* Kapitel 1 *
Schnee durchweichte ihre Kleidung und Kälte drang mit der Nässe an ihre Füße. Dennoch duckte sie sich tiefer hinein. Wind wehte ihr entgegen und trug ihren Geruch fort, exakt wie sie es beabsichtigt hatte. Ein Lächeln zupfte am linken Rand ihrer vom Frost blauen Lippen, doch die Kälte war ihr nicht unangenehm.
War es nie gewesen. Vielmehr fühlte es sich für sie an, wie die schmerzhaft schöne, bitter-süße Umarmung eines lange vermissten, alten Freundes.
Ihre Hände ließen vom schneebedeckten Felsen vor ihr ab, der ihre Deckung bildete und in ihrer weißen Umgebung nicht mehr war als ein flimmernder Eindruck von räumlicher Tiefe.
Sie verschwand gänzlich in einem weißen Meer.
Nicht, dass sie das Meer je gesehen hätte, aber so berichtete es zumindest der alte Ferisso, der behauptete sein Bruder aus dem Gebiet der Felsenweite hätte es gesehen, weil er seinerzeit Wächter im Schloss der Königsfamilie war. Der Königfamilie deren Palast aus Eis auf einer einzelnen ins Wasser hineinreichenden Klippe thronte und den Gesetzen der Schwerkraft und den Gezeiten trotzte.
Fast schon als stecke mehr dahinter.
Veralia Ristossorio war sich nicht sicher, was sie von derartigen Gerüchten halten sollte, aber, die Erzählungen vom Meer hatten sie immer fasziniert. Eine blaue unendliche Weite. Eine vielschichtige, sich ständig verändernde Farbenpracht inmitten einer statischen Welt aus schwarz-weiß. Zu gern würde sie es einmal, sehen, aber das würde vermutlich niemals geschehen.
Nicht mit ihrem Stand.
Als Bewohnerin eines der äußersten Dörfer der Eiswüste Zura, die an die schwarze Felsenweite grenzte war sie so ziemlich am weitesten vom königlichen Eispalast und den riesigen Klippen entfernt, wie es nur irgend möglich war.
Ihr sollte es nur recht sein, doch um das Meer war es schade.
Veras linkes Ohr zuckte, als der Schnee ihr zuflüsterte, worauf sie gewartet hatte.
Ihre schneeweißen Haare, die eisblauen Augen und die helle Haut ließen sie in Kombination mit ihrer hellen Kleidung aus Yak-Leder, mit der Umgebung verschmelzen. Was sie zur am besten qualifizierten Jägerin des kleinen Dörfchens am Rande zum Nirgendwo machte.
Ihr Dorf war so unwichtig, es hatte nicht einmal einen Namen. Viel mehr handelte es sich bloß um eine kleine Siedlung an Menschen, die sich zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam höhere Überlebenschancen in dieser lebensfeindlichen Umgebung zu haben.
Doch in ihrem kleinen unwichtigen Nichts schätze man sie.
Ihre Haare machten sie ebenfalls zu einer perfekten Spionin, wenn jemand etwas über jemand anderen wissen wollte. Eine Frau, die nicht wusste, ob die Jäger tatsächlich alles Wild für die Gemeinde und Kinder mitbrachten oder Männer, die glaubten die Wachen des Palastes verlangten bei ihnen eine höhere Friedensgebühr. Alles wofür eben gerade gezahlt wurde, mit Nahrung oder Kleidung oder Waffen verstand sich, mit Nützlichem.
Hier draußen lebte man vom Handel und von der Hand in den Mund.
Das hier war die Wildnis.
Die von der Königfamilie eingeführte Währung zur Vereinheitlichung des Handels hatte hier keinen Wert, was sollte man denn mit gravierten Steinstücken anfangen? Sie in eine Schleuder spannen, maximal. Lediglich die für jede Familie obligatorische Friedensgebühr des Palastes wurde damit gezahlt. Schwermütig wurden Häute verkauft, die man besser in Kleidung umgewandelt hätte.
Lächerlich als könnte man Frieden kaufen. Als würde es Frieden bedeuten erfrieren zu müssen.
Eine Strähne rutschte Vera aus ihrem langen geflochtenen Zopf und wurde vom Wind vor ihr Gesicht gezerrt. Unwirsch wischte Vera sie sich hinter ihr Ohr.
Aber ihre Haare waren tatsächlich in ihrem Dorf und vermutlich im gesamten Königreich Musashia eine Rarität. Alle Menschen des Landes hatten entweder weiße oder schwarze Haare. Die anderen alten Haarfarben waren mit der Zeit ausgestorben. Es überlebte nur, was und wer nützlich war, schätzte Vera und da hier alles entweder schwarz oder weiß war, waren rote, braune oder sternfarbene Haare, den Namen dieser Farbe hatte sie ebenfalls bereits vergessen, wohl nicht besonders nützlich. Zusätzlich funktionierte ihre Welt eben so, in Schwarz und Weiß.
Das einzige Bindeglied das einzige Grau, wenn man es so nahm, bildeten die Wächter des Palastes, auch die Wächter des Eises genannt, die jedoch mehr sich selbst und dem Palast verschrieben waren als irgendjemandem sonst.
Außerdem gab es da noch die Weisen der Wasser- und Sternengeister. Auch, wenn Vera sich nicht sicher war, ob diese alten Männer, die den neugeborenen die Namen im Auftrag der Geister gaben, nicht nur ein weiterer Mythos waren. Man setzte sein Kind in einer bestimmten Schneewehe nahe des höchsten Berges des Landes aus und bekam es am nächsten Tag, an derselben Stelle mit Namen und Schicksalsprophezeiung, die in eine kleine Steintafel geritzt war, zurück. Damit niemand die Weisen beeinflussen konnte. Obwohl diese sowieso ausschließlich den Geistern verpflichtet waren und deshalb ebenfalls keine Familien gründeten. Jedoch bekamen zufällig adeligere Kinder häufig längere Vornamen und Namensergänzungen. Die Nachnamen der Adelsfamilien hingegen waren kurz. Warum auch immer, eine weitere uralte Idiotie, die den Adel vom gemeinen Volk unterschied.
Ihr Name Vera-lia hätte genauso gut ein adeliger Name sein können, mit der edlen Endung. Angeblich teilte Vera ihre Namensendung nur mit einer weiteren lebendigen Person, seit mehreren Generationen.
Seriolia die Prinzessin des Eises. Die niemand außerhalb des Palastes je zu Gesicht bekommen hatte. Die angeblich das Schicksal ihrer Welt auf den Schultern trug.
Nicht, dass Schicksalsprophezeiungen in der Wildnis irgendeinen Wert hatten.
Aber das System mit den Namen war ganz nett und ein schöner Gedanke war es noch dazu, dass seine Ahnen ihn zugedacht hatten. Als wäre man gewollt, als wäre man sinnvoll.
Ihre Ahnen, ihre allwissenden Schutzpatrone, das waren die Sternengeister, welche jede Nacht am Firmament über ihr funkelten.
Veralia war fest entschlossen zumindest diesen Teil der Geschichten zu glauben.
Das ungewöhnliche an ihrer Haarfarbe war nun, dass im einfachen Volk schwarze Haare eher Norm als Durchschnitt waren und weiße zum Großteil in den reicheren Familien und natürlich in der Königsfamilie auftraten.
Der Adel blieb schließlich unter sich. Wurde ein adeliges Kind mit schwarzen Haaren geboren, war das ein Zeichen von Unreinheit und die Familie konnte es ablehnen. In sehr schlimmen Fällen wurden die Kinder ausgesetzt und einfach den Elementen überlassen. Sollte das Schicksal über sie entscheiden.
Die Entscheidungen des Schicksals waren einiges, aber immer eindeutig.
Veralia rümpfte beim Gedanken an diese unnötige Grausamkeit und Verschwendung von Leben die Nase. Ihre Haarfarbe als ein Zeichen von Adel, adeliges Blut irgendwo, vermutlich sehr sehr verdünnt, in ihren Adern, das sie nicht lachte. Auch, wenn sie ihr eigentlich gefiel, aus Verachtung vor ihrer vermeindlichen Herkunft verwendete Vera ihren vollen Namen nicht.
Sie war Teil einer achtköpfigen Familie am Rande des Nichts, eine Familie, die sie liebte und schätzte. Völlig bedingungslos. Eine Familie, die sie versorgte und aufgenommen hatte, obwohl sie selbst nichts hatten außer einander. Vera hatte kein gesondertes Interesse daran in irgendeiner Weise etwas mit dem Adel zu tun zu haben.
Im Leben nicht, wenn es nach ihr ging.
20 Meter vor ihr kam der Hase, dessen Existenz ihr wenige Atemzüge zuvor vom Eis verkündet worden war, zum Stehen und prüfte die Luft.
Sein Fehler, sein Pech.
Veras Pfeil flog lautlos auf ihn zu und beendete sein Schnuppern, seine gesamte Atmung. Das viele Eis und der Schnee verschluckten permanent die meisten Geräusche, so auch ihr leises Ausatmen.
Sie hauchte einen Dank an die Sternengeister, dass ihre Familie heute Abend nicht hungern musste und sprach ihr Mitleid für die von ihr ermordete Seele aus, die sich nun ihren Platz am Firmament suchen würde. Dafür wandte sie den Blick gen nebelweißen Himmel und ließ für einen Moment zu, dass ihr die langsam fallenden Schneeflocken ins Gesicht fielen.
Bevor die Kälte und das getaute Wasser der Flocken ihr Wimpern und Lider zusammenfrieren und sie für den Heimweg blind machen würde, öffnete Vera die Augen und sog wieder stechende Luft in ihre Lungen.
Veralia Ristossorio war eine Mörderin, eine Diebin, eine Spionin und situationsbedingt auch eine Lügnerin. Sie bettelte, jagte und kämpfte, wenn nötig.
Meistens gegen die großen weißen Wölfe, die sich mit ihnen um die Nahrung stritten. Oder gegen die Hände eines vom Hunger verrückt gewordenen Jägers.
Adeliges Blut, von wegen.
Egal, was ihre Haare andeuteten.
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