Kapitel 4 ~ Was nun?

Die Gruppe war schon lange unterwegs, doch unter Rolfs Führung verlief die Reise erstaunlich ruhig. Enja jedoch wurde mit jedem Schritt schwächer, der starke Blutverlust zerrte an ihren Kräften. So schnell sie konnten, ließen sie die düsteren Stadtruinen hinter sich und kämpften sich durch die dichten Wälder. Auf ihrem Weg schlossen sich ihnen immer mehr Menschen an, die ebenfalls Schutz vor den Drachen suchten. Unter ihnen fanden sich bekannte Gesichter, alte Freunde und sogar einige leicht verletzte Jäger. Jede helfende Hand war willkommen, denn sie brauchten jede Unterstützung, die sie bekommen konnten.

Immer wieder mussten sie unterwegs Rast machen und sich verstecken, wenn ein Drache am Himmel auftauchte. Endlich, nach unzähligen Mühen und entbehrungsreichen Stunden, erreichten sie eine weitere Ruine. Dieses Gebäude musste einst eine prächtige Kirche gewesen sein. Sie traten durch das gewaltige Tor, hinter dem nur noch Bruchstücke der einstigen Pracht zu erkennen waren. Rolf führte die Gruppe vorsichtig an der bröckelnden Wand entlang und stoppte schließlich vor einer verwitterten Statue. Er gab einem anderen Jäger ein Zeichen, und gemeinsam schoben sie das schwere Monument zur Seite. Eine verborgene Treppe kam zum Vorschein, die tief in die Dunkelheit hinabführte.

Vor ihnen erschien bald ein mächtiges Tor, flankiert von schimmernden Kristallen, die ein sanftes Licht ausstrahlten. Doch ein Problem war offensichtlich: Das Tor ließ sich von außen nicht öffnen. Irritiert warf Milena ihrer Schwester einen fragenden Blick zu, doch deren Augen blieben schwach, aber entschlossen auf das Tor gerichtet. Rolf trat näher und klopfte dreimal gegen die massive Oberfläche. Zunächst geschah nichts. Er klopfte erneut, und nach einer angespannten Pause öffnete sich das Tor langsam. Dahinter erschien eine ältere Frau, die die Gruppe misstrauisch musterte. Als ihr Blick auf Enja fiel, winkte sie zwei Leute herbei, die Enja sofort mitnahmen. Milena wollte hinterher, doch Rolf hielt sie zurück. "Sie ist in guten Händen. Wir müssen uns jetzt um andere Dinge kümmern," sagte er ernst. Milena nickte widerstrebend und blieb bei der Gruppe. "Folgt mir," forderte die ältere Frau, "ihr hattet bestimmt eine beschwerliche Reise. Aber sag mir, mein Kind, was ist mit deinem Onkel?" Milena starrte sie sprachlos an. Inmitten des Tumults hatte sie ihren Onkel völlig vergessen. Eine Welle der Angst und Schuld durchfuhr sie, und eine einzelne Träne rollte über ihre Wange.

"Wir wurden von mehreren Drachen angegriffen. Dies sind die einzigen Überlebenden des schweren Angriffs heute. Die genaue Zahl der Opfer kennen wir leider nicht." Traurigkeit lag in ihren Augen, und sie ließ einen tiefen Seufzer hören. "Kommt, esst erst einmal etwas, danach könnt ihr mir alle Einzelheiten erzählen." Die Dame führte die Gruppe in einen großen Speisesaal. Dort bedienten sie sich großzügig und stillten ihren Hunger. Während des Essens berichtete Rolf in allen Einzelheiten von den schrecklichen Ereignissen. Nach den Erzählungen stellte sich die Frau als Amanda vor. Sie ist hier die Oberärztin und hat das Sagen, bis der Anführer zurückkehrt.

Während sich die beiden unterhielten, schaute sich Milena ein wenig um. Vielleicht findet sie ja auch so ihre Schwester wieder. Die Menschen beobachteten sie sehr skeptisch und verfolgten sie mit ihren Blicken. Milena fühlte sich mehr als unbehaglich und wollte einfach nur gerne unsichtbar sein. "Rote Haare, das kann nur Pech bedeuten." Hörte sie flüstern aber das wars sie schon gewohnt gewesen. Enja hatte Glück und bekam die natürliche Schönheit derer Mutter ab. Milena ist dagegen eine Mischung aus beiden Eltern. Gedankenverloren irrte Milena weiter durch die Gänge und stieß dann plötzlich gegen eine unbekannte Person. Sofort entschuldigte sie sich und ging schnell ihren Weg weiter.

Sie hatte kein großes Interesse daran, sich mit den Leuten hier anzufreunden. Doch der Gedanke, dass sie vielleicht länger bleiben müssten, ließ sie zögern. Es wäre klüger, Verbindungen zu knüpfen. Endlich erreichte sie die Krankenstation, doch weiter kam sie nicht. „Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht durchlassen," sagte eine Stimme vor ihr. Ein junger Mann versperrte ihr den Weg. Mit seinen blonden Haaren überragte er sie, doch Milena erkannte sofort, dass er kein Jäger war. „Ich möchte nur wissen, wie es meiner Schwester geht," sagte sie und versuchte, einen Blick an ihm vorbei in den Raum zu erhaschen. Ihre Stimme zitterte vor Sorge. „Sie wird gerade behandelt, aber das Schlimmste ist schon überstanden. Komm später wieder, dann kannst du zu ihr," antwortete er. Seine Worte klangen beruhigend, aber Milena konnte den Kloß in ihrem Hals nicht loswerden. Seufzend nickte sie und ließ ihren Blick kurz über ihn schweifen. Die blonden Haare schienen nur flüchtig gekämmt, sein Gesicht war von tiefen Sorgenfalten durchzogen und verriet, dass er wenig Schlaf bekam. Eines seiner Augen war milchig und leblos, er musste auf diesem Auge blind sein, ein Zustand, den sie schon einmal bei jemandem gesehen hatte. Er trug ein einfaches Shirt und eine lange braune Hose, seine Statur war unscheinbar, aber in seinem Auftreten lag eine gewisse Entschlossenheit, die sie nicht ignorieren konnte. Plötzlich fiel ihr Blick auf seine Kette. Ein Amulett hing um seinen Hals, in dessen Mitte ein kleiner Kristall blau schimmerte. Das Amulett war etwa so groß wie ihre Handfläche, und etwas daran zog sie magisch in seinen Bann. Sie konnte den Blick nicht abwenden, als ob der Kristall ein Geheimnis in sich trüge, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden. „Das ist ein Erbstück meiner Mutter," sagte er plötzlich, und seine Stimme durchbrach die Stille wie ein Donnerschlag. Er hatte ihr Staunen bemerkt. Milena blinzelte überrascht und nickte leicht, noch immer gefangen von dem Amulett. „Es ist wunderschön," murmelte sie schließlich, ihre Worte kaum lauter als ein Flüstern. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, warm und voller verborgener Bedeutung, als ob auch er wusste, dass dieses Amulett mehr war als nur ein Schmuckstück.

„Ich habe noch nie jemanden mit solch roten Haaren gesehen," murmelte er fasziniert und streckte die Hand aus, als wolle er eine Strähne berühren. Doch Milena wich instinktiv einen Schritt zurück. Die Erinnerung daran, wie man sie früher einfach angefasst hatte, ließ in ihr sofortige Abwehr aufsteigen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand ohne ihre Erlaubnis in ihren persönlichen Raum eindrang.

„Entschuldigung," sagte er sofort, als er ihre Reaktion bemerkte, und zog seine Hand zurück. Milena wollte ihm gerade sagen, dass alles in Ordnung sei, als Rolf plötzlich auftauchte und die Atmosphäre abrupt zerriss. Er konnte es offenbar nicht ertragen, Milena mit einem anderen Mann zu sehen, und trat dicht an ihre Seite, als ob er sie beschützen müsste. Seine Augen fixierten den blonden Fremden, und in seinem Blick lag eine stumme Drohung. Doch der junge Mann ließ sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil, er hielt dem stechenden Blick Rolfs stand, ohne eine Miene zu verziehen. „Sie hat sich nur nach ihrer Schwester erkundigt. Ich muss jetzt gehen," sagte er ruhig und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Milena seufzte frustriert. „Rolf, kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?" fragte sie genervt und setzte ihren Weg fort, doch er blieb an ihrer Seite, wie ein Schatten, der sie nicht loslassen wollte. „Ich habe hier ein schlechtes Gefühl, Milena. Irgendetwas stimmt hier nicht," sagte Rolf mit tiefer Sorge in der Stimme. Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Die Leute hier helfen uns. Sie kennen meinen Onkel. Wir haben so viele Familienmitglieder und Freunde verloren, Rolf. Vielleicht bildest du dir das nur ein," erwiderte sie, doch seine Worte nagten an ihrem Verstand, ließen eine leise, beunruhigende Ahnung in ihr aufkeimen.

„Pass bitte einfach auf dich auf, Milena. Ich kann es nicht ertragen, noch mehr Menschen zu verlieren," sagte Rolf mit einer Dringlichkeit in der Stimme, die Milena unruhig machte. Um ihn endlich zu beruhigen, versprach sie ihm vorsichtig zu sein, auch wenn sie innerlich daran zweifelte, dass es nötig war. Schließlich war er selbst derjenige gewesen, der versichert hatte, dass Enja in guten Händen war. In diesem Moment tauchte Amanda auf, um ihnen die Unterkünfte zu zeigen. Milena war dankbar für die Ablenkung. Endlich würde sie sich ausruhen und nach langer Zeit wieder auf etwas Weichem schlafen können. Doch selbst als sie schließlich in das Bett sank, ließen die Gedanken an ihren Onkel sie nicht los. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie, als sie daran dachte, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde. Der Gedanke lastete schwer auf ihrem Herzen, wie eine Last, die sie nicht abstreifen konnte, egal wie sehr sie es versuchte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top