Die Mauer

26. Januar 2019

Tiefste Nacht umgab die gewaltige, dunkle Mauer. In kaltes Mondlicht getaucht ließ sich ihre beängstigende Länge nur erahnen. Bisher war es nur wenigen Menschen gelungen, aus ihren Fängen zu entkommen. In ihrem eisigen Schatten beobachte ich in einiger Entferung die Lage.

Vor unendlich wirkender Zeit noch, war dies ein freier Ort. Eine kleine Stadt in östlicher Nähe von Berlin. Vor fast 12 Jahren schickte Mutter uns in genau diese Stadt, um Äpfel für ihren Kuchen zu kaufen. Unsere Tante aus Westberlin wollte zu Besuch kommen und wir hatten mit dem Geld von Mutter noch jeweils ein Eis gekauft, eins für mich, eins für meinen Bruder.

In der Stadt trafen wir Freunde und alberten mit ihnen noch etwas herum, als plötzlich die Wagen der Soldaten vor fuhren. Sie hielten mitten auf dem Marktplatz und begannen, in gebückter Haltung eine Linie mit weißer Straßenfarbe zu ziehen. Wir Teenager hielten es für einen blöden Scherz und lachten darüber, machten uns darüber lustig.

Wir ahnten zu dem Zeitpunkt noch nicht die Ausmaße, die der Scherz nehmen sollte, wir dachten, es wären Narren, die für eine Show warben. Doch die Soldaten blieben ernst. Mein Bruder sprang mit der weißen Plastiktüte voller Äpfel auf die gerade gemalte Linie und balancierte da drüber, tat so, als würde er jeden Augenblick von einem Hochseil fallen und rang darstellerisch um sein Gleichgewicht.

Ich erinnere mich, als wäre es gestern geschehen, wie wir über seine komische Showeinlage gelacht haben. Die Soldaten fanden es nicht so komisch und verscheuchten ihn mit bösen Gesichtern von der Linie. Sie sprachen laut und fuchtelten wichtigtuerisch mit ihren schweren Gewehren, schimpften über uns Teenager, obwohl sie selbst kaum viel älter wirkten.

Sie meinten, dass diese Linie von niemandem übertreten werden darf. Weder ich, noch meine Freunde nahmen sie Ernst, am allerwenigsten mein Bruder. Er ahmte die Soldaten übertrieben nach und simulierte ihre Gewehre, wir konnten uns vor Lachen kaum halten.

Dann trieb er es weiter, ging einmal um die Linie herum und sprang dann mit Absicht darüber, zurück auf unsere Seite. Die Soldaten spielten sich auf, wir lachten und mein Bruder sprang leichtfüßig und provokant hin und her über die Linie. Im nächsten Moment wurde ihm ins Bein geschossen.

Da begriffen wir, dass es kein Spaß mehr war. Zusammen mit meinem humpelnden Bruder trollten wir uns. Und heute, so viele schreckliche Jahre danach, stehe ich wieder hier. Unsere Mutter wurde von der Stasi getötet, einen Vater hatten wir nie. Neben mir steht mein Bruder, ebenso entschlossen wie ich. Heute Nacht wird es geschehen. Wir werden diese Mauer überwinden, koste es, was es wolle.

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