Kapitel 1

Nele sah, wie Kanoran sich ihr näherte und wie immer schlug ihr Herz einen Takt schneller, wenn er in ihrer Nähe war.

Auch sein mürrisches Gesicht erhellte sich sofort, als er sie sah und er lächelte, was er sonst nur äußerst selten tat.

Er blieb vor ihr stehen, legte seine Hand auf seine Brust und neigte den Kopf. Eine Geste, mit der sie eigentlich vor ihm Respekt erweisen müsste, denn immerhin war er von Adel, während Nele nur die Tochter eines kleinen Dorflehrers war und sich die Sitten und Gebräuche erst hier beigebracht hatte. Doch Kanoran zeigte ihr so seine innige Zuneigung, da er nicht viel von Zuschaustellung seiner Liebe in aller Öffentlichkeit hielt.

"Guten Tag, Nele."

Seine tiefe Stimme bescherte ihr immer noch Schmetterlinge im Bauch, als ob sie sich gerade erst kennen gelernt hätten

Sie knickste vor ihm und schaute sich dann um, ob jemand in ihrer Nähe war. Das Glück war ihnen hold. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf den Mund.

"Ich habe dich vermisst, mein Liebster."

Er lächelte erneut und nahm sie in seine Arme.

"Es tut mir leid, dass ich in der letzten Zeit kaum bei dir war. Aber..."

Lächelnd legte sie ihm einen Finger auf die Lippen.

"Ich mache dir keine Vorwürfe, Kanoran. Es wird auch wieder die Zeit kommen, in der wir beide zusammen sein können, ohne dass eine Schlacht tobt."

Er nickte und zog sie noch einmal an sich. Nele schloss die Augen und genoss diesen seltenen Augenblick der Zweisamkeit.

Es war ihr ziemlich schnell klar gewesen, dass Kanoran ihr Drache war. Immerhin war er klüger als ihr Vater, hatte aber dessen ruhiges Wesen, was sie sehr schätzte. 

Sie musste zugeben, dass sie sich die ersten Wochen unmöglich verhalten hatte. Zuerst war es ihr nicht bewusst, wie albern sie gewesen war. Vor allem, weil sie ihre Wissbegierde verleugnet hatte. Ihr war es zuerst peinlich gewesen, weil sie Zuhause immer von den anderen Kindern gehänselt wurde und es so aussah, als ob man eine kluge Frau im Schloss nicht akzeptieren würde. Zumindest hatte ihr das die falsche Lili erklärt. Als Velion die richtige Lili nach Hause gebracht hatte, war Nele froh gewesen, denn sie hatte von der riesigen Bibliothek gehört und wollte sie unbedingt aufsuchen. Das hatte sie auch als erstes getan.

"Was willst du hier?"

Nele zuckte zusammen, als sie die strenge Stimme von Kanoran vernahm. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch hier war, denn es war schon mitten in der Nacht. Sie schlich sich aus den Gemächern der Drachenbräute, damit niemand mitbekam, dass sie Sehnsucht nach nie endenden Wissen hatte und dessen Befriedigung sie in der umfangreiche Bibliothek finden würde.

Kanoran sah nicht einmal auf, sondern hielt seinen Blick stur auf die Seiten eines alten Buches. Um ihn herum waren Kerzen aufgereiht, die sowohl Licht als auch Wärme spendeten.

"Ich...ich..."

Er hob den Blick und seine Augen musterten abschätzig.

"Ich bitte dich zu gehen, sofern du mein Streben nach Wissen erneut als Humbug abtun willst."

Sie schluckte hart, als ihr nun bewusst wurde, dass er ihren Reden gelauscht hatte.

"Ich..."

Was sollte sie sagen? Das sie dumm gewesen war? Das sie es nur gesagt hatte, um nicht ausgelacht zu werden? Das würde er ihr nicht glauben.

Kanoran lachte nach einer Weile spöttisch.

"Ah, ich sehe schon. Dir hat es die Sprache verschlagen." Er holte tief Luft. "Geh. Ich bin mir sicher, dass du nicht einmal lesen kannst."

Sie schnaubte und nahm sich das erste Buch, das neben ihr lag.

"Der erste goldene Drache war Vahelio, der mit seinen Brüdern Sisgard, Volo, Hätron, Leodin, Bliset und Tesnot auf die Erde kam, um die Stämme von Wikuna zu einen. Ihm folgte der zweite Goldene Drache, den man Tohar nannte und der von Sisgard abstammte. Seine Brüder nannte man Jifre, Kalu, Sönga, Rätul, Faran und Sotur. Der folgende goldene Drache war Helver, Sohn des Sönga, dessen Brüder..."

Kanoran hob die Hand und sie schwieg. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, obwohl sie nicht lange gelesen hatte, doch die Aufregung nahm ihr den gesamten Speichel, den sie im Mund hatte.

Sie hielt immer noch das Buch aufgeschlagen in ihren Händen, als er aufstand und auf sie zukam.

"Du liest sicher und sprichst die Namen meiner Vorfahren sehr gut aus. Die Menschen haben eigentlich damit Schwierigkeiten, aber du liest sie ohne Zögern."

Sie nickte.

"Mein Vater lehrte mich die Namen der ersten Könige, als ich gerade zu sprechen angefangen hatte. Ich musste sie auswendig lernen, ohne einen Bezug zu ihnen zu haben."

Er nickte leicht.

"Auch mir wurde es so beigebracht. Dein Vater ist ein Gelehrter?"

Nun war sie es, die schnaubte.

"Er ist ein Lehrer. Der Einzige, der bereit war, die Kinder in den Bergen zu unterrichten. Ich sollte seine Nachfolge antreten, aber ich wurde hierher gerufen."

Das stimmte nicht ganz, aber sie wollte ihm die gesamte Wahrheit erzählen. Sie schämte sich dafür. Irgendwann vielleicht.

Kanoran nickte erneut.

"Ein Verlust für das Bergvolk, aber ich werde dafür sorgen, dass du gut ersetzt wirst, Mädchen."

Eine Weile sah er ihr in die Augen.

"Was willst du wirklich hier?"

Dieses mal klang die Frage nicht schroff.

Sie schluckte erneut.

"Ich wollte die Bibliothek sehen und lesen."

Er hob fragend eine Augenbraue.

"Mitten in der Nacht?"

"Ihr seid doch auch hier.", konterte sie.

Er lächelte leicht.

"Ja, weil mich um diese Zeit niemand bei meinen Studien stört."

Ihre Schultern sackten herunter.

"Das tut mir leid. Ich wollte Euch nicht stören."

Sie drehte sich herum und wollte die Bibliothek wieder verlassen.

"Du kannst bleiben, Nele. Aber nur, wenn du dich nie wieder darüber lustig machst, dass jemand klug ist. Auch nicht, um dich zu schützen. Sei stolz auf das Erbe deines Vaters und trete es nicht in den Dreck."





So war es gekommen, dass sie sich beinahe jede Nacht in die Bibliothek geschlichen hatte. Und immer traf sie auf Kanoran.

Zuerst las jeder für sich, doch irgendwann begannen sie über Texte zu diskutieren. Dann kam sie auch am Tag in die Bibliothek und freute sich jedes Mal, wenn sie Kanoran vorfand. Sie erzählte ihm auch, dass die anderen Bräute lesen lernen wollten, also kam er zu ihnen in die Gemächer und brachte ihnen Lesen und Schreiben bei. Dabei bewies er mehr Geduld, als es ihr Vater je getan hatte.

Es war herrlich, wie Nele lernen konnte, ohne dass man sie verspottete und die Gespräche mit Kanoran, der sie als gleichgestellt sah, wollte sie nicht mehr missen.

Keinen wunderte es, als die beiden sich ineinander verliebten, obwohl Kanoran ihr erklärte, dass er von Anfang an wusste, dass sie die Seine war. Er hatte nur auf die Nele gewartet, die sie nun war.

Er strich ihr sanft über die Wange.

"Ich habe dich gesucht, Mädchen."

Nele begann zu kichern.

"Mitten am Tag?"

Wenn er sie suchte, dann war das eigentlich ein Zeichen dafür, dass er allein mit ihr sein wollte. Sie hatte schon festgestellt, dass er ein fantastischer Liebhaber war, auch wenn sie keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Doch sie war sich sicher, dass niemand an ihren Mann herankam.

Er grinste sie an, was ziemlich untypisch war.

"Glaube mir, ich würde das nun sehr viel lieber machen, aber ich habe einen Auftrag und wollte dich bitten, dass du mich begleitest."

Sie nickte und wurde auf einmal ernst.

"Natürlich, Kanoran. Was verlangt der König von uns?"

Er reichte ihr einen Umhang, den er unter seinen versteckt hatte.

"Wir müssen ins Waisenhaus und die Frauen und Kinder hierher bringen. Sie sind in den Katakomben, die Anuwe angelegt hat, nicht mehr sicher." Er räusperte sich. "Anuwe ist...verhindert. Jefrandt und er befragen diesen..."

Sie hob die Hand, um ihn zu stoppen. Nele wusste, dass Kanoran nicht gerne Schimpfworte in den Mund nahm. Er fand dies als primitiv, was sie verstehen konnte.

"Ich weiß, mein Liebster. Und ich verstehe Anuwe. Ich begleite dich gerne."

Er nahm ihre Hand und strich ihr über den Handrücken.

"Ich liebe dich, Nele. Das darfst du nie vergessen."

So seltsam sie diesen Satz auch zu dem Zeitpunkt fand, wurde ihr später klar, dass sie ihn im Geiste immer und immer aufsagen musste, um nicht zu verzweifeln.







"Beeile dich, Racola. Wir müssen sie retten."

Meriwan blieb stehen als sie die erste Explosion in der Drachenstadt hörte und dann das Feuer sah, dass in den Himmel schoss.

Sie schlug eine Hand vor den Mund.

"Wir kommen zu spät.", flüsterte sie, aber Racola nahm ihre Hand und zerrte sie mit sich.

"Nichts ist zu spät. Das war nur das erste Kornlager. Dort sind keine Menschen. Wir können noch viele retten."

Erleichtert schloss sie einen Moment die Augen und stolperte natürlich dadurch.

Racola schnaubte und warf sie sich über die Schulter.

"Was tust du da?"

"Du bist müde. Deswegen trage ich dich."

Sie hörte an seinem Atem, dass auch er erschöpft war. Das kleine Haus, in dem er sie gefangen gehalten hatte, war zwei Stunden von der Drachenstadt entfernt. Sie hatten Pferde genommen, um noch rechtzeitig zur Drachenstadt zu kommen, doch diese hatten sie vor den Stadtmauern zurücklassen müssen. Menschen flohen aus der Stadt und sie hatten Mühe, sich durch die Menge durch zu drängen. Meriwan hatte noch nie so viele Verletzte gesehen und die Panik in ihren Augen, war beängstigend. Aber nur so kamen sie unerkannt in die Stadt.

"Wo lebt deine Familie?", keuchte Racola.

Sie streckte ihren Fuß aus.

"Hafenviertel. In den Armenhütten."

Er nickte und rannte weiter.

Erneut hörten sie eine Explosion und Racola blieb stehen. 

"Verflucht."

Er ließ sie hinunter und Meriwan starrte auf die Feuersäule, die ganz in der Nähe des Schlosses nach oben schoss.

"Das Waisenhaus..."

Er nickte, ohne sie anzuschauen.

Meriwan schlug ihm auf den Arm, was ihr mehr Schmerzen bereitete, als ihm.

"Und du bezeichnest die Drachen als Monster? Ihr seid die Monster! Was haben euch die Kinder und die Frauen getan?"

Er schluckte hart.

"Das habe ich nicht angeordnet."

Sie lachte böse und schlug ihm nun auf die Brust.

"Nein? Erzähl mir doch nichts." Ihre Stimme überschlug sich und sie spürte die Tränen, die ihr über die Wange liefen. "Du bist der Anführer. Wenn sie von dir nicht diesen Befehl bekommen haben, von wem dann?"

Racola schüttelte ungläubig den Kopf, doch als sie ihn erneut schlagen wollte, hielt er ihre Hände fest.

"Ich habe es dir gesagt. Ich habe keine Kontrolle mehr. Diese Stämme, die das hier veranstalteten, sind wahrscheinlich Abtrünnige. Denkst du, ich befehle den Tod unschuldiger Kinder? Dann wäre ich wahrlich das Monster und nicht Calarion. Aber ich habe es nicht getan. Ich wusste nichts davon."

Er hielt sie fest, als sie verzweifelt versuchte, sich von ihm zu lösen.

"Ich muss dahin. Ich muss die Kinder..."

Er schüttelte den Kopf.

"Du kannst nichts tun."

Wieder wehrte sie sich, doch er hielt sie unbarmherzig fest.

"Du kannst nichts mehr tun, Meriwan. Sie sind tot.", brüllte er und Meriwan erstarrte.

Racola hatte Recht.

Diese Explosion konnte niemand überleben.

"Ich hasse dich.", flüsterte sie.

Er nickte.

"Ich weiß. Dennoch gehen wir jetzt ins Hafenviertel und retten deine Familie. Danach kannst du mich beschimpfen und schlagen, so lange du willst. Ich weiß selbst, dass ich es verdient habe."

Er drehte sich um und zog sie mit sich.

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