6.Kapitel (Candela)
Den Rest des Tages hatte Amalia sich auf ihrem Zimmer verkrochen und ihre Nase in einem Buch versteckt. Eigentlich verpasste sie sonst nie Unterricht, selbst wenn sie krank war, doch jetzt würde sie eher sterben als sich den Blicken und Getuschel ihrer Mitschüler auszusetzen. Den Unterrichtsstoff könnte sie nacharbeiten.
Die Nachricht von ihrem Anfall im Englischunterricht hatte sich sicherlich wie ein Lauffeuer verbreitet, überlegte sie. Obwohl die Ankunft von Leo Potential hatte davon abzulenken.
Neuankömmlinge waren selten auf dieser Schule, dazu konnten sie sich zu wenige Familien leisten. Und eigentlich waren fast alle der Jugendlichen hier weil ihre Eltern sie aus dem Weg haben wollten. Nur bei Leo schien es anders zu sein.
In jeder Hinsicht war er besonders und das bedeutete Gesprächsmaterial. Klatsch und Tratsch war auf dieser Schule eine Währung die fast so wertvoll war wie Geld.
Leo hatte ihr gesagt sie solle sofort zur Krankenschwester gehen, oder zur Schulpsychologin, aber sie hatte ihn mit ein paar Notlügen abgespeist. ,,Später", hatte sie gesagt, ,,Ich möchte erstmal auf mein Zimmer."
Jetzt, gemütlich in ihrem Bett vergraben mit einem Stapel Bücher an ihrer Seite, fühlte sie sich so sicher als wäre das alles nie passiert. Nur leider war es das und die Anderen würden es nicht so leicht vergessen.
Das Mittagessen könnte sie ausfallen lassen, überlegte sie, aber spätestens zum Abendessen würde sie hinunterkommen müssen. Amalia stöhnte und wickelte sich die Bettdecke um den Körper als sie daran dachte.
Sie zuckte zusammen als plötzlich die Tür aufging, ein braunhaariges Mädchen hereinhastete und die Tür wieder zuschlug.
,,Candela? Schwänzst du schon wieder?"
Die Spanierin schien nicht minder überrascht zu sein Amalia auf dem Zimmer vorzufinden.
,,Ja. Und du? Du bist nicht in Unterricht?" Ihre Stimme war halblaut und von einem starken Akzent gezeichnet.
,,Mir geht's nicht so gut." Amalia legte das Buch beiseite.
Candela und sie waren vor einem Jahr Zimmergenossinnen geworden. Nachdem Candela im Ferienhaus ihrer Eltern auf Ibiza eine wilde Party zu viel geschmissen hatte und ihrem Vater, einem stinkreichen Diplomaten, klargeworden war, dass es so nicht weitergehen konnte.
In den ersten drei Wochen auf dem Internat hatte Candela nur geweint und stundenlang mit ihren Freunden in Spanien telefoniert. Aber dann hatte sie sich mit der neuen Umgebung abgefunden und war regelrecht aufgeblüht.
Am Anfang hatte Amalia gedacht sie und Candela könnten sich villeicht anfreunden. Sie hatte ihr Bestes getan um ihr mit dem Unterrichtsstoff und der englischen Sprache zu helfen, obwohl es mehr als ungewohnt für sie war plötzlich eine Zimmernachbarin zu haben. Aber dann war Candela beliebt geworden. Sie hatte angefangen mit den Coolen an der Schule abzuhängen und die hatten ihr natürlich erzählt das Amalia die Eiskönigin war und man sich von ihr fernhielt. Seitdem tat Candela auf dem Schulflur so, als würden sie sich nicht kennen.
,,Bist du krank?" Besorgt zog sie jetzt die Augenbrauen zusammen. ,,Du bist nie krank, sonst."
Ihr Englisch war in den letzten Monaten deutlich besser geworden, aber manchmal machte sie noch Fehler. Bei jedem Satz, eigentlich.
,,Es ist nichts." Amalia winkte ab.
,,Kannst du dann nach woanders gehen?"
,,Was? Warum?"
Candela schloss die Augen und lächelte verträumt.
,,Weil in 5 Minuten kommt Vlad. Wir haben eine Verabredung."
Oh Gott. Amalia kannte diesen Blick. Sie konnte sich denken wofür Vladimir vorbeikam.
,,Könnt ihr das nicht auf seinem Zimmer machen?"
Candela rümpfte die Nase und verzog den Mund. ,,Da stinkt's. Und wir haben jetzt schon auf mein Zimmer geeinigt. Er kommt gleich."
Amalia seufzte. ,,Aber hier bin ich. Also macht es woanders."
Candela zog einen Schmollmund, hielt sich allerdings ihr Handy ans Ohr und rief ihren Freund an, während sie die Tür hinter sich zuzog und wieder auf dem Gang verschwand.
Amalia lehnte sich mit einem Seufzen zurück.
Candela war beliebt bei den Jungs. Etwas zu beliebt villeicht. Ständig hatte nie neue Freunde und selbst wenn sie grade mal nicht in einer Beziehung war, war sie nie wirklich Single. Mit Vlad war sie letztes Jahr kurz vor den Sommerferien zusammengekommen.
Amalia fand den bulligen Russen ganz in Ordnung, aber das hieß nicht, dass sie für ihn das Zimmer räumen würde. Sollten sie doch auf sein Zimmer gehen, oder auf eine der Toiletten, wie alle Anderen auch!
Nach einem Blick auf die Uhr schlug das Mädchen ihr Buch wieder auf. Abendessen gab es um 6:30. Bis dahin waren es noch 5 Stunden, aber es rückte unvermeidlich näher.
Dann würde es Zeit sein sich den Blicken und dem Geflüster der Anderen zu stellen.
Was für ein beschissener erster Schultag!
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