Belhettentropfen

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Willard "Wagenkönig" Roussex - Wagenverleih: 
Neben diversen kriminellen Geschäftsmodellen, 
führt Roussex ein erfolgreiches Wagenunternehmen,
das wohlhabende Mitglieder aller Länder nicht nur
mit luxuriösen Transportmitteln, sondern auch einem
inbegriffenen Schutz vor Überfällen seiner eigenen
Männer versorgt.
Genauso erhalten seine Kunden die Versicherung,
dass sie überfallen werden, sollten sie sich gegen
diesen Schutz entscheiden.
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          Es war noch drei oder vier Ellen bis zum Boden, was bedeutete, dass meine ausgestreckten Fußspitzen nutzlos waren. Selbst wenn ich sie in meinen weiten Hosen von links nach rechts schwang, kam ich dem weichen Rasen nicht näher. Dafür löste sich ein weiterer Finger von dem Fenstersims. Blasser Sandstein grub sich in meine Haut und ließ mich gedämpft fluchen.

Ich hatte Prinzessin Isabella aus mehreren Fenstern klettern sehen und als mich heute Morgen ein Soldat vor meiner Zimmertür erwartet hatte, war ich zu dem leider falschen Schluss gekommen, dass es nicht so schwer sein könne.

„Kann ich dir helfen?"

Ich hatte ihn nicht kommen gesehen und zuckte derartig zusammen, dass sich noch ein weiterer Finger löste. Beherzt wagte ich einen Blick über meine Schulter und sah meinen Bruder verschmitzt zu mir aufblicken, die Arme vor seinem blauen Hemd verschränkt.
„Jac! Was machst du hier?"

Sein Grinsen vertiefte sich, bis zwei Grübchen auf jeder Wange zu sehen waren. Er machte keinerlei Anstalten, mich aus meiner Lage zu befreien, sondern beobachtete lieber, wie sich noch ein Finger löste.
„Mich vor dem kleinen Rat verstecken. Was machst du hier?"

Ich hätte gerne mit den Augen gerollt, aber auch das erschien mir für den Moment zu kraftaufwendig.
„Frühsport." Die Antwort blieb kurz unter dem Protest meine Muskeln über die dauerhafte Belastung. Vielleicht sollte ich mich fallenlassen und das Risiko in Kauf nehmen, dass ich Jac treffen würde? Bewusstlos hätte er nur geringe Chancen, meine Pläne zu vereiteln.

Als könne er meine Gedanken lesen, machte er einen großen Schritt zurück und deutete ausholend hinter sich in den Garten.
„Wirklich? Soll ich Henric holen und fragen, ob er dir dabei behilflich sein kann?"

Idiot.
Ich versuchte meinen Schuh nach ihm zu kicken, doch alles was ich erreichte, war, dass ich nun nur noch einen Schuh hatte. Besser, wenn Henric mich nicht so sah- zu skandalös.
Mit einem Stöhnen kapitulierte ich.
„Fein. Ich will mich mit Willard Roussex treffen."

Das tilgte zumindest das Ellenbreite Grinsen vom Gesicht meines Bruders.
„Und warum würde das irgendjemand bei Verstand wollen?"

Er wollte wirklich, dass ich ihm das von ihr oben runter rief?
Mit einem weiteren geschlagenen Seufzen, das von der fehlenden Umsichtigkeit gewisser Könige sprach, gab ich endlich dem Flehen meines Körpers nach und ließ mich fallen.

Der Sturz war wirklich nicht so hoch, wie er mir eben noch vorgekommen war. Ich hatte geplant, dass ich durch eine Hocke Teile des Aufpralls abmindern würde, endete jedoch durch meine falsche Einschätzung direkt auf dem Hosenboden vor meinem Bruder.

Mehrere leise Flüche brummend, die nur Yessi verstanden hätte, rappelte ich mich wieder auf und wischte die Hände an meiner Hose ab.
„Weil die tote Königin in meinem Bett einen Wagenunfall hatte." Und ich nicht wusste, ob ihrem Mann ebenfalls der Hals durchtrennt worden war.

Jac wusste sofort, worauf ich anspielte. Sein eben noch skeptisches Gesicht hatte denselben Ausdruck, wie wenn seine Frau ihn mal wieder beim Schach geschlagen hatte, auch wenn er seine Lieblingshose darauf verwettet hatte, dass es dieses Mal nicht passieren würde. Mit einer Hand fuhr er sich durch die dunklen Haare und drehte sich von mir weg.
„Oh nein."

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. Ich weiß, was dein Bruder getan hat, hatte die Nachricht gelautet. Wir dachten offensichtlich wieder dasselbe.
„Es mach Sinn...", ich ließ den Satz unvollständig, unwillig das Thema laut im Garten anzusprechen.

„Deswegen habe ich ‚Oh nein' gesagt", erwiderte mein Bruder und drehte sich wieder zu mir um. Er sah mich an, als wolle er mich wieder hoch durch das Fenster stopfen und lieber so tun, als hätte ich nichts gesagt und er keine Ideen bekommen.

Vorsichtig machte ich einen Schritt zur Seite, um eine freie Fluchtbahn zu haben. Hinter ihm konnte ich den Bediensteteneingang in der Palastmauer sehen. Noch stand er offen, weil morgens sämtliche Boten und Mägde ihre Besorgungen machten. Aber bald würde ich einen der Haupteingänge nehmen müssen.
„Du musst nicht mitkommen", bot ich meinem Bruder an.

Irgendwie wurde sein Gesicht noch missmutiger.
„Und dich allein gehen lassen?" Er hob eine Augenbraue, die ganz klar meinen Verstand anzweifelte. Er hatte definitiv zu viel Zeit mit Henric verbracht.

Ich streckte die Arme aus.
„Jac, du bist jetzt der König dieses Landes. Du kannst dein Leben nicht einfach aufs Spiel setzen." Deswegen hatten sie ihn nicht nach mir suchen lassen. Und das war auch richtig so gewesen. Ich für meinen Teil hatte mein Leben erst zurückbekommen und ich würde das nutzen.

„Dann lass mich Henric holen."

Ich ahmte seinen Blick inklusive Verstand-anzweifelnder-Augenbraue nach und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Weil das das letzte Mal so gut funktioniert hat." Ich war mir sicher, dass sich sogar noch Willard Roussex Hund an diesen Auftritt erinnerte. Sie hatten es nicht eine halbe Sanduhrumdrehung im selben Zimmer ausgehalten, bevor Beleidigungen wie Willkommenskekse verteilt wurden.

Aber Jac erinnerte sich an etwas anderes als ich.
„Kaliee, du bist das letzte Mal entführt worden, als du allein unterwegs warst." Er sprach es aus wie eine Bitte und fast hätte ich erwartet, dass er seine Hände faltete. Doch mein Bruder hatte den Hundeblick in seinem Arsenal und setzte ihn auch ein.

Kopfschmerzen, die weniger mit seinem Hundeblick und mehr mit dem sich wiederholenden Thema zu tun hatten, breitete sich hinter meinen Augenbrauen aus und ich versuchte, sie mit einer Hand weg zu massieren.
„Das ist komplizierter als du denkst. Yessi ist unschuldig..."

„Der Rat hat mir bereits von deinem sehr langen Vortrag berichtet", unterbrach mich Jac so ernüchtert, dass ich den Kopf hob. Der Hundeblick war fort. Sie alle hatten meine Version von der Geschichte anhören müssen. Niemand von ihnen war bei der Aktion dabei gewesen, aber aus ihnen nicht verständlichen Gründen, wollte ich meine Aussage nicht zu der Geschichte abwandeln, die sie sich ausgedacht hatten.

Ich fuchtelte mit den Armen durch die Luft, weil meinen Worten niemand im ganzen Palast zuhörte und Tanz nur noch helfen konnte.
„Sie wollen ihn nicht freisprechen."

„Sie haben noch kein Urteil gefällt."

„Du könntest ihn begnadigen."

„Nur, wenn ich dem Rat die Frau präsentieren kann, die tatsächlich den Bolzen abgeschossen hat."

Die Luft verließ meinen Brustkorb in einem langen, geschlagenen Strom und meine Schultern sackten wieder ab.
„Noch ein Grund mit Willard Roussex zu sprechen. Sie war auch im Mord an seiner Mutter involviert."

Jac hob beide Augenbrauen.
„Hat sie auch... war sie auch...Moira?", etwas hilflos fummelte er am Saum seines Ärmels herum. Er wusste, wie schwer mir Moiras Tod gefallen war. Und er war sich immer noch nicht sicher, ob ich darüber reden wollte.

Ich schüttelte den Kopf.

Jac sah ähnlich besiegt aus. Er betrachtete mich einen Moment länger, als suche er in mir eine vergangene Version meiner selbst, zu der er noch etwas zu sagen hätte und kapitulierte schließlich mich erhobenen Händen.
„In dem Moment, in dem ich mich umdrehe und nach Henric rufe, wirst du bereits verschwunden sein, richtig?"

Trotz meiner Erschöpfung zuckten meine Mundwinkel.
„Und deine morgendliche Ruhe wäre zerstört." Ich musste nicht lange nach meinem Bruder in dem König suchen. Jac war unfähig, sich zu ändern. Stabil und sicher wie ein unüberlegter Baum. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht an ihm vorbeizuhüpfen.

Jac schüttelte nur den Kopf, doch als ich den Bediensteten-Ausgang erreicht hatte, rief er mich noch einmal.
„Kaliee... Nur weil du nicht die letzte Nevanam bist, heißt das nicht, dass du dein Leben leichtfertiger aufs Spiel setzen solltest. Du bist auch meine einzige Schwester."

Ich schnitt ihm eine Grimasse, die er auf die Distanz durch den Garten wahrscheinlich gar nicht mehr sehen konnte.
„Vielleicht solltest du dich mal mit Yessi unterhalten. Ich glaube, ihr würdet euch mögen."

Jac rollte mit den Augen.
„Genau das ist meine Sorge."

          Willard Roussex Haustür war beinahe genauso groß wie das Haupttor des Palasts und es erschien mir lächerlich, an die dunkel gestrichene Eiche zu klopfen. Erinnerungen warteten dahinter und ich hätte es gerne wie ein Mausoleum ungestört gelassen. Aber die Tür wurde nach nur wenigen Augenblicken geöffnet und Lacims dunkle Augen fielen auf mich.

Das Roussex Butler keine Fragen stellte, sondern mich stillschweigend über dicke Teppiche und durch Kerzen erhellte Gänge führte, verriet mir, dass er mich erwartet hatte. Er bat mich, vor der Tür von Monsieurs Arbeitszimmer zu warten und ich verbrachte meine Zeit damit, das übernatürlich große Hundebild an der Wand zu studieren.

Mein letzter Besuch erschien mir ein halbes Leben her. Verdrängt und ausgewaschen von den vielen Dingen, die seither passiert waren. Mein Leben davor- das stetig seinen Weg hierher zurückgefunden hatte, war kaum mehr als eine Geschichte, die man mir einst erzählt hatte.

Schließlich wurde mir die Tür erneut geöffnet und ich betrat ein weitläufiges Arbeitszimmer mit dunkel vertäfelten Wänden, an dessen Kopfende ein riesiger Schreibtisch vor einer Fensterfront stand. Roussex lehnte gegen die Tischplatte, seinen grauen Jagdhund zu seinen Füßen und begrüßte mich mit ausgestreckten Armen.
„Kaliee. Ich sehe, du hast meine Nachricht bekommen."

Er war es also gewesen!
Ich schnaubte. Er tat vielleicht so, als wären wir alte Freunde, doch keine Höflichkeit der Welt würde mich vergessen lassen, dass dieser Mann eine Leiche gestohlen und in mein Bett gelegt hatte, nur um mich hierher zu holen. Das war ekelhaft. Und ungerechtfertigt.
„Ein Brief hätte vollkommen gereicht. Ich kann lesen, weißt du", entgegnete ich und blieb mit einigen Schritten Sicherheitsabstand stehen.

Zwei weitere Stühle standen für Gäste und Partner vor dem Schreibtisch bereit, doch ich setzte mich nicht, sondern verschränkte stattdessen die Arme. Ich war weder sein Gast noch ein Partner. Für beides hatten wir bereits zu viel erlebt.

Roussex lachte nur, ein Geräusch, das mich stets an Schotter und zu lange Abende an einem stark qualmenden Lagerfeuer erinnerte. Sein Hund hob den Kopf und begann, mit seiner Rutenspitze zu wippen.
„Ich würde dich niemals so unterschätzen. Der Brief war von mir. Die Leiche hat ihn lediglich für mich transportiert." Roussex streckte eine Hand aus und das treue Tier richtete sich auf und sein Gesicht darin zu reiben.

Die Leiche hatte was? Ich brauchte mehrere Sekunden, um das Gesagte zu verstehen und merkte erst im Anschluss, dass ich den Wagenkönig die ganze Zeit über dumpf angestarrt hatte.
„Das ist... nicht deine Leiche?" Ich blinzelte, weil ich das vergessen hatte. Wessen Leiche war das dann? Warum konnte es nicht seine Leichen sein?

„Warum klingst du so enttäuscht? Ich habe ihr lediglich den Brief zugesteckt, als ich herausfand, wohin die Männer sie bringen wollten." Er drehte sich zu seinem Schreibtisch zurück und entkorkte eine kleine Flasche, deren Inhalt sofort ihren beißenden Geruch frei gab. Waren wir von Colorissaft bereits zu Belhettentropfen übergegangen? Er musste wirklich Schmerzen haben.

Bedächtig tröpfelte er eine winzige Menge der grauen Flüssigkeit in ein Glas, die Lippen bewegend, während er leise zählte. „Was mich zu der Frage bringt: wer schickt dir Leichen wie Genesungswünsche? Etwa der Mörder meiner Mutter?"

Morem. Ich schluckte. Bilder von ihren ausgestreckten Beinen hinter dem Schuppen tauchten unaufgefordert auf.
Übelkeit machte sich in meinem Magen breit, als ich dem Grund meiner Rückkehr zu nahe kam. Der Kälte. Dem Messer.
Mit knirschenden Zähnen zwang ich mich in die Gegenwart zurück. Ich hatte keine Zeit für Panik und gehetzte Erinnerungen.
„Eine Mörderin. Sie wurde erledigt."

Überrascht hob Roussex die Brauen.
„Von dir?", unbewusst griff er sich an die Stelle am Hals, an der ich eine Narbenkette trug.

„Von einem Freund."

Blinzelnd kam er zu mir zurück. Zu meiner Überraschung glaubte er mir, ohne Beweise. Vielleicht sah er die Dunkelheit in meinen Augen, die mich in jedem Spiegelbild vorwurfsvoll anstarrte.
„Du musst dir interessante Feinde während deinem Auslandsaufenthalt gemacht haben."

Ich verlagerte mein Gewicht auf die Fersen und festigte meinen Stand. Feinde? Ich hatte Freund-... oh!
Nachdenklich legte ich den Kopf schief, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er hatte mehr Informationen, als er preisgeben wollte. So viel stand fest.
Ich wagte einen Schuss ins Unbekannte: „Du weißt, dass die Frau eine tote Königin ist?"

Er zuckte nicht einmal. Stattdessen unterzog er mich einer langen Musterung, als wolle er von mir ablesen, woher ich wusste, dass es sich um eine Königin handelte. Oder wie er mich am geschicktesten für seine Pläne einsetzte.

Ich trug nicht mehr die grüne Kutte der Nevanam und ohne ihren Schutz fühlte ich mich noch ein wenig kleiner in seinem riesigen Zimmer. Er selbst war ein Hüne von einem Mann.
Groß und stattlich gebaut, hätte er den teuren Schmuck und den aufwendigen Schnitt seiner Kleider überhaupt nicht gebraucht, um einschüchternd zu wirken.

Neben diversen kriminellen Geschäftsmodellen führte Roussex ein Wagenunternehmen, das wohlhabende Mitglieder aller Länder nicht nur mit luxuriösen Transportmitteln, sondern auch eineminbegriffenen Schutz vor Überfällen seiner eigenen Männer versorgte. Genauso erhielten seine Kunden die Versicherung, dass sie überfallen werden würden, sollten sie sich gegen diesen Schutz entscheiden. Willard Roussex hatte ein Vermögen verdient und er trug es wie Henric sein Zeremonienschwert.

Unter dem Blick seiner schwarzen Augen fühlte ich mich schnell wieder wie das Mädchen, das er unter seine Fittiche genommen hatte, damit ihr Bruder für ihn arbeiten würde. Ganz genau bis ich ihn angefleht hatte, lieber zu verhungern, als weiterzumachen.

Er musste an dasselbe gedacht haben, denn mit einem Ruck leerte er das Glas in seinen Händen und stellte es mit einem hellen Klirren zurück auf seinen Schreibtisch. Für mehrere Herzschläge verzog sich sein Gesicht, als hätte er in Limetten gebissen, ehe er schließlich sagte: „Ich vermute, du hast am Palast nichts von dem kleinen Vorfall mit deinem Bruder damals erzählt."

Ich presste meine Zähne beinahe schmerzhaft aufeinander. Vielleicht hatte Jac das erste Mal in seinem Leben recht behalten und es war eine blöde Idee gewesen, hierher zu kommen.
„Das war viele Jahre her. Ich weiß nicht, was er mit dem Ableben von Fells Königin zu tun haben könnte."

Der Schatten eines Lachens kehrte auf seine Lippen zurück und er ließ sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. „Das würde ich gerne herausfinden. Mir sind lediglich die Ähnlichkeiten aufgefallen und-..."

Er ließ den Rest seines Satzes wie eine Warnung unausgesprochen. Das ungute Gefühl in meinem Magen sagte mir, dass es ein Köder war, mit einem sehr unschönen Haken daran. Roussex hatte in all den Jahren Jac niemals mit den Geschehnissen dieser Nacht erpresst. Dass er es jetzt überhaupt erwähnte, ließ mich vor dem möglichen Preis dieser Informationen schaudern.
„Welche Ähnlichkeiten?"

Ohne mich aus den Augen zu lassen, öffnete Roussex eine seiner Schreibtischschubladen und holte eine verblichene Zeitung heraus. Seinen kleinen Moment des Triumphs auslebend, schüttelte er das Papier, faltete die Seiten auseinander und begann dann in tragender Stimme vorzulesen: „Wagen-mörder fordert neue Opfer. Unfall tötet König und Königin auf tragische Weise. Zeugen werden in allen Königreichen gesu-..."

Ich konnte wirklich selber lesen. Ohne Zeremonie oder Benehmen pflückte ich die Zeitung aus seinen dicken Wurstfingern. Der Artikel war nicht schwer zu finden. Er war in größeren Buchstaben gedruckt und nahm die bessere Hälfte der ganzen Seite ein, einschließlich einer Tintenskizze von dem umgestürzten Wagen.

Mein Blick blieb an einem dünnen Schriftzug im rechten oberen Eck der Zeitung hängen. Ein Stein fiel in meinen Magen.
„Das ist nicht der Bericht über Königin Fance. Das ist..." Doppelt so schnell wie zuvor, wanderten meine Augen über die Zeilen und Worte, doch der Stein blieb. Wurde schwerer und größer, bis ich schließlich die Zeitung senkte und Roussex über ihren Rand hinweg ansah. „.... das sind der König und die Königin Tacias."

Yessis Eltern.

Das durfte nicht sein. Ich wollte, dass er hämisch grinste und den Kopf über meine falsche Interpretation schüttelte. Doch der Artikel hatte sie beim Namen genannt. Ein furchtbares Verbrechen. Der Schlussstrich unter einer Kette von beinahe willkürlichen Todesfolgen, die bis dahin drei Opfer gefordert hatte. Fast exakt zu der Zeit, als ich im strömenden Regen meinen Bruder anflehte, nie wieder einen Fuß in dieses Zimmer zu setzen.

Betäubt beobachtete ich den Wagenkönig wie er nacheinander drei Zeichnungen aus der Schublade holte und sie vor mir auf dem Tisch ausbreitete. Es waren schattige Figuren ohne viele Details, die in verrenkten Positionen dargestellt worden waren.
„Das sind Berichte der Wunden, die die vier Opfer in den jeweiligen Kutschen erlitten haben." Er deutete auf die roten Markierungen auf den Körpern. Sie sahen aus, als hätte jemand versucht, sie mit roter Tinte durchzustreichen. Mehrfach. Schrittweise zorniger werdend.

Er griff wieder in die Schublade und holte fünf weitere Zeichnungen aus, deren Markierungen sich massiv von den ersten drei unterschieden. „Und das sind die drei Opfer von davor. Treppe herunter gefallen. Jagdunfall. Sprung aus einem Fenster."

Ich starrte immer noch die Wagenopfer an. Ich wusste, wie diese Wunden in Realität aussahen. Hatte sie an der Königin in meinem Bett gesehen. Waren das Verletzungen von einer Kutsche, die über Kopf ging? Holz, das splitterte sich in die Haut grub? Umherfliegende Scherben von berstenden Fenstern? Die Zeitung in meinen Fingern knisterte, als mein Griff sich weiter schloss.

Ich spürte Roussex durchdringenden Blick auf mir, wie eine Lupe.
„Ich habe mir außerdem die Überreste meines Wagens angesehen."

Es fiel mir schwer, mich von den Zeichnungen zu lösen. Die Anordnung der Schnitte brannte sich in meine Netzhaut. Vier furchtbar ähnlich. Drei so unterschiedlich. Aber sie alle hatten eine Gemeinsamkeit.

Mit spitzen Fingern drehte ich jedes Bild, bis die sieben Schnitte in den Hälsen eine lange makabere Linie ergaben.
„Morde, die als Unfälle vertuscht wurden?" Das ergab keinen Sinn. Ich hatte die Verletzung der Leiche gesehen. Von der Verfärbung der Schnittränder war ihr der Hals nach ihrem Tod durchtrennt worden.

Als ich Roussex schließlich ansah, hatten sich die scharfen Krähenfüße um seine schwarzen Augen gemildert. Er betrachtete mich einen Herzschlag länger, doch für den Augenblick war die Kalkulation aus seinem Blick gewichen.
„Den Untersuchungen zu Folge waren alles legitime Unfälle. Dazu kommt, dass jede Leiche draußen gefunden wurde."

Sein Blick fiel wieder auf meine Narbe und ich wünschte mir, ein höher aufgeschlossenes Kleid zu tragen. Die Opfer waren nicht versteckt worden? Jemand beobachtete Unfälle und schnitt ihnen nachträglich-... Ich bekam Kopfschmerzen.
„Du hast die Männer gesehen, die ihre Leiche durch die Stadt transportiert haben?"

Ein Herzschlag passierte in Stille. Dann noch einer. Fast glaubte ich, dass er mir überhaupt keine Informationen geben wollte, die nicht direkt seinem eigenen Ziel nutzten. Aber schließlich sprach er doch. „Sie trugen Rüstungen, die sie vor dem Wald ablegten. Meine Männer konnten das Versteck nie finden. Und sie kannten auch genügend Schleichwege, um in den Palast zu kommen", Roussex fasste mich ins Auge und für einen Moment blieb mein Atem stehen. „Es war eine ganze Serie an Morden, die mir mit ihrem Finale mein Geschäft beinahe ruiniert hätten. Sie endeten, als dein Bruder mich verließ."

„Du glaubst Jac wäre ein Serienmörder?", ich zuckte beinahe zurück vor so viel Blödsinn. Jacs Auftrag war es damals gewesen, die Kutsche zu beobachten und an einer geeigneten Stelle Lösegeld zu erpressen.
Aber Erinnerungen lauerten an den Rändern meines Protests. Das Blut auf Jacs nasser Kleidung. Sein leeres Gesicht, als er vor unserer Haustür zusammenbrach.

Willard Roussex beobachtete mich, als sehe er dieselben Bilder.
„Ich hätte es ihm auch nicht zugetraut. Er ist nicht einmal zu kleinkriminellen Tätigkeiten fähig, wenn man ihm kein Handbuch schreibt", mit erhobener Hand stoppte er die Proteste, die mir bereits auf der Zunge lagen. Fast glaubte ich, seine Zähne aufeinander knirschten zu hören. Seine Finger knacken, als er zur Faust ballte. Seine ruhige Stimme stand zu all dem im scharfen Kontrast und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. „Was für eine wundervolle Tarnung das wäre. Weißt du, was seine einzigen Worte waren, die er an dem Abend zu mir gesagt hat? Er ist tot. Ich habe ihn getötet."

Eine eisige Klaue legte sich um meine Eingeweide und für einen winzigen Moment wollte ich mich setzen. Hatte ich sicher gewusst, dass Jac an dem Abend ein Leben genommen hatte? Ich schloss die Augen. Nein. Er hatte nie mit mir darüber gesprochen. Aber da war so viel Blut gewesen. Und er hatte keine Verletzung gehabt.

Aber Massenmord? Ich schüttelte den Kopf.
Heftiger. Und heftiger.
„Es muss ein Unfall gewesen sein. Ein paar dieser Morde sind deutlich hinter unseren Grenzen."

„Wo ich meine Männer auch hinschicke", erwiderte Roussex gnadenlos. Sein Stuhl knarrte, als er sich langsam erhob.
„Im besten Fall ist dein Bruder Zeuge und muss befragt werden. Ich werde keine weitere Mordserie in meiner Branche dulden."

Die er nicht veranlasst hatte. Der Gedanke schmeckte bitter.
„Jac erinnert sich nicht-... nicht richtig", ich hörte mich kaum selbst reden, damit beschäftigt, die Puzzleteile zusammenzusetzen, "Ich habe darüber gelesen- in Moiras Büchern-... es..."

Eine Trauma-Reaktion hatten sie es genannt. Ein Schutzmechanismus, der ihn nur ab und zu in seinen Träumen verließ und einzelne Bilder zu ihm zurückbrachte. Aber das würde ich Roussex nicht sagen. Jac ein Massenmörder-... Die Vorstellung war gleichermaßen lächerlich und verstörend.

„Du könntest ihn mir bringen und ich helfe seinen Erinnerungen ein wenig auf die Sprünge", schlug der Wagenkönig halbherzig vor, graue Haare seines Hundes von seinem Ärmel zupfend.

Ich schnaubte so abfällig, Yessi wäre stolz auf mich gewesen.
„Kennst du mich so schlecht, dass du glaubst, ich würde meinen Bruder auch nur einen Wimpernschlag mit dir allein lassen?"

Willard Roussex Mundwinkel zuckte, als wisse er etwas, was ich noch nicht wusste. Es veränderte sein feistes Gesicht in etwas Gemeines, Verschlagenes. Seine dunklen Augen blitzte, als er sich zu mir herunter beugte, bis ich seinen bitteren Atem selbst über den Tisch hinweg auf meinem Gesicht spürte.
„Ich dachte auch, du wolltest Nevanam werden, aber just eben fuhr die Kutsche mit deinem Verlobten vorbei."

Fast wäre ich an ihm vorbei zu einem seiner bodentiefen Fenster gestürzt, fing mich jedoch im letzten Moment ab. Betont ruhig, klopfte ich meinen Rock ab und steckte die Zeichnungen ein. Willard war gut informiert. Aber ich würde mich nicht weiter von ihm provozieren lassen.
„Den Kerl knöpf ich mir als nächstes vor", erklärte ich mit gerecktem Kinn.

Willard Roussex' Lachen hallte von der hölzernen Vertäfelung seines Zimmers zurück und sein Hund hob den Kopf. Ich wollte es mir vielleicht nicht eingestehen, doch wir beide wussten, dass er mich zu gut kannte. Und vielleicht ließ er mich deshalb auch mit einer einfachen Aufgabe wieder ziehen, anstatt mit sieben Finger in einer Holzbox.
„Die Vereinbarung ist einfach: Verhindere, dass noch mehr Menschen in Wagenunfällen sterben und ich werde Jacs kleine Episode vergessen. Brauchst du dabei Hilfe, weißt du, wo du mich findest."

Ich hob beide Hände und wandte mich zum Gehen.
„Ich habe deine Überzeugungsmethoden gesehen- ich glaube, ich will deine Hilfe nicht."

Sein Lachen brandete erneut auf und neben mir erhob sich sein Hund und tapste schläfrig auf den Schreibtisch zu.
„Gib zu, dein Leben war einfacher, als du noch für mich gesungen hast", rief er mir hinterher.

Ganz bestimmt nicht.
Mit der Hand auf der Türklinke, drehte ich mich um und nickte zu dem leeren Glas auf seinem Schreibtisch.
„Hör auf das Zeug zu nehmen, sonst darf ich bald deine Leiche untersuchen." Und damit ließ ich ihn allein, wild entschlossen dem Idioten, der sich als mein Verlobter ausgab, die Behandlung zu geben, die ich dem Wagenkönig nicht zeigen konnte. 

"Drück die Sternchen für viel Glück?" - Der Idiot, der sich als Kaliees Verlobten ausgibt. 

Ich mag Willard Roussex.
Er hat zwar merkwürdige moralische Vorstellungen aber ich bin irgendwie 
davon überzeugt, dass er Marus schon allein für den Mordversuch an 
Kaliee einen Kopf kürzer machen würde. 

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