Die Bitterkeit vergangener Wunden

Suvraïn setzte sie an einer abgelegenen Stelle in den Bergen ab. Vollkommene Dunkelheit umhüllte sie. Nicht einmal das Licht des Mondes drang durch die dichte Wolkendecke. Die Pupillen der Sangotinnen weiteten sich enorm und trotzdem reichte das Umgebungslicht kaum aus, um viel zu erkennen.

Avis war nahezu blind.

„Ich führe Euch", flüsterte Sanna und griff nach seiner Hand.

Die Berührung hinterließ ein kribbelndes Gefühl in ihrer Bauchgegend und sie erschauderte leicht.

Leda sah sie fragend an.

„Wohin gehen wir?", wollte sie wissen.

„Zunächst hinab", bestimmte Sanna.

Langsam begannen sie mit dem Abstieg, bedacht darauf keinen Laut zu verursachen, der sie verraten könnte. Sanna sah die Stadt in der Ferne und auch die Burg und ganz in der Nähe einen abgelegenen Turm. Sie beschrieb Avis die Landschaft.

„Wir sollten beim Turm beginnen", meinte Avis. „Es ist Tradition unter Magiern ihr Wissen in Türmen aufzubewahren."

„Er ist auch am nächsten", sprach Sanna erleichtert, „dann werden wir nicht so schnell entdeckt."

Doch es dauerte lange, bis sie den Berg hinter sich gelassen hatten. Die scharfkantigen Felsen im Dunklen zu überwinden stellte eine Herausforderung für sie dar. Ab und an rieselten kleine Steine und auch ein größerer Brocken in das Tal herab und zwangen sie zum Innehalten. Doch scheinbar blieben sie unbemerkt.

Als sie unten angekommen waren und Avis ihre Hand losließ, fühlte sie sich plötzlich kalt und leer an. Aber sie ließ es sich nicht anmerken.

„Wo ist der Eingang?", fragte er und rückte den Schwertgurt zurecht.

„Dort drüben scheint ein Weg zu sein", sagte Sanna.

„Dann werden auch Wachen dort sein", schloss Avis. „Haltet Euch bereit, in Deckung zu gehen. Das gilt insbesondere beim Betreten des Turmes. Die Gefahren die dort lauern können, sind nicht abzuschätzen."

Die Sangotinnen folgten Avis und bewegten sich fast lautlos am Mauerwerk des Turmes entlang. Dann zwang eine Mauer, die den Eingang säumte, sie dazu einen Bogen zu machen.

Doch Avis hielt inne und starrte in die Finsternis.

„Worauf wartet Ihr?", fragte Leda eindringlich.

„Ich sehe keine Wachen", stellte Avis kritisch fest.

„Vielleicht wacht die Magie", sagte Sanna und zog die Brauen zusammen.

Avis legte den Kopf schräg und lauschte, hörte jedoch nichts.

„Vielleicht", sprach er nachdenklich, „seid vorsichtig."

Sie schlichen zum Eingang. Die Feuerschalen davor waren kalt. Avis sah sich misstrauisch um, bevor er fragte: „Ihr könnt niemanden sehen?"

Die Sangotinnen blickten sich abermals um. Auch Leda schüttelte den Kopf.

„Nein", sagte Sanna schließlich, „wir sind allein."

Sie sah die Zweifel in seinem Gesicht, konnte es jedoch nicht deuten. Avis zog einen Flügel der Tore gerade so weit auf, dass sie hineingehen konnten. Im Innern leuchtete das Licht von Fackeln zu ihnen heraus. Zögerlich trat Avis zuerst ein.

Sanna wollte ihm folgen, doch Leda hielt sie zurück.

Die Jüngere riss sich los.

„Riech!", warnte Leda ernst.

Dann erst bemerkte Sanna es. Zwischen dem schweren Duft von Räucherkraut und dem schwelenden Geruch der öligen Fackeln war ein weiterer, kaum wahrnehmbarer. Eine menschliche Note vermischt mit Kräutern und Staub.

„Er ist schon da", flüsterte Leda und Sanna erzitterte.


Avis nahm von der Zurückhaltung der Sangotinnen keine Notiz. Er hörte nur die knirschenden Schritte seiner Stiefel, die von den Wänden widerhallten. Sah zwei leuchtende Drachenskulpturen, die den Eingang flankierten. Die restlichen Säulen in der kreisrunden Halle trugen die im Dunkeln liegende Decke.

Dann sah er am Ende des Raumes einen großen Sockel, um dessen Umfang sich spiralförmig eine Treppe bis zur Plattform hinaufwand. Von dort oben ging ein eigentümliches violettes Leuchten aus.

Wie ein großer glitzernder Stern, der in einem gleichförmigen Rhythmus pulsierte und Avis glaubte, ihn hören zu können. Ihn zu spüren, wie seinen eigenen Herzschlag.

Das Licht schien heller und greller zu werden, je länger er es betrachtete. Es brannte sich in seine Netzhaut ein und als er endlich den Blick von der violetten Sphäre auf dem Sockel lösen konnte, war er für einen Moment lang geblendet..

Und so sah er nicht, wie die in Schwarz gehüllte Gestalt aus dem Schatten des Sockels trat. Aber Avis hörte sie und nun spürte er auch seine Anwesenheit.

„Ich heiße Euch willkommen Avis von Abietia," sprach eine kalte Stimme, „der sich nun ‚König' nennt."

„Ich bin kein König mehr", antwortete Avis und wandte sich um. „Ich trat die Reise zu Euch als einfacher Mann an."

„Und als einfacher Mann wollt Ihr nun zu mir sprechen?", fragte der Magier höhnisch.

Er war nun so nahe, dass Avis seine Silhouette erkennen konnte. Allmählich verblasste auch das grelle Abbild der Sphäre vor seinen Augen und sie gewöhnten sich an das spärliche Licht.

„Nein, das wollte ich von Bruder zu Bruder tun, Laon."

„Du wagst es", fuhr Major ihn an, „dich noch Bruder zu nennen? Nach allem, was du nicht getan hast."

„Ich war ein Narr-"

„Nein, Avis", unterbrach der Magier ihn, „Ihr seid ein Narr. Die einzige Erklärung, warum Ihr so töricht wart, hierher zu kommen."

Er hielt inne und sah an sich herab.

„Sisou!", donnerte Major aufbrausend und erst jetzt fiel Avis die kleine Kreatur auf, die sich an den Saum des Magierumhangs klammerte.

Winselnd bat das Wesen um Gnade und duckte sich auf den Boden.

„Nicht Torheit war es, die mich zu Euch führte", sprach Avis weiter, „sondern Hoffnung."

„Hoffnung?", lachte Major kalt. „Hoffnung worauf?"

„Auf Eure Vergebung", sagte Avis und beugte kurz das Knie. „Hoffnung, auf Eure Vernunft und die Menschlichkeit in Euch."

Major verzog angewidert das Gesicht.

„Menschlichkeit", wiederholte er. „Menschliche Schwäche ist, was ich am meisten verachte, Avis. Schwäche, die Ihr mir gerade so deutlich demonstriert."

„Menschlichkeit, Güte und Barmherzigkeit waren die wichtigsten Werte, die Vater Euch lehren wollte."

Major lachte abermals. Lachte laut und es hallte vielfach von den hohen Wänden des Turmes wider. Er überwand die letzten Schritte, die ihn von Avis trennten, und schob sich mit schlanken Fingern die Kapuze in den Nacken.

Darunter kam ein Gesicht hervor, das Avis nur allzu bekannt war. Das Gesicht, dass ihn in seiner Kindheit geprägt und begleitet hat und das doch heute so anders war. Laon Major war gealtert, er war verbittert und sein Ehrgeiz hatte sein Gesicht gegerbt und gezeichnet. Auf den schmalen Lippen lag ein zynisches Lächeln.

„Euer Vater hat nicht aus Barmherzlichkeit gehandelt, Avis, seid nicht so töricht. Er nahm mich nur auf, weil er es musste, weil er in der Schuld meiner Mutter stand. Es ist ihr Zauber, der Abietia noch immer verbirgt und schützt und weil sie um dessen Schutz wusste, brachte sie mich zu Euch, als ihr bewusst war, dass man sie verfolgen würde. Auch sie lehnte die Paradigmen des Ordens ab. Filcusus wusste davon. Es gab keinen Tag, an dem er mich nicht daran erinnerte, dass ich keiner von euch war."

„Trotz allem zog mein Vater Euch wie einen Sohn auf."

„Unter euersgleichen fühlte ich mich wie ein Krüppel", brauste Major auf, „meiner Fähigkeiten beraubt, auf meine Abartigkeit reduziert und stets voller Schuldgefühle und Ängste, die man mir eintrichterte. Doch diese Zeit ist lange vorbei, Avis. Ich bin dankbar für die Lektionen, die man mir bei Euch über die Menschheit beibrachte. Sie hat mein Denken beflügelt, meinen Antrieb verstärkt und mir eine Aufgabe erteilt." Er ging um Avis herum, um ihn einzuschüchtern. „Wie lange wollt Ihr bei der Vernichtung Eurer Spezies zusehen? Ich werde bei Eurem Volk beginnen. Ich könnte Euch eine gute Aussicht von diesem Turm gewähren, bis zum Ende Eurer Tage."

„Oder dem Ende Eurer Tage", erwiderte Avis berechnend.

Major lachte abermals, aber dieses Mal entfernte er sich von seinem Gast.

„Meine Tage werden nicht enden", sagte er triumphierend. „Dafür habe ich gesorgt. Es ist vermutlich mehr, als Ihr es Euch vorstellen könnt, doch ich habe die Grenzen der Sterblichkeit überwunden, Avis. Ich habe meine Existenz gesichert, um die Früchte meines Vorhabens voll auskosten zu können. Seht dort hinauf!" Major deutete auf die Spitze des Sockels und verpasste Sisou, der abermals seine Aufmerksamkeit suchte, einen Tritt. „Ich habe die Lebensenergie aus meinem Körper extrahiert und sie mit einem Zauber geschützt, den kein lebendes Wesen in Annorien zerstören könnte. Nur eine arktische Kälte vermag dies und diese Fähigkeit starb zusammen mit den bemitleidenswerten Geschöpfen aus."

Und plötzlich ergab alles einen Sinn für Avis und er hoffte darauf, dass auch Sanna und Leda es verstanden, ohne zu wissen, dass sie im Schatten einer Statue verborgen, ihrer Unterhaltung lauschten. Avis wagte es jedoch nicht, sich nach den Sangotinnen umzusehen, bemerkte aber just in dem Moment das seltsame Verhalten von Sisou und deutete es richtig.

„Euch ist sicher bewusst", sprach Avis, um von Sisou abzulenken, der Sanna und Leda entdeckt hatte, „dass ich dies nicht kampflos akzeptieren kann."

„Und Euch ist sicher bewusst", antwortete Major nach lautem Gelächter, „dass diese Drohung lächerlich ist. Ihr habt mir nichts entgegenzusetzen. Doch Euch frühzeitig zu töten ist nicht mein Begehr. Ich werde Euch teilhaben lassen, an all meinen glorreichen Taten."

„Warum?"

Für einen Moment entgleisten die Gesichtszüge des Magiers, bevor er ungläubig die Brauen zusammenzog.

„Um den Schmerz zu spüren, Avis", sagte er mit einem bedrohlichen Flüstern, „den Schmerz, den mir Euer Volk antat. Den Schmerz, den Ihr mir antatet."

„Ich habe Euch wie einen Bruder geliebt", widersprach Avis energisch, „ich ha-"

„Mich im Stich gelassen, als ich Euren Beistand brauchte", beendete Major den Satz. „Ihr habt mich getriezt, weil keiner meiner Schritte gut genug für Euch war und Ihr habt Euch gleichgültig hinter den Entscheidungen Eures Vaters versteckt, als dieser mein Schicksal besiegelte."

„Das ist nicht wahr", widersprach Avis und legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes, weil er die Anspannung des Magiers spürte. „Ich habe für Euch eingestanden, aber ich war nur ein Knabe ..."

„Und heute seid Ihr nur ein Mensch", schloss Major und schlug seinen Umhang zurück. „Einer von jenen, die noch existieren. SISOU! Du lästiger Bastard!"

Ein roter Lichtblitz schoss aus den Spitzen der Finger des Magiers und schleuderte die Kreatur durch die Höhle. Sein Körper krachte gegen eine der Statuen und ein knirschendes Geräusch von zersplitternden Knochen war zu hören.

Avis nutzte den Moment und zog Chrysoryd.

„Sei es, wie es sei", sprach Major und wandte sich wieder Avis zu. „Ich habe bereits ein Heer entsandt, um Euren erbärmlichen Wald niederzubrennen und alle die darin leben zu meucheln."

Diese Worte brachten Avis in Rage.

„Das ist eine Lüge!"

Doch das süffisante Grinsen im Gesicht des Magiers war wie ein Versprechen.

„Ihr habt mehr als eine Dekade Eures Lebens in Abietia verbracht. Dort war Eure Heimat, Eure Familie ... Ihr kanntet die Menschen dort-"

„Und ich verachte sie heute", schloss Major ernst. „Aus vollstem Herzen. Eure Sippschaft hat mich verstoßen, als ich hilflos war. Man bestrafte mich wegen einer Tat, über dessen Fähigkeiten ich nicht verfügen konnte. Sie alle, Avis, hörten lieber auf die Behauptung des alten Greises Filcusus, als auf die Stimme eines verzweifelten Kindes." Er wandte sich einen Moment von Avis ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihm. „Wisst Ihr wie es ist allein zu sein? Wie es ist, sich über die Anwesenheit einer dreckigen unterwürfigen Kreatur zu freuen, weil alle anderen sich fürchten. Ich begann an mir zu zweifeln, Avis, mich vor mir selbst zu fürchten, weil mir mein Leben lang eingetrichtert worden war, dass meine Fähigkeiten abscheulich seien. Und seht mich nun an!"

Major hob die Arme in die Höhe und die Feuerschalen im Turm entzündeten sich und brannten lichterloh. Doch er sah durch seinen Jähzorn die Bewegungen der Schatten nicht.

„Ich habe gelernt sie zu beherrschen, ihre Schönheit und ihre ungeheure Kraft zu bewundern Avis. Der verängstigte Junge, der aus Eurem Wald floh, ist lange verblichen. Mit meiner Macht habe ich den Orden der Erzmagier zerschlagen. Ich habe mein Überleben gesichert und ich werde die Welt verändern, dass es in die Geschichte Annoriens eingehen wird. Und wenn die Flammen des Feuersturmes das Land verbrannt hat, wird aus dessen Asche etwas Neues entstehen. Die Welt wird gereinigt und gestärkt durch meine Veränderung daraus hervorgehen und die übrigen Rassen werden mir dafür danken, dass ich sie vor diesem blutsaugenden und zerstörerischen Parasiten befreit habe."

Er wandte sich wieder Avis zu und sah ihn nun abschätzend an.

„Wollt Ihr Zeuge dieser legendären Tat werden, Avis, oder wünscht Ihr, dass ich es gleich hier beende. Es ist Eure Entscheidung", sprach er eindringlich. „Legt das Schwert ab und beugt erneut das Knie!"

„Ich tat es, um Euch um Vergebung zu bitten, Laon", erwiderte Avis ernst. „Doch ich tue es nicht, um Euren Wahnsinn zu lobpreisen."

„So soll es sein!" Es war nur eine simple Geste mit der Hand, die er vollführte und ein Feuersturm brach aus ihm hervor und hüllte Avis ein.

Sanna schrie und kam aus dem Schatten der Statue gerannt und da nahm Major sie zum ersten Mal wahr. Es war nur ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit und ein Funken von Arroganz, die sein Schicksal besiegelten.

Avis sprang, geschützt durch Chrysoryd, aus dem Feuersturm hervor und trieb das Schwert unerwartet in die Brust des Magiers.

Der stechende Schmerz presste jegliche Luft aus Majors Lungen. Eine Pein, die sein Innerstes zu zerreißen schien. Er krümmte sich stöhnend nach vorne und brauchte Sekunden, bis er die Beherrschung wieder erlangt hatte.

Dann legten sich seine Hände auf die von Avis und mit schmerzverzerrter Miene zog der das Schwert aus seiner Brust.

„Mir scheint", sprach er röchelnd und spuckte Blut, „als habt Ihr mir nicht zugehört, Avis. Ihr könnt mich nicht töten!"

Ein weißer Blitz schleuderte Avis davon, Chrysoryd fiel scheppernd zu Boden und verschaffte dem Magier genug Zeit eine Beschwörung zu murmeln, die seine Wunden verschloss. Dann sah er zu Sanna hinüber und er stimmte einem melodischen Sprechgesang an.

„Stonis fat mettre at draco van vitra!"

Violette Lichtfäden glitten aus den Spitzen seiner Finger und umhüllten eine der Drachenskulpturen wie die Fäden einer Spinne.

Die Statue bewegte sich, dann gab sie ein lautes Brüllen von sich und faltete die Flügel zusammen. Staub wirbelte durch die Luft, als sein Kopf zu seinem Schöpfer herumfuhr.

„Töte dieses Weib!", befahl Major und wandte sich abermals Avis zu.

Dieser versammelte all seine Kräfte, robbte über den Boden und bekam sein Schwert wieder zu fassen.

Dann warf sich Leda, wie eine wütende Bärenmutter zwischen Sanna und den Steindrachen.

„FLIEH!", rief sie ihrer Schwester zu.


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