Kapitel 9 ~ Stimmen

Der Wind flüsterte sanft durch ihre Haare, während die letzten Sonnenstrahlen ihr Gesicht streiften und langsam hinter dem Horizont verschwanden. Milena stand regungslos da, ihre Augen starrten in die ferne Dunkelheit, die sich vor ihr ausbreitete. In ihrer Hand spürte sie das Gewicht des Amuletts, das sie tatsächlich gestohlen hatte. Ihr Herz raste, während sie versuchte, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Sie wusste, dass ihr Verschwinden und das des Amuletts bald bemerkt würden - und dass Enja in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde. Doch trotz des drohenden Unheils konnte Milena nicht begreifen, was sie zu dieser tollkühnen Tat getrieben hatte. Ein Drang, eine innere Stimme, die sie nicht ignorieren konnte, hatte sie dazu gebracht, diesen verhängnisvollen Schritt zu tun.

In der Ferne erhob sich ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das die Stille der Nacht zerriss. Es klang, als sei ein Drache auf eine Gruppe Jäger gestoßen, und der Kampf schien unerbittlich zu toben. Milena riss sich aus ihrer Erstarrung, das Adrenalin schoss ihr in die Adern, und sie setzte sich zügig in Bewegung, tiefer hinein in den düsteren Wald. Die Stille war unheimlich - keine Tiere regten sich, kein Wind raschelte in den Blättern, nur Milenas eigene schweren Schritte hallten durch die Finsternis. Sie wusste nicht, wohin sie ging; sie ließ sich von einer inneren Unruhe treiben, weiter und weiter, ohne Rücksicht auf die unsichtbaren Gefahren, die in den Schatten lauerten.

Plötzlich erstarrte sie, ihr Herz schlug schneller. „Ein Mensch, der sich hier herumtreibt... wie widerlich." Die Worte kamen aus dem Nichts, die Stimme war tief und durchdrungen von dunkler Magie. Milena hielt den Atem an, ihr Blick huschte hektisch umher, doch sie konnte nichts sehen, nur das unheimliche Gefühl spüren, dass sie beobachtet wurde. Mit dem Amulett fest in ihrer Hand, setzte Milena an, weiterzugehen, doch die Stimme drang erneut an ihr Ohr, diesmal noch schneidender und verächtlicher: „Abschaum von einem Menschen, verschwinde endlich." Ein plötzliches Rascheln ließ sie innehalten, ihre Augen fixierten sich auf einen Busch in der Nähe. Sie versuchte, in die Dunkelheit zu starren, aber die Schatten verschluckten alles. Entschlossen, ihre Furcht zu überwinden, rannte sie direkt darauf zu. Ein plötzlicher Luftzug streifte ihre Wange, und im letzten Moment konnte sie sich zur Seite werfen, gerade rechtzeitig, um dem glühenden Inferno zu entgehen, das aus den Büschen schoss. Die Erkenntnis durchzuckte sie: Ein Drache war in der Nähe. „VERSCHWINDE!" donnerte die Stimme erneut, begleitet von einem ohrenbetäubenden Brüllen, das Milena bis ins Mark erschütterte. Sie presste ihre Hände fest gegen ihre Ohren, doch die Vibrationen des Brüllens drangen tief in ihr Innerstes. Als das Echo des Schreis verhallte, nahm sie zitternd die Hände von den Ohren und blinzelte in die Dunkelheit. Vor ihr, kaum mehr als ein bedrohlicher Schatten, erhob sich die mächtige Gestalt eines Drachen. Das schwache Licht der noch glimmenden Funken, die vom Feuersturm übriggeblieben waren, enthüllte die schuppigen Umrisse des Ungeheuers, das tief und gefährlich vor ihr lag.

Seine Schuppen schimmerten in einem bedrohlichen Rot, als würden sie das Feuer, das in ihm brannte, widerspiegeln. Milenas Blick war wie gebannt von den glühenden Augen des Drachen, die sie festhielten, als hätten sie eine magische Anziehungskraft. Ohne es zu merken, trat sie Schritt für Schritt näher an das gigantische Wesen heran, während die Spannung in der Luft greifbarer wurde. „Wunderschön...," entfuhr es ihr kaum hörbar, ein leises Flüstern, das ihre Ehrfurcht verriet.

„Ein Mensch ohne Furcht?" Die tiefe, grollende Stimme schallte direkt in ihrem Kopf wider, und erst jetzt realisierte Milena, dass sie direkt vom Drachen kam. Verwirrung durchflutete sie, als sie den Drachen anstarrte, unfähig, das Unmögliche zu begreifen. „Ich kann dich verstehen," flüsterte sie ungläubig, ihre Worte mehr an sich selbst gerichtet. Auch der Drache schien einen Moment innezuhalten, seine Augen verengten sich, als er sie musterte. „Wie ist das möglich?" grollte er misstrauisch.

Milena schüttelte den Kopf, unfähig, eine Erklärung zu finden. „Ich weiß es nicht... Aber seltsamerweise habe ich keine Angst vor dir." Ihre ruhige, direkte Antwort schien den Drachen zu verunsichern, ein tiefes Knurren entfuhr seiner Kehle, und plötzlich schnellte er vor. Mit einem einzigen, blitzschnellen Griff packte er Milena mit seiner massiven Kralle und drückte sie erbarmungslos zu Boden. „Verarsch mich nicht, Mensch! Was ist das für ein Zauber?" Seine Stimme war jetzt ein tiefes Grollen, und sein massiver Kopf beugte sich bedrohlich zu ihr hinab. Sie konnte seinen heißen, schwefelhaltigen Atem auf ihrer Haut spüren, und die Luft um sie herum flirrte vor Hitze. Doch anstatt in Panik zu verfallen, sah Milena dem Drachen fest in die Augen, ihr Herz schlug zwar wild, doch sie hielt seinem Blick stand.

„Das ist keine Hexerei, bitte töte mich nicht," flehte Milena verzweifelt, während sie vergeblich versuchte, sich aus dem eisenharten Griff des Drachen zu befreien. Doch seine Kräfte waren überwältigend, und ihr Widerstand schien nur seine Wut weiter anzustacheln. „Noch nie hat ein Mensch es gewagt, mit mir zu sprechen! Also sag mir, was dich so besonders macht!" Sein Knurren vibrierte in der Luft, und seine glühenden Augen durchbohrten sie, als würde er in den Tiefen ihrer Seele nach einer Antwort suchen.

„Ich weiß es wirklich nicht," stammelte Milena, ihre Stimme zitterte vor Angst. „Es ist auch für mich vollkommen neu." Sie spürte, wie die Hoffnung in ihr schwand, dass der Drache sie freilassen könnte. Jede Sekunde, die verstrich, ließ die Gewissheit wachsen, dass ihr Ende nah war.

Plötzlich erstrahlte das Amulett in ihrer Hand in einem grellen Licht, das den Drachen für einen Moment verwirrt innehalten ließ. Seine Augen weiteten sich vor Schock, und ohne Vorwarnung ließ er sie abrupt los. „Das ist vollkommen unmöglich! Wie kannst du einen Cyanith besitzen?" Seine Stimme, die eben noch von unbändiger Wut erfüllt war, klang nun durchdrungen von ungläubiger Furcht. Milena, die zitternd auf den Boden gesunken war, richtete sich langsam auf, ihre Augen unverwandt auf das Amulett gerichtet. „Cyanith?" wiederholte sie leise, als hätte sie das Wort zum ersten Mal gehört. Der Drache, der eben noch so furchteinflößend war, wich einen Schritt zurück, als ob der Stein eine Macht besaß, die sogar ihn überstieg. Die Spannung in der Luft war fast greifbar, als beide, Mensch und Drache, gleichermaßen vom Cyanith fasziniert und verängstigt, in eine Stille fielen, die nur das leise Summen des magischen Steins durchbrach.

„Dieser Stein...," begann der Drache, seine Stimme jetzt gesenkt, aber voller Bitterkeit, „...kann uns Drachen mehr Schaden zufügen als jeder Jäger. Er saugt unsere Kraft aus, raubt uns jede Energie, bis nichts mehr von uns übrig ist." Seine Worte durchbrachen die bedrückende Stille, doch er hielt weiterhin Abstand, als würde der bloße Gedanke an den Cyanith ihn schwächen. Milena sah, wie sich der mächtige Drache, der soeben noch unbesiegbar schien, vor diesem kleinen, unscheinbaren Amulett zurückzog. Ihre Gedanken rasten, während sie das leuchtende Amulett in ihrer Hand betrachtete. Warum war ein so gefährlicher und kostbarer Stein in ein einfaches Schmuckstück eingelassen? Was für eine Macht war in diesem Cyanith verborgen, dass er selbst den furchterregendsten Kreaturen Angst einflößen konnte?

Der Drache, der die Veränderung in ihrer Haltung spürte, knurrte leise, jedoch ohne den Blick vom Cyanith abzuwenden. „Hüte dich, Mensch," warnte er, seine Stimme nun fast flehend, „dieser Stein ist keine Waffe, die leichtfertig geführt werden sollte. Sein Potenzial ist zerstörerisch - selbst für jene, die ihn tragen." Doch während er sprach, sah Milena in seinen Augen nicht nur Furcht, sondern auch eine tiefe, uralte Weisheit.

Die Fragen, die in ihr aufstiegen, waren überwältigend, doch eine Sache war klar: Dieses Amulett und der Cyanith, den es beherbergte, waren mehr als bloßer Schmuck. Sie waren ein Schlüssel zu etwas weitaus Größerem - und möglicherweise Gefährlicherem - als sie es sich jemals hatte vorstellen können.

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