Kapitel 5 ~ Trauer

Milena blickte sich hektisch um, doch alles, was sie wahrnahm, war tiefe Schwärze. Nicht einmal ihre eigenen Hände konnte sie sehen. Es war, als wäre sie in einen endlosen Abgrund gestürzt.

„Milena.“

Ein Flüstern, kaum mehr als ein Hauch, durchbrach die Stille. Es war so leise, dass sie sich fragte, ob sie es sich nur eingebildet hatte.

„Milena.“

Diesmal war es lauter, drängender. Doch egal, wie sehr sie ihre Augen anstrengte, die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Sie konnte nichts erkennen, nichts greifen, was ihr Halt geben könnte.

„Milena, komm zu mir.“

Die Stimme kam nun von hinten, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Es fühlte sich an, als stünde jemand direkt hinter ihr, so nah, dass sie den Atem im Nacken spüren konnte. Die Stimme, jetzt deutlicher, war definitiv männlich, doch sie konnte sie keinem Gesicht zuordnen. Der Klang hallte von allen Seiten wider, umschloss sie, raubte ihr den Atem.

„MILENA!“

Mit einem Schrei riss sie die Augen auf. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und Schweiß klebte an ihrer Haut. Panisch versuchte sie, sich zu orientieren. Sie lag in einem Bett, der Raum war dunkel, aber real. Tief durchatmend zwang sie sich zur Ruhe, doch das Gefühl der Beklemmung wollte nicht weichen. Die unheimliche Stimme hallte noch in ihrem Kopf nach, als ob sie versucht hätte, ihr etwas Wichtiges zu sagen.

Milena stand auf und ging zum Waschbecken. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um die trüben Gedanken zu vertreiben. Es war lange her, dass sie einen Albtraum gehabt hatte, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Jetzt, da der Schlaf sie endgültig verlassen hatte, beschloss sie, nicht länger im Bett zu bleiben. Sie zog sich etwas Bequemes an und ging hinaus, um sich die Beine zu vertreten.

Während ihres Spaziergangs kam sie am Speisesaal vorbei und bemerkte eine einsame Gestalt, die an einem Tisch saß. Die Kleidung und die blonden Haare kamen ihr bekannt vor, es war der junge Mann von der Krankenstation. Er saß allein, in Gedanken versunken, als wäre die Welt um ihn herum verstummt. Neugierig betrat Milena den Raum. Als sie näherkam, fuhr er plötzlich zusammen, seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Doch als er erkannte, wer da vor ihm stand, entspannte er sich sofort. „Du hast mich erschreckt,“ sagte er mit einem schwachen Lächeln. „Kannst du nicht schlafen?“ Milena setzte sich zu ihm und erwiderte sein Lächeln müde. „Das war nicht meine Absicht. Ich hatte einen schlimmen Traum und konnte danach einfach nicht mehr einschlafen.“ Während sie sprach, fiel ihr auf, dass er sein Amulett nicht trug. Es war merkwürdig, wie sehr sie dieses Detail irritierte das es nicht da war.

"Ich bin übrigens Nero", sagte er mit einer tiefen Stimme, die in der Stille nachhallte. "Entschuldigt, dass ich mich erst jetzt vorstelle." Seine Augen fixierten Milena, die kurz zögerte, bevor sie sich knapp und zurückhaltend vorstellte. "Von Amanda habe ich gehört, dass eure Basis von Drachen überfallen wurde." Die Worte trafen Milena wie ein Schlag, und sie spürte, wie sich ein schwerer Kloß in ihrem Hals bildete. Sie kämpfte darum, die aufkommenden Emotionen im Zaum zu halten, doch es fiel ihr schwer. Nero bemerkte die Veränderung in ihrem Blick und legte sanft seine Hand auf ihre. Eine angenehme Wärme strömte von ihm aus und durchflutete ihre Hand, als würde er ihr einen Teil seiner eigenen Stärke schenken. "Es tut mir leid, was geschehen ist. Aber hier seid ihr sicher," sagte Nero mit einer beruhigenden Stimme, die Milena für einen Moment den Schmerz vergessen ließ. Die Berührung seiner Hand vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, als ob nichts sie jemals wieder verletzen könnte. "Danke", flüsterte Milena, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. "Aber es ist schwer, das alles zu verarbeiten... vielleicht kommen deswegen die Albträume." Ihre Stimme klang brüchig, als sie mit der anderen Hand eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr strich.

Nero ließ ihre Hand los, bevor er laut und tief einatmete. "Deiner Schwester geht es besser. Sie schläft." Seine Worte klangen wie ein flüchtiger Sonnenstrahl in einer ansonsten dunklen Nacht, und Milena spürte einen Moment der Erleichterung. Sobald der Morgen anbrach, würde sie zu Enja eilen, das hatte sie sich fest vorgenommen. Doch dann veränderte sich etwas. Die Wärme in Neros Stimme verschwand so abrupt, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Er stand auf, sein Gesicht plötzlich undurchdringlich, während er seine Kleidung ordnete. "Ich wünsche dir eine gute Nacht, Milena," sagte er, diesmal fast kühl, und ohne ein weiteres Wort verließ er den Speisesaal. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Milena saß allein in der nun bedrückenden Stille. Es dauerte einen Moment, bis sie die feuchte Spur auf ihrer Wange bemerkte. Eine einzelne Träne, die langsam den Weg hinabfand. Dann folgte eine weitere, und bald konnte Milena den Strom nicht mehr aufhalten. Die Wucht der Gefühle überrollte sie mit einer solchen Heftigkeit, dass sie keine Chance hatte, dagegen anzukämpfen. Tiefe Trauer um das, was sie verloren hatte, vermischt mit dem überwältigenden Glück, dass ihre Schwester noch lebte. Die Tränen waren ein stiller, verzweifelter Ausdruck eines Herzens, das in diesem Moment nicht wusste, wie es weitermachen sollte.

Schon in den frühen Morgenstunden stürmte Milena los, ihre Schritte hastig und ihre Gedanken wie ein aufgewühltes Meer. Sie schlängelte sich durch die belebten Gänge, achtete kaum auf die Menschen um sie herum und wäre beinahe mit ein paar von ihnen zusammengestoßen. Endlich erreichte sie schwer atmend die Krankenstation, das Herz hämmerte ihr in der Brust. Sie hoffte inständig, dass man ihr die schlaflose, von Tränen gezeichnete Nacht nicht allzu sehr ansah. Ihre Augen waren rot und geschwollen, der Schmerz der vergangenen Stunden noch immer tief in ihr. In einem kleinen Raum lagen mehrere Verletzte, unter ihnen ihre Schwester. Milena spürte, wie die Angst sie ergriff, als sie den Raum betrat. Nero war ebenfalls dort. Er wechselte ein paar flüchtige Worte mit ihr, doch seine Stimme klang fern. Als sich ihre Blicke kurz trafen, schien die Zeit stillzustehen, doch die Stille zwischen ihnen war ohrenbetäubend. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und wandte sich den anderen Verwundeten zu, während Milena verzweifelt versuchte, ihre aufsteigenden Gefühle zu kontrollieren.

Enja hatte endlich Milena entdeckt, die jüngere Schwester stürzte auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. "Ich bin so unendlich froh, dass du wach bist und lebst!" Milenas Stimme zitterte vor Erleichterung, während Freudentränen ihre Wangen hinunterliefen, anders als die bitteren Tränen der gestrigen Nacht. Enja lächelte schwach und drückte Milenas Hand fest. "Keine Sorge, du weißt doch, so leicht bringt mich nichts um." Ihre Worte klangen bestimmt, doch ein leiser Zweifel blieb in der Luft hängen—man sollte schließlich niemals nie sagen. "Was passiert jetzt mit dir?", fragte Milena, und Enja zuckte nur mit den Schultern. "Zuerst muss ich wieder zu Kräften kommen, und dann... dann müssen wir sehen, wie es mit uns weitergeht." Nachdenklich starrte sie an die Decke. "Amanda hat mir angeboten, hier zu bleiben, und auch die anderen scheinen sich hier wohlzufühlen." Obwohl Enja recht hatte, hörte Milena in ihren Worten etwas, das sie beunruhigte, als ob Enja vielleicht doch nicht hier bleiben wollte.

"Entschuldigt, wenn ich mich einmische," sagte Nero, der plötzlich neben ihnen stand. Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. "Ihr seid beide und auch die anderen, bei uns willkommen. Neue Leute können wir immer gebrauchen, und mit euch würde unsere Stärke wachsen." Ein breites Lächeln spielte auf seinen Lippen, doch Milena wurde aus ihm nicht wirklich schlau. Da war etwas in seinem Blick, das sie nicht einordnen konnte. "Danke, Nero, aber das werden wir noch besprechen," entgegnete sie vorsichtig. "Ich will schließlich nur das Beste für meine Schwester und natürlich für meine Leute." Nero nickte nur und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, doch Milenas Unbehagen blieb. Ein komischer Kerl, dachte sie bei sich. "Ich werde mich noch ein wenig hinlegen und ausruhen," sagte Enja mit müder Stimme. "Bitte sei so lieb und schau nach den anderen." Diese Bitte konnte Milena nicht ausschlagen, und außerdem wollte sie ohnehin nach den anderen sehen. Sie ließ ihre Schwester allein und machte sich auf den Weg. Es dauerte nicht lange, bis sie die anderen ausfindig machte. Alle schienen zufrieden, ja sogar glücklich zu sein. Einige hatten bereits Arbeit gefunden, und Milena war erleichtert, dass sie so herzlich aufgenommen worden waren. Doch ein Problem nagte an ihr, Rolf. Seit dem seltsamen Gespräch gestern hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Dabei war er sonst immer in ihrer Nähe, fast wie ein Schatten. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus, während sie durch die schmalen Gänge ging.

Wo steckte er nur?

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