Kapitel 2
"Seltsam. Ich höre die Kinder gar nicht. Bist du sicher, dass sie noch in den Katakomben sind?"
Nele lief voraus und musste manchmal seitlich laufen, um eine enge Passage zu durchqueren. Im ersten Moment war es ärgerlich, aber Anuwe hatte damit eigentlich einen guten Einfall. Wenn sogar Nele Schwierigkeiten hatte, würde ein starker Mann sie auch haben und die Kinder konnten entkommen.
Sie hatte Doro und Kala oft begleitet, wenn sie mit den Kindern die Flucht geübt hatten, doch eigentlich hörte man Gekicher und die Stimmen der Kinder. Doch nun war es ruhig. Gespenstisch ruhig. Nur Kanorans Geschimpfe und unterdrückte Flüche hallten von den Wänden, die man grob aus dem Fels gehauen hatte.
Sie drehte sich um und unterdrückte ein Kichern.
Ihr Drachenprinz schlängelte sich eher schlecht als recht durch eine der Engpässe.
"Ich hör dich kichern, Nele.", murmelte er leise und konnte sich endlich befreien. Allerdings blieb er mit dem Fuß an einem Spalt hängen und hatte Mühe sein Gleichgewicht zu halten.
Nele lachte nun schallend, was auch Kanoran ein Grinsen entlockte.
Sobald er sich befreit hatte, nahm er sie in seine Arme und küsste sie auf die Schläfen.
"Das wirst du mir büßen, Nele. Spätestens heute Nacht wirst du es mir büßen.", murmelte er.
Sie kicherte, schmiegte sich dann aber an seine Brust.
"Wenn ich denn zu dir komme."
Er hob ihr Kinn an.
"Ich habe dich so oft gebeten, dass du in meine Gemächer umziehst. Du bist meine Braut! Du hast das Recht dazu. Und wir würden uns öfters sehen."
Sie nickte.
"Das weiß ich doch, nur im Moment haben wir doch andere Sorgen. Aber ich komme heute Nacht zu dir und werde auch bleiben."
Er drückte sie noch einmal an sich.
"Versprich es.", forderte er.
Sie nickte.
"Ich verspreche es. Aber nun lass uns die Kinder holen."
Schweren Herzens ließ sie ihn los und ging tiefer in die Katakomben hinein. Noch immer hörte man keinen Mucks.
Auf einmal hörte sie einen lauten Knall und sie spürte, wie sich Kanoran hinter ihr in den Drachen verwandelte und ein Flügel von ihm sie nach vorne stieß.
Die Decken krachten über sie zusammen und Felsbrocken versperrten ihr den Rückweg.
"Kanoran!", schrie sie, doch er antwortete nicht.
"A Pyaar?"
Nele versuchte den Drachen zu rufen, doch selbst dieser hörte sie nicht. Verzweifelt versuchte sie die Felsbrocken zu bewegen, aber außer blutenden Finger brachte ihr das nichts ein.
"Kanoran. Antworte mir!", rief sie noch einmal.
Hör damit auf, Liebste. Mir geht es gut, aber die Wände sind nicht stabil genug. Ich habe Angst, dass die Decke über dir zusammen bricht.
Erleichtert seufzte sie, als sie seine Stimme in ihrem Kopf hörte.
"Wo bist du? Bist du verletzt?"
Mach dir keine Gedanken, Liebste. Ich werde dich heraus holen. Hab nur Geduld.
Ihr fiel auf, dass er ihr keine befriedigende Antwort gegeben hatte. Sie starrte auf die Fackel, die auf dem Boden in einer Pfütze lag und nur noch schwach flackerte.
Schnell hob sie sie auf und versuchte die Flamme wieder mehr zu beleben, doch nach einer Weile erlosch sie und Nele lag im Dunkeln.
"Kanoran?", wisperte sie ängstlich.
Niemand wusste, wie sehr Nele im Dunkeln Angst hatte. Und die Stille machte sie beinahe wahnsinnig.
Angst schnürte ihr die Brust ein und ihr Atem ging heftiger. Erinnerungen, die sie gerne verdrängt hätte, kamen mit aller Gewalt an die Oberfläche und machten sie wieder zu einem Mädchen, dass ängstlich in der Dunkelheit nach ihren Vater rief.
Der Schmerz, der von der Angst her rührte, wurde immer schlimmer und nach einer Weile schrie sie tatsächlich auf. Sie konnte nicht mehr aufhören und niemand war in ihrer Nähe, um ihre Panik zu stoppen, indem derjenige sie in die Arme nahm.
Nele? Was hast du?
Sie hörte die Sorge in A Pyaars Stimme, aber sie konnte ihn nicht antworten. Wenn sie noch einmal den Mund öffnete, würde sie wieder schreien.
Ich liebe dich! Wir lieben dich! Vergiss das nie. Hast du mich verstanden?
Ihr Körper zitterte, doch sie wiederholte im Kopf den Satz immer wieder.
"Er liebt mich. Sie lieben mich. Ich darf das nie vergessen!"
Calarion zuckte zusammen, als er die Explosion hörte, die ganz in der Nähe des Schlosses gewesen war.
Hektisch ließ er seinen inneren Blick über die Stadt schweifen.
Lana legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn zu beruhigen, aber das wollte er dieses Mal nicht. Sanft nahm er ihre Hand weg und suchte weiter, woher die Explosion kam.
Dann fluchte er leise und starrte zu Lana.
"Das Waisenhaus."
Lana riss die Augen auf, doch dann strich sie ihm über die Wange.
"Keine Sorge, mein Lieber. Die Kinder sind alle im Schloss."
Er richtete sich gerade auf.
"Haben Kanoran und Nele sie gebracht? Hast du die beiden bei den Kindern gesehen?"
Fragend zog sie die Augenbrauen zusammen.
"Nein. Die Frauen brachten sie hierher. Maloria und Thekla hatten ein ungutes Gefühl und sie holten die Kinder aus den Katakomben. Warum fragst du nach Kanoran und Nele?"
Er keuchte auf.
"Warum wusste ich das nicht?"
Lana legte beide Hände um seinen Kopf.
"Was ist denn los, Calarion? Du bist ganz blass."
Er schloss einen Moment die Augen.
"Ich habe Kanoran ins Waisenhaus geschickt, damit er die Kinder holt. Er meinte, er würde Nele mit sich nehmen."
Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und stützte seine Hände auf den Knien ab.
"Ich habe meinen Bruder in den Tod geschickt."
Langsam sank er auf die Knie.
Lana blieb stehen und schlug sich die Hände vor den Mund.
"Nein. Das kann nicht sein."
Calarion versuchte Kontakt zu Kanoran aufzunehmen, aber er antwortete ihm nicht.
"Ich kann ihn nicht erreichen.", flüsterte Calarion verzweifelt.
In dem Moment krachte die Tür auf und Velion kam mit Faköle in das Gemach hinein gerannt.
"Kanoran!", brüllte Faköle, doch als er seinen Bruder und König auf dem Boden knien sah, blieb er abrupt stehen.
"Nein!" Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
Calarion schluckte hart.
"Ich habe ihn gerufen. Er antwortet nicht. Ich bin schuld! Ich schickte ihn."
Velion schnaubte.
"Hör auf damit. Er ist nicht tot. Das würden wir spüren."
Faköle warf ihm einen bösen Blick zu.
"Er antwortet aber nicht."
Velion nickte.
"Versuchen wir es noch einmal. Alle zusammen. Und vor allem sollten wir nicht hier bleiben, sondern zu dem Waisenhaus gehen. Sagt Nielema Bescheid. Er soll Jefrandt und Anuwe mitnehmen. Und nun kommt."
Calarion stand umständlich auf.
"Auch wenn ich es hasse, wenn du mir immer widersprechen musst, so begrüße ich es im Moment. Du hast Recht."
Velion hob verblüfft eine Augenbraue.
"Ich habe Recht? Und das aus deinem Mund..."
Calarion schnaubte.
"Das wirst auch nie wieder hören, wenn du jedes Mal so ein Theater darum machst."
Er küsste Lana auf den Mund und drückte sie an sich.
"Wir müssen ins Waisenhaus und Kanoran finden."
Sie nickte.
"Beeilt euch!"
Meriwan schluchzte, während Racola sie hinter sich her zog.
Racola schnaubte unwirsch.
"Warum weinst du? Wegen diesen Kindern? Es waren nicht einmal deine Kinder."
Sie warf ihm einen bösen Blick zu.
"Nein, aber ich kannte sie. Sie hatten das Leben noch vor sich. Und die Frauen. Es waren Huren, die sich die Freiheit erkauft haben und sich ein besseres Leben erhofften. Ihr habt das alles in einem Moment zerstört und brüstet euch wahrscheinlich noch mit der Ruhmestat."
Er senkte den Blick und schämte sich. Einen Moment hatte er wirklich nichts gegen diese Sprengsätze gehabt, die man überall in der Stadt verteilt hatte, aber das durfte er nicht sagen. In diesem kurzen Moment hatte er sich ausgerechnet, wie sehr er den Drachen mit der Zerstörung der Stadt schaden konnte und er hatte gelacht.
Doch die Wirklichkeit sah anders aus und er erkannte es, als es zu spät war.
Meriwan zeigte ihm gerade, was sie wirklich erreicht hatten.
Tod und Zerstörung.
Zwar nahm er das in Kauf, wenn er eine Schlacht anzettelte, aber ihm war nie bewusst gewesen, was er tötete und zerstörte.
Himmel, es waren Kinder gewesen. Und Frauen, die auf eine neue Chance hofften.
Das war nie seine Absicht gewesen.
"Es tut mir leid, Meriwan.", murmelt er. "Ich werde dafür büßen müssen."
Sie starrte ihn an.
"Denkst du immer noch an eine große Schlacht, in der du Calarion gegenüber trittst? Soll ich dir was sagen? Du hast es nicht verdient. Du verdienst es nicht gegen den Drachenkönig zu kämpfen. Im Gegensatz zu ihm bist du eine Maus. Ach was, ein Wurm. Dir gebührt die Ehre nicht, gegen einen so großen Mann wie Calarion zu kämpfen, der nie Kinder deines Volkes töten würde, nur um dir zu schaden."
Racola blieb stehen und hob wütend seinen Kopf gerade.
"Du hast keine Ahnung, was du da redest. Du kennst mich nicht einmal. Ich habe die Stämme der Drachenjäger geeint und bin so etwas wie ihr König. Und doch begehe ich im Moment gerade Verrat an meinem Volk, in dem ich hier bei dir bin und Menschen, die den Drachen loyal gegenüberstehen, retten will. Ich sollte bei meinem Volk sein und mit ihnen das weitere Vorgehen besprechen, doch ich bin hier, oder etwa nicht?"
Sie schnaubte.
"Du hast mir gegenüber Schuldgefühle, weil du mich entführt hast, statt deiner geliebten Lili. Oder hoffst du, dass du sie hier triffst? Du magst mich nicht einmal."
Er schnaubte.
"Ich habe dich geküsst. Glaubst du wirklich, ich würde das tun, wenn ich dich nicht mögen würde? Und im Moment..."
Er stoppte in seiner Rede.
Nein, lieber sollte er nun den Mund halten und ihr nicht erklären, dass er sie um Längen interessanter fand als Lili. Und er sollte ihr auch nicht sagen, dass er sie wieder küssen wollte.
Noch vor nicht so langer Zeit hatte sie ihm entgegen geschleudert, dass sie ihn hassen würde. Er konnte es ihr nicht verdenken. Er war wohl nicht liebenswert.
Einen Moment stellte er sich vor sie und erlaubte sich, ihren Duft in seine Lunge einzusaugen. Dann nahm er vorsichtig ihre Hand.
"Ich will dir wirklich helfen, auch wenn ich vor meinen eigenen Leuten dadurch zum Verräter werde. Ich werde dir helfen, deine Familie zu retten und dann aus deinem Leben verschwinden. Du wirst mich nicht mehr lange ertragen müssen."
Noch einmal schloss er die Augen und senkte seinen Kopf, so dass seine Wangen ihre Haar berührte.
Diese zärtlichen Gefühlen musste er ausschalten. Sie lenkten ihn nur ab und das war schlecht.
"Du musst mich nie wieder ertragen, wenn du das nicht willst."
Er hoffte, sie würde etwas anderes sagen, doch Meriwan erwiderte nichts und er konnte sie verstehen.
Abrupt ließ er ihre Hand los und ging nach vorne.
"Gehen wir. Ich will dir meine Gegenwart nicht länger als nötig zumuten."
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