*Kapitel 32*
Hains Augen wirkten leer. Seine Augenbrauen hingen, wie graue Wolken, gedankenverloren zusammen.
Ci schnippte mit ihren Fingern, direkt vor seinem Gesicht. Er fuhr hoch, grunzte etwas Unverständliches vor sich hin und entschuldigte sich mit seinem kaum angerührten Tablett vom Tisch.
Ci seufzte und sah Vera an.
"Ist das zu glauben? So ist er seit Tagen. Er ist gar nicht mehr richtig hier."
Vera, die gerade dabei war, sich hastig große Stücke des Wilds in den Mund zu schieben, dass es heute zu Mittag gab, zuckte nur mit den Schultern. Viele Menschen reagierten mit einer anschließenden Starre, einer Art verlängerten Schockzustand, der verzögert einsetzte, auf ihren ersten Toten. Auch, wenn Vera eigentlich nicht glaubte, dass Jelika Hains erste Berührung mit dem Tod war, gab sie ihm möglichst viel Platz, um wieder zu sich zu finden. Ci hatte nämlich Recht, seit Jelikas Tod wirkte Hain völlig abwesend, ständig am Grübeln und fast schon mit einem Fuß bei den Sternengeistern. So sehr hatte es niemand anderen getroffen. Der Rest der Dienerschaft war noch zwei Tage über die Gänge gehuscht. Die Gespräche in der Küche waren nur flüsternd abgelaufen, ständig in der Erwartung des nächsten großen Knalls, aber allmählich hatte sich die Lautstärke wieder erhöht und alles war in seinen Normalzustand zurückgekehrt.
Nur Hain nicht.
Ci sah sich erneut zu ihm um, doch sein Rücken war bereits in der Masse untergegangen. Auch ihre Brauen bildeten eine schmale Sorgenfalte.
"Ich mache mir Gedanken um ihn, irgendwas stimmt da nicht."
"Er ist wie ein roher Felsklotz im Moment", stimmte Vera ihr zu. Sie kannte das Gefühl zu gut, sich völlig rau geschliffen zu fühlen. Kalt und hart, aber trotzdem so zerbrechlich als könnte ein Windstoß dich umwerfen und zu fall bringen. Träfe man auf dem Boden auf, würde man in tausend Teile zerbrechen. Zumindest im Kopf.
So fühlte sich Trauer an.
Zumal Jelika schrecklich ausgesehen hatte. Völlig verstümmelt und ihres Gesichts beraubt. Das konnte auch einen solchen Berg wie Hain aus der Fassung werfen, dafür musste man sich nicht schämen. Vielmehr überraschte es Vera, dass Ci ihren Schrecken bereits überwunden hatte. Sie hätte sie als leichter zu beeindrucken eingeschätzt, was ihre Achtung vor der befreundeten Dienerin nur wachsen ließ.
Ci kaute auf ihrer Unterlippe und wartete offensichtlich darauf, dass Vera etwas Hilfreiches beisteuerte. Zu dumm nur, dass Vera mit so etwas nicht hilfreich war.
"Gib ihm Zeit und Raum. Er kommt schon wieder zu sich. Die beiden waren schließlich befreundet." Mehr brachte sie nicht zu Stande, fand aber, dass es ein guter Versuch war. Gut genug, um sich schnell noch ein Stück Hirsch zu gönnen, bevor Ci eine weitere Antwort erwartete, die Vera nicht hatte.
"Das ist es ja, mit ihr befreundet waren viele. Jelika war beliebt und wir kommen alle wieder klar. Das ist es nicht, es ist fast als würde er an einem Problem grübeln. So versunken kenne ich ihn sonst nur, wenn der König einen neuen Anbau will, der eigentlich unmöglich zu bauen ist."
"Niemand kann in den Kopf dieses Mannes schauen, wenn er das nicht möchte Ci." Vera betete, dass das Thema damit abgehakt war, sie wollte sich selbst nicht zu viele Gedanken darum machen, was Hain tat, warum er es tat und mit wem, denn sie war es in letzter Zeit ganz sicher nicht. Er hatte kaum mit ihr gesprochen, was sie natürlich absolut nicht bedrückte. Es war ihr völlig egal. Das brachte die Köchin zum Lachen.
"Wahre Worte, da hast du vermutlich Recht. Er ist ein Starrkopf vor den Geistern."
Daraufhin schien Ci zumindest im Ansatz beruhigt und sie verbrachten die restliche Mittagszeit schweigend, was zu einem Großteil daran lag, dass Vera sich den Mund so vollstopfte, dass es unmöglich war zu sprechen.
Ihr Magen fühlte sich heute völlig leer an und unterhalb ihres Brustkorbs zog es leicht. Ihn ihrem Kopf war es leicht schummrig. Schätzungsweise hatte sie sich langsam an die Portionen an Essen hier gewöhnt und ihr Hunger wurde einfach größer.
Ci verabschiedete sich mit einem Winken und sie gingen in unterschiedliche Richtungen. Ihre Freundin stieg die Treppen hinab, während Vera sie hinauf Richtung Eisschloss nahm.
Vormittags Färberin. Nachmittags persönliche Zofe der Prinzessin. Das Privileg, das Eisschloss überhaupt zu betreten, wusste sie zu schätzen, viele der hier geborenen Diener taten es ein Leben lang nicht. Die Verurteilten hingegen schon, man musste erst einmal hoch gelangen, um den tiefen Fall auch zu spüren.
Die sich windenden Treppenstufen machten den Aufruhr in ihrem Kopf nicht besser, sondern schlechter und schon bald musste Vera sich an der Wand abstützen. Was war nur los mit ihr? Sie wurde doch nicht etwa krank?
Ihre Sicht verschwamm leicht und sie bemerkte nur noch, wie sie an der Wand entlang rutschte und auf die Steintreppen sank...
Ein Stern mit verlängerter unterer Spitze, um den sich eine Schneeflocke wand. Das Bild in ihrem Sichtfeld weitete sich langsam aus und sie erkannte, dass das Symbol in eine Eiswand eingelassen war. Versteckt hinter einer Säule. Einer Säule, die in einer großen Halle stand, wie ein Eingangsbereich.
Die Bibliothek. Sie befand sich im Eingang der Bibliothek.
Wie im Namen der Geister war sie hier hergekommen?
Gezogen von einer unsichtbaren Macht bewegte sie sich wie im Traum auf das Symbol zu. Sie musste es nur berühren und alles würde gut. Sie musste nur ihre Hand darauf legen und sie wäre in Sicherheit. Das wusste sie ganz genau. Woher, konnte sie nicht erklären.
Ihre Haut war an den Rändern unscharf und auch die Wand nahm sie kaum wahr. Stattdessen sank ihr Arm glatt hindurch.
Eine Täuschung?
Sie war viel zu benommen, um sich zu erschrecken und fiel der Länge nach in eine kleine Kammer, gerade groß genug für vier erwachsene Personen, um darin zu stehen.
Was war das für ein Ort? Und was war los mit ihr. Es fühlte sich fast so an als strömte Wärme aus dem Bereich unterhalb ihrer Lunge. Dort wo ihre Macht seit etwas über einem Mond schlummerte und sich nicht geregt hatte.
Doch jetzt spürte sie sie ganz deutlich. Auch ihre Atmung und Sicht waren verschwommen, zersplittert und zäh, wie unter Wasser. Genauso wie damals in den Grotten.
Noch bevor sie nicht näher in der seltsamen Kammer umsehen konnte, wurde ihr erneut schwarz vor Augen.
Ihr Körper lag immer noch auf den Treppenstufen im Steinschloss. Sie hatte sich keinen Schritt bewegt. Nur ihr Geist war auf Reisen gewesen.
Ihre Macht pulsierte noch leicht, wurde jedoch bereits wieder stiller.
Vera rieb sich über die Rippen.
"Jetzt meldest du dich? Einfach so? Was sollte das denn?", doch natürlich bekam sie keine Antwort. Sie kam sich dumm vor, mit sich selbst zu streiten und rappelte sich stattdessen auf. Aufgewühlt klopfte sie den Staub von ihrer Kleidung und kontrollierte, ob ihr Knoten noch richtig saß.
Das tat er. Verwirrt fuhr sie sich über die Schläfen. Gab es die Kammer, die sie gesehen hatte, wirklich und warum hatte sie sie gesehen? In den Grotten hatte Vera eine konkrete Frage gestellt und nur den Ausschnitt einer vagen Antwort erhalten. In dieser Vision hatte sie eine Antwort auf eine Frage erhalten, die sie weder kannte noch gestellt hatte.
Was geschah nur mit ihr? Andere Menschen hätten vielleicht Angst verspürt. Vera wusste, dass sie eigentlich ängstlich und verwirrt sein sollte, aber sie konnte nur lächeln. Verwirrt war sie tatsächlich, aber viel wichtiger war doch, dass das Stückchen Macht, welches sie aus den Grotten gestohlen hatte, noch existierte und funktionierte. Vielmehr hatte sie Angst gehabt es verloren zu haben.
Sie hatte gerade ihre Macht verwendet.
Vera hatte nicht den geringsten Schimmer wie, doch trotzdem erfüllte sie stolz.
Macht fühlte sich gut an und sie würde sie kontrollieren. Sie war gespannt, was sie ihr noch alles zeigen würde. Falls diese Kammer existierte und das würde sie herausfinden, war sie damit kein normaler Mensch mehr und das fühlte sich großartig an. Menschen waren so zerbrechlich und vergänglich in vielerlei Hinsicht.
Vera war nie wehrlos oder schwach gewesen, aber es tat gut etwas zu haben, dass nur sie hatte. Zumindest wusste sie von keinem weiteren Magier außer Lia. Die Weisen nutzen Rituale und erbaten die Macht der Sternengeister, aber sie trugen sie nicht in ihren Körpern herum.
Doch sie konnte durch Zeit und Raum wandeln und Vision von Dingen erhalten, die sonst niemand wusste. Siegreich reckte sie eine Hand in die Höhe.
Ihre Eckzähne schlossen sich ihrem breiten Lachen an und Vera schickte ihre Freude in den stummen Korridor aus Stein. Jetzt, da die Vision abgeklungen war, ruhte ihre Macht wieder zufrieden unter ihrem letzten Rippenbogen und sie konnte das Treppensteigen wieder aufnehmen.
Sie musste Lia unbedingt davon erzählen, die Eisprinzessin würde verstehen, wie fantastisch das war. Es konnte ihnen ungemein bei der Suche nach ihren Eltern helfen, wenn sie lernten es zu kontrollieren. Gut, sie mussten eine Lösung finden, dass sie sich nicht aus Versehen den Schädel brach, wenn sie so zusammenklappte, aber falls sie das Auftreten selbst entscheiden konnte, wer der Ort, an dem sie sich befand, auch ihre Wahl.
Endlich kamen sie einen Schritt weiter.
Doch Lia sah gar nicht so sehr nach Freude und Feierlaune aus, wie Vera es sich erhofft hatte und endlich an ihrem Zimmern ankam. Müde und abgeschlagen lehnte sie in der Mitte ihres Raumes mit dem Rücken an der Eiswand und rieb sie die Schläfen.
"Lia?"
Die Prinzessin zuckte zusammen. Ihre Augen blickten traurig auf Vera. Der sonstige Schalk und Ideenreichtum war aus ihnen verschwunden. Stattdessen sah sie schwach aus, ängstlich.
"Lia, was ist los. Sprich mit mir." Der Ausdruck auf dem Gesicht der Prinzessin gefiel der Dienerin ganz und gar nicht.
Lia schluckte.
"Sie kommen Vera, die Rebellen kommen und werden das Schloss angreifen."
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