Kapitel 7 ~ Verschwunden
Endlich hatte Enja die Fesseln des Krankenbetts hinter sich gelassen. Mit zittrigen Beinen, aber unbändigem Willen, trat sie aus der Krankenstation hinaus. Jede Bewegung war eine kleine Herausforderung, doch die Freude über ihre wiedergewonnene Freiheit gab ihr die nötige Kraft. Ihr erstes Ziel waren ihre Leute - und das erleichterte Aufatmen, als sie sah, dass alle gesund und wohlauf waren, erfüllte sie mit tiefer Dankbarkeit. Milena hatte ihr zwar versichert, dass es allen gut ging, doch die Nachricht über Rolf beunruhigte sie. Man sagte ihr, er sei seit Tagen ununterbrochen draußen auf der Jagd, von früh bis spät, fast besessen. So kannte Enja ihn nicht. Ihr war klar, dass ein ernstes Gespräch unvermeidlich war, sobald er zurückkehrte.
Als Enja den Speisesaal betrat, wurde sie von einer warmen, heiteren Atmosphäre empfangen. Ein paar Leute lachten unbeschwert und genossen ihr Essen in aller Ruhe. Enja spürte, dass sie dringend eine richtige Mahlzeit brauchte, um ihre Kräfte langsam wieder aufzubauen. Sie schnappte sich etwas zu essen und setzte sich an einen Tisch, als plötzlich ein Gefühl der Beklommenheit über sie kam. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie zwei Gestalten, die sie unheimlich fixierten. Es war, als ob ihre Blicke sie durchbohren würden. Unbehaglich wandte sie den Blick wieder auf ihr Essen und nahm einen Bissen, doch die Präsenz der beiden Männer ließ sie nicht los. Sie hob den Kopf erneut, um sie genauer zu mustern. Ihre schattenhaften Konturen ließen kaum Zweifel zu, es mussten Männer sein, doch irgendetwas an ihnen wirkte beunruhigend anders.
Sie tauschten leise Worte aus, ihre Stimmen waren kaum mehr als ein Hauch in der stillen Luft. Doch ihre Augen blieben unerbittlich auf Enja gerichtet, als hätten sie ein dunkles Geheimnis entdeckt, das sie nicht aus den Augen lassen durften. Dann, ohne Vorwarnung, erhob sich der rechte von ihnen, sein Blick war fest auf Enja gerichtet. Er trat aus dem Schatten heraus, seine Bewegungen geschmeidig und doch bedrohlich, bevor er lautlos den Speisesaal verließ. Der zweite Mann nahm einen Schluck von seinem Getränk, seine Augen waren immer noch auf Enja gerichtet.
„Du wirkst sehr angespannt, meine Liebe." Amanda trat auf sie zu, ihre Augen voller Sorge. Die ältere Frau bemerkte die Blicke des Mannes, die schwer auf ihnen lasteten, und seufzte leise. „Mach dir keine Gedanken darüber", sagte sie schließlich, ihre Stimme ein sanftes Flüstern. „Sie ziehen es vor, unter sich zu bleiben. Neue Gesichter machen ihnen Angst." Amanda versuchte zu beruhigen, doch Enja spürte, dass da mehr war. Etwas, das unausgesprochen in der Luft lag, wie ein Sturm, der sich in der Ferne zusammenbraut. „Ich verstehe das", antwortete Enja nachdenklich, „gerade in solch schweren Zeiten." Doch das Unbehagen ließ sie nicht los. Irgendetwas stimmte nicht, etwas Dunkles, Verborgenes, lauerte in den Schatten. „Nun gut", sagte Amanda plötzlich, die Atmosphäre schneidend, „unser Gruppenführer wird heute Abend zurückkehren. Lasst uns schon mal einige Details besprechen." Enja nickte zögernd, aber bevor sie Amanda folgte, griff sie hastig nach einem Stück Brot und einem Schluck Wasser. Mit einem letzten Blick über die Schulter schlüpfte sie dann in das abgelegene Zelt, wo die Schatten noch dichter und die Geheimnisse noch tiefer schienen.
„Ihr könnt natürlich hier bleiben, deine Leute haben sich bisher gut eingefunden, aber es gibt ein Problem." Amanda begann mit leiser Stimme, doch Enja ahnte bereits, worauf sie hinauswollte. „Es geht um Rolf, nicht wahr?" Enjas Stimme war fest, doch in ihrem Inneren brodelte ein Gefühl des Unbehagens. Amanda nickte langsam und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. „Er ist besorgt, das sehe ich. Aber seine Unruhe verbreitet Angst unter den Leuten. Zuerst hat er hier jeden Stein umgedreht, als würde er etwas suchen, das ihm entglitten ist. Und jetzt... jetzt zieht er ständig auf die Jagd, als würde ihn etwas jagen." Amanda sah Enja mit durchdringendem Blick an, als ob sie die Antwort auf ein ungestelltes Rätsel suchte. „Die Leute werden unruhig, Enja. Sie flüstern hinter seinem Rücken." Enja spürte, wie die Anspannung in der Luft förmlich knisterte, und sie wusste, dass Amanda recht hatte. Doch was sollte sie sagen? Rolf war ein Rätsel, selbst für sie. „Ich weiß", murmelte sie schließlich, „aber ich habe keine Antworten. Selbst meine Schwester hat bisher nichts herausfinden können." Die Worte hallten zwischen ihnen wider, schwer und unausgesprochen. Etwas Dunkles, Unerklärliches hing in der Luft, und Enja konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie sich am Rand eines Abgrunds befanden, dessen Tiefe sie noch nicht ganz erfassen konnten. Die Stille zwischen den beiden Frauen war gespenstisch. Enja spürte, wie ihre Nerven angespannt waren, als ob sie auf etwas Unausweichliches wartete, etwas, das in der Dunkelheit lauerte und nur darauf wartete, zuzuschlagen.
„Nun, es muss eine Lö.." Amanda verstummte abrupt, als plötzlich ein wütender Nero in den Raum stürmte. Seine Augen glühten vor Zorn, und als er Enja erblickte, verdunkelte sich sein Blick noch mehr. Bevor die beiden Frauen überhaupt reagieren konnten, packte Nero Enja am Kragen und hob sie mühelos in die Luft, als wäre sie federleicht. Amanda und Enja waren wie erstarrt vor Schock, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, unfähig, die Situation sofort zu begreifen. „Was soll das, Nero? Lass sie sofort runter!" rief Amanda, ihre Stimme eine Mischung aus Ärger und Verwirrung, doch Nero schien ihre Worte nicht einmal zu hören. Sein Fokus lag einzig und allein auf Enja, die verzweifelt versuchte, sich aus seinem brutalen Griff zu befreien.
„Wo ist deine Schwester?" zischte er, seine Stimme eisig und bedrohlich, während er Amanda völlig ignorierte.
„Milena? Ich... ich weiß es nicht", keuchte Enja, ihre Stimme von Panik und Atemnot durchdrungen, während sie sich verzweifelt wand, um seine Finger von ihrem Hals zu lösen. Doch Nero war stärker, viel stärker, als sie es jemals vermutet hätte. Der Griff seiner Hände war wie Eisen, und in seinen Augen flackerte etwas, das Enja das Blut in den Adern gefrieren ließ - eine dunkle Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete.
„Mein Amulett und deine Schwester - beide sind verschwunden. Sie hat es gestohlen und ist dann abgehauen." Neros Stimme war hart wie Stahl, als er Enja abrupt losließ. Sie stürzte keuchend zu Boden, rang nach Luft, während ihr Herz noch immer rasend in ihrer Brust schlug.
Als Enja sich endlich wieder gefasst hatte, konnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. „Milena würde so etwas niemals tun. Das kann ich mir nicht vorstellen und will es auch nicht", widersprach sie vehement, ihre Stimme zitterte vor Entschlossenheit und Verzweiflung.
Doch Nero schüttelte nur den Kopf, unnachgiebig wie ein Fels in der Brandung. Sein Blick war kalt, unbewegt. „Sie hat es getan, Enja. Die Spuren führen eindeutig zu ihr." Enja war verwirrt, ihr Verstand wollte sich nicht mit der grausamen Realität abfinden, die Nero vor ihr ausbreitete. Milena, ihre Schwester, die immer nur für die Familie und die Gemeinschaft lebte, die nie einen Gedanken an sich selbst verschwendet hatte - sollte sie wirklich eine Diebin sein? Es passte einfach nicht zusammen. Ihre Gedanken überschlugen sich, suchten nach einem Ausweg, nach einer Erklärung, die dieses düstere Bild widerlegen könnte. Doch je mehr sie nachdachte, desto tiefer verstrickte sie sich in einem Netz aus Unsicherheit und Angst.
Was, wenn Nero recht hatte? Was, wenn Milena tatsächlich...?
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