", gab sie schlicht zur Antwort und warf den Helm zu den anderen Überresten.
Dann wandte sie sich um und fixierte den Wald, den sie am vergangenen Tag hatten erreichen wollen.
„Lass uns aufbrechen", sagte sie nur. „Ich möchte keine weitere Nacht auf dieser Ebene verbringen."
Sie ging voran und Sanna folgte ihr zögernd, mit einem Blick zurück auf die schwelenden Überreste der Kämpfer.
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