Kapitel 1...Die Testamentseröffnung
Sam, die junge Tochter des Hauses im zarten Alter von Dreißig Jahren, betrat den rustikal in Walnuss gehaltenen Konferenzraum des Hotels. Er war einst ihr Klassenzimmer und ihr Ausbildungsort. Sie ließ ihre Fingerspitzen über jede Stuhllehne an dem langen Konferenztisch streichen, die ganz nah an dem Walnusstisch herangeschoben waren, bis sie die Tischplatte berührten. Zwölf Personen fanden daran ihren Platz. Ihre Füße brachten sie bis zum Kamin an der Stirnseite des Tisches.
Dann sah sie auf. DA HING SIE!...über dem leicht angefeuertem Kamin...in einem Rahmen ebenfalls aus Wallnussholz gehaltenes Porträt von ihr. Vor zwei Wochen erlag sie ihrer schweren Krankheit, über die sie keine Macht mehr besaß. Ein schwarzes, breites Band war schräg über den Porträtrahmen gespannt.
Eine ganze Weile stand sie nun schon vor ihrem Abbild. Ihre Tränen kannten keine Grenzen, zu sehr schmerzte sie der Verlust ihrer Tante Helen. Es war ein wunderschönes Gemälde von ihr. Ihre Finger glitten zaghaft über den Rahmen und über das Band, sowie über das Gesicht der darauf abgebildeten Frau. Schließlich brach sie die Erkundung am Porträt ab und drehte sich zu dem langen Tisch um. Nie wieder wird sie mit dir an diesem Tisch essen, lachen, weinen und ihr Wissen an dich weitergeben. Dachte Sam.
Tante Helens lautes Lachen klang immer herzhaft und frech und der ganze Raum hallte nach. Ihre Witze fanden immer Anklang, auch wenn man nicht immer deren Sinn danach verstand...ihre Poente. Denn es waren ihre eigenen, ausgedachten Witze, die sie vom Stapel ließ.
Das war's also? Sam sollte sich jetzt ab sofort damit abfinden, ihr weiteres bevorstehendes Leben ohne ihre Tante zu bewältigen? Ohne Rat? Ohne ihre Hilfe? Ohne ihre Lehren und ohne ihr Wissen? Hatte sie Sam alles gelehrt, was sie wissen musste, um nicht zu scheitern? Sie war für Sam der Fels in der Brandung und ihr größter Halt in allen bisherigen Lebenslagen gewesen.
Behutsam tastete sie erneut über den dunklen Holz - Rahmen aus Walnuss von einer Ecke zur Nächsten.
Sie stand noch eine ganze Weile davor und betrachtete es mit ihren geröteten, Tränen unterlaufenen Augen. Ich vermisse dich jetzt schon! , ging es ihr durch den Kopf und sie hoffte ganz tief in ihrem Herzen, dass ihre Tante sie immer noch hören konnte.
Ihre Sinne nahmen Schritte wahr und eine Hand legte sich von hinten auf ihre rechte Schulter. "Sie wird immer bei dir sein und auf dich herabsehen, mein Kind...Komm! Setzt dich zu uns!...Es wird gleich losgehen!" Ihre Mutter nahm sie in ihre Umarmung und hielt Sam kurz fest. Dabei sah Sam in die Augen ihrer Tante auf dem Porträt. Innerlich fluchte sie, wie ihre Tante ihr das hier antun konnte...sie einfach hier allein zurückzulassen und den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.
Sam löste sich aus den Armen ihrer Mutter und trocknete sich die Tränen. Hier drinnen begann also dann gleich die Testamentseröffnung. Sam nahm Platz auf der walnussfarbigen Couch zwischen ihren Eltern und von rechts und von links schlangen beide Elternteile ihre warmen Hände um sie, um ihr Schutz zu bieten.
Bisher hatten das immer Tante Helens Hände und Arme getan, denn Sams Eltern waren stets schwer beschäftigt. Wenn sie keine Zeit für ein Kind hatten, warum wurde Sam dann von ihnen geboren? Diese Frage hatte sich Sam oft gestellt. Denn manche Dinge ergaben oft keinen Sinn, die um sie herum gesagt und getan wurden. Doch sie stellte keine Fragen, denn irgendwann oder eines Tages würde wohl alles einen Sinn ergeben und ihr die Antwort geben, die sie erhoffte.
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Die ganze Zeit über konnte Sam sich nicht auf diese Testamentsvorlesung konzentrieren, weil sie mit den Gedanken ganz woanders war...abgetaucht in die Welt der Erinnerungen mit ihrer Tante Helen. Das letzte Bild, was sie im Kopf hatte, war das, als sie sie zum letzten Mal sah: Beide saßen zu Zweit in diesem Park vom Krankenhaus und verdrückten einen Schokoladen - Eisbecher...
Schokostreusel, Schokosoße, Schlagsahne und eine Herzwaffel oben drauf. So hatte Sam sie in Erinnerung behalten. Ach ja, nicht zu vergessen, der Schokoklecks in ihrem Gesicht auf ihrer linken Wange.
°°°
Ihr Vater holte sie mit seinem verstärkten Händedruck zurück. Denn nun kam wohl das WICHTIGSTE seiner Meinung nach. Sam drehte ihr Gesicht zu ihm und begriff erst, als der Anwalt von Tante Helen folgende Worte laut und deutlich für alle Anwesenden vorlas:
"...somit setze Ich, Miss Helen Stanford, meine Nichte, Sam Stanford, Tochter von Benjamin und Theresa Stanford, als meine rechtmäßige Allein - Erbin für das - Hotel Stanford - ein...!"
Sams Eltern legten nun ihre Arme um den Nacken ihrer Tochter und schoben sie von einem auf der Couch zum Anderen hin und her.
Was sollte das gerade? Hatte Sam das richtig verstanden? Hatte ihre Tante nicht mehr alle beisammen oder war sie völlig betrunken, als sie diese Entscheidung traf und aufgesetzt und notariell beglaubigen ließ? Ist sie denn von allen Sinnen geplagt gewesen und tut Sam so etwas an? Sam war an diesem Tag so aufgebracht und von dieser Entscheidung geschockt. Sie bekam nicht einmal mit, wie man ihr dafür gratulierte. Wofür denn? Das war mit Sicherheit ein Vorlese - Fehler, redete Sam sich die Entscheidung ein. Doch es ging weiter im Text...
"...Dies soll erfolgen, sobald mein Bruder Benjamin Stanford das gewisse Alter erreicht hat, um die Führung des Hotels an seine Tochter Sam Stanford zu übergeben. Das ist mein letzter Wille! Helen Stanford!"
Was war hier los und was passierte hier gerade? Sam sah ihr Leben im Slow - Motion vor sich vorbei rauschen, ein Film in Zeitlupe abgedreht. Ihre Eltern freuten sich für ihre Tochter und die anderen Anwesenden, die Crawfords, Mister Brooks und der Anwalt selbst. Der Anwalt setzte sich auf den Stuhl an der Stirn des langen Tisches...der Stuhl, auf dem stets Sams Tante gesessen hatte.
Sam schaute geschockt drein und legte ihre Augen auf das Testament, dass der Anwalt noch immer in seinen Händen hielt.
SAM?...Alleinige Erbin des großen familiären Imperiums der Stanfords?...Niemals!...Auf keinen Fall! Das war definitiv ein Helen - Scherz! Ja! Das musste es sein...Ein Scherz! Und wieso konnte Sam nicht darüber lachen?
Konnte sie das denn vorher nicht mit ihrer Nichte besprechen, bevor sie sie allein ließ? War das denn zu viel verlangt? Es war ein Fehler beim Vorlesen, ganz bestimmt...ja, genau...das musste es gewesen sein...EIN FEHLER!
Sam stand von der Couch auf und ging auf den Anwalt zu. Sie wollte es mit ihren eigenen Augen sehen und lesen, was ihre Tante nieder geschrieben hatte. Er reichte ihr ohne ein Wort und ohne ein Zögern Tante Helens Testament über den langen Tisch herüber.
Es war ihre verschnörkelte Handschrift...eindeutig...Sam würde sie überall wieder erkennen...und... Es stand darin wirklich geschrieben:
"...Alleinige Erbin..."
Na gut Tante Helen!...Dann bin ICH wohl betrunken oder schlafe noch tief und fest? Würde mich bitte jemand mal von euch ohrfeigen oder in den Arm kneifen?
Einen trinken, gute Idee...Nicht jetzt und hier, aber später, nach Sams Schicht, die sie heute noch antreten wird.
Wie versteinert hielt Sam das Testament zwischen ihren Händen und starrte, wie eine Kuh vor dem neuen Tore, gebannt auf die Entscheidung, die ihr ganzes Leben verändern würde.
Der ganze Hotelbesitz ging an sie. Tante Helen hatte es wirklich getan.
Der Raum war plötzlich leer, als ob der Film vorgespult worden war. Nur noch Sam allein hielt sich hier auf. Wie lange hatte sie denn an diesem Tisch gestanden...mit dem Testament in ihren Händen?
Sam trat vor das Porträt über dem Kamin und funkelte sie wütend in ihren Gedanken an.
"Gib's zu!...Du hast das mit Absicht gemacht! Hast du mir deshalb alles umfangreich und ausgiebig beigebracht und gelehrt? Damit ich das weiterführe, was du und Vater begonnen habt?...Du hast mir damit meine Kindheit gestohlen! Für all das hier? Ich werde dir zeigen, dass es auch anders geht!" Und Sam eilte mit dem Testament in ihren Händen aus dem Konferenzraum hinaus.
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