Kapitel 9

Meriwan lief mit Lili durch die Gassen der Drachenstadt, um den Drachenjägern aus dem Weg zu gehen, die jeden anhielten und zusammen schlugen, der ihnen in die Quere kam.

Kaum hatte Jefrandt darüber berichtet, dass die Drachenjäger in die Drachenstadt unbemerkt eingedrungen waren, begannen schon die ersten Angriffe. Zuerst waren es kleine Angriffe gewesen, die wohl ablenken sollten. Das Dumme daran war, dass sie meist in den dicht bewohnten Viertel angriffen, in denen man sich leicht in den engen Gassen und Häusern verstecken konnte. Zudem konnten Calarion und seine Brüder nicht in der Gestalt der Drachen angreifen, ohne dass auch Zivilisten getötet werden würden.

Viele der Bewohner flohen schon aus der Stadt und Meriwan konnte es ihnen nicht verdenken. Sie selbst hatte ihre Brüder angefleht, aus dem Schloss zu fliehen, doch keiner von beiden wollte davon etwas wissen. Sie kämpften loyal an Nielemas Seite, obwohl sie noch so jung waren. Meriwan war nur froh, dass die anderen Krieger und selbst Nielema sie von der größten Gefahr fern hielten, um sie so zu schützen. Im Moment waren sie als Wache im Schloss eingeteilt, was ihnen nicht ganz so passte. Immerhin waren sie aber so aufgeregt, dass sie nichts bemerkten, wie ihre Schwester mit einer Drachenbraut durch einen Nebeneingang schlüpften, um in die Drachenstadt zu gelangen.

"Wir müssen uns beeilen, Meriwan."

Lili zog die Kapuze tiefer in ihr Gesicht und Meriwan musste sich anstrengen, dass sie der Braut des silbernen Drachen hinterher kam.

Vor einer Stunde war Lili zu ihr gekommen und erklärte, dass man wohl das Waisenhaus angreifen würde, weil sich dort oft die Drachen aufhielten und die Drachenjäger jede Gelegenheit nutzen wollten, einen Drachen zu verletzten oder gar zu töten. 

Dummerweise war Anuwe, der eigentlich für das Haus verantwortlich war, nicht zu finden. Meriwan hörte von Gerüchten, dass man Doro entführt hatte und Anuwe sie suchte. Auch die anderen Drachen wollten sie nicht behelligen, also beschlossen die beiden, die Kinder und Frauen zu sich ins Schloss zu holen, wo es wesentlich sicherer war.

Immer wieder hörten sie Schreie und Kampfgeräusche.

Meriwan zog ebenfalls die Kapuze tiefer. Sie hatten sich einfach jede einen Umhang geschnappt, den sie gerade habhaft haben konnten. Es war schon seltsam, dass Meriwan ausgerechnet den Umhang von Lili an hatte, der mit silbernen Fäden durchwirkt war und den sie nur zu offiziellen Anlässen trug. Aber er hielt erst einmal warm und Lili schien nichts dagegen zu haben.

Beide hielten an und drängten sich dicht an die Mauer, als eine Gruppe bewaffneter Männer auf der Straße entdeckten, die herumliefen und jede Tür mit den Füßen eintraten.

"Sie sind noch nicht in der Nähe des Waisenhauses. Wenn wir Glück haben, werden sie erst die Villen ausrauben.", meinte Meriwan leise.

Lili nickte, ohne die Männer aus den Augen zu lassen.

"Gehen wir einen anderen Weg und holen endlich die Kinder. Sie werden Angst haben und weinen. Dann wird es schwieriger, sie unbemerkt ins Schloss zu bringen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen."

Schnell entfernten sie sich von den Drachenjägern und rannten zur Villa. Hastig schlüpften sie durch die Tür und verriegelten sie. Einen Moment lehnten sich beide gegen die schwere Tür und atmeten tief durch.

"Lili? Bist du wahnsinnig? Was suchst du hier?"

Thekla war mit einer Laterne gekommen. Ihr Gesicht war kreidebleich und man sah ihr die Angst an, die sie im Moment ausstand.

"Wir wollen die Kinder zum Schloss holen. Hier sind sie nicht sicher."

Thekla schnaubte.

"Ihr seid beide wahnsinnig. Anuwe hat schon Vorkehrungen getroffen. Wir sind sicher untergebracht. Ich bin nur noch mal hierher gekommen, um die Ziegen zu holen, bevor diese Männer hier eindringen und sie uns wegnehmen."

Lili umarmte die alte Frau, die selbst mal eine Drachenjägerin gewesen war, nun aber nicht mit der Art ihres Handels einverstanden war.

"Sei mir nicht böse, Thekla. Ich wusste es nicht und machte mir Sorgen."

Die Alte schnalzte mit der Zunge.

"Gerade du solltest im Schloss bleiben. Velion wird dich hier nicht schützen können und Racola ist hinter dir her. Denkst du, er hat dich aufgegeben, nur weil du Velion gewählt hast? Nein! Er will dich immer noch!"

Meriwan keuchte leise.

"Der Anführer der Drachenjäger will Lili haben?"

Lili sah sie mit einem traurigen Lächeln an.

"Das zu erklären würde nun wirklich sehr lange dauern. Ich sage nur soviel, dass ich mich für Velion entschieden habe und Racola das nicht akzeptieren will."

Sie sah zu Thekla.

"Können wir dir helfen?"

Thekla schnaubte.

"Ihr werdet sogar mehr tun. Ihr begleitet mich und bleibt bei uns in Sicherheit. Du kannst Velion ja durch deine Verbindung sagen, wo du bist."

Lili verzog das Gesicht.

"Er wird schimpfen."

Meriwan lachte leise.

"Davon kannst du ausgehen. Und mich wird er auch ausschimpfen, weil ich dich noch begleitet habe. Wir sollten uns beeilen, die Ziegen holen und dann in dieses Versteck gehen, dass Anuwe gebaut hat."

Thekla erklärte ihnen, dass Anuwe die Katakomben im Untergrund hatte renovieren lassen und wie man den Weg fand. Meriwan fand das schon erstaunlich, was Anuwe für die Kinder alles getan hatte, obwohl er erst seit kurzer Zeit für sie zuständig war. Nie hätte sie dem weißen Drachen so viel Weitsicht zugetraut.

Sie liefen dann in den Garten und holten die Ziegen. Jede Frau trieb eine Ziege vor sich her. Jetzt fing es auch noch an zu regnen und gerade Meriwans Ziege schien nicht gewillt zu sein, ihren trockenen Stall zu verlassen. Stattdessen zog sie Meriwan so heftig zur anderen Seite des Gartens, so dass sie mit dem Gesicht in den Dreck fiel.

Meriwan scheuchte die anderen weg mit einer Handbewegung weg.

"Geht! Ich werde euch finden."

Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und rannte dieser Ziege hinterher, die es wohl sehr spaßig fand vor Meriwan zu fliehen.

"Du blödes Vieh. Ich will dich retten!", zischte Meriwan und lief langsam auf das Tier zu, dass sie interessiert beobachtete.

Nur noch einen Schritt, dann...

Ein Sack wurde über sie geworfen und man hob sie in die Höhe.

"Was?", rief sie erschrocken.

"Ruhig, Lili. Kein Ton, oder die Kinder werden sterben."

Diese dunkle Stimme klang ruhig, aber entschlossen.

Meriwan war sofort ruhig, obwohl man sie ganz offensichtlich verwechselte. Doch die Drohung gegen die Kinder, die wirklich an allem unschuldig waren, ließ sie sofort in eine Art Starre fallen.

"Ich bring dich nun hier weg. Wir werden uns unterhalten."







Anuwes Drache drehte eine weitere Schleife, aber es fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Beide, der Drache und Anuwe, wurden so langsam wütend, weil sie immer noch keine Spur von Doro hatten.

Die Zeit wurde so langsam knapp, denn seine Brüder hatten ihn schon über Angriffe in der Drachenstadt informiert. Wenn er Doro nicht innerhalb von drei Tagen fand, musste er die Suche aufgeben und ohne seine Braut in die Drachenstadt zurückkehren.

Das wäre mehr als schlecht, denn er war der einzige Drache, der noch keine Verbindung zu seiner Braut aufbaute. Selbst Kanoran verkündete schon seine Verbindung mit Nele, nur er hinkte hinterher.

Wie immer!

Nur mit dem Unterschied, dass er es sich dieses Mal keine Verzögerung leisten durfte. Es war wichtig, dass er Doro fand und sie endlich davon überzeugte, dass er sie liebte und zu seiner Frau machen wollte. Er musste ihr versichern, dass er auf ihre Vergangenheit pfiff und auch seine Brüder nichts gegen sie sagen würden. Mehr noch musste er ihr erklären, dass Calarion es von Anfang an gewusst hatte und dies ihr doch zeigen musste, dass sich niemand für sie schämte.

Er spürte, dass sein Körper sich veränderte. Der Drachenkörper, genauso wie der menschliche.

Anuwe hatte noch nie das Bedürfnis nach einer Frau verspürt. Das war wohl auch so eine Art des weißen Drachen, doch bei Doro lag es anders. Seit es ihm bewusst wurde, dass sie seine Braut war, regte sich in ihm Verlangen und das brachte mit sich, dass er zum Mann wurde und der Drache sich seiner Brunft näherte. Wenn er diese erreichte und Doro bis dahin noch verschwunden war, passierte das Schlimmste mit ihm, was man sich vorstellen konnte. Er würde ein Drache bleiben, aber nicht in seiner ursprünglichen netten Form. Kanoran wurde ganz konkret, was das anging, denn die alten Drachen hatten eindringlich davor gewarnt, es soweit kommen zu lassen. Die Verbindung war schon sehr wichtig, aber die Gefahr war erst gebannt, wenn er mit Doro schlief. Das Wesen, in das er sich nach dem erfolglosen Verstreichen der Brunft verändern würde, würde bösartig werden. Er würde seine Brüder nicht mehr von den Menschen unterscheiden können und jeden vernichten wollen, der in dieser Welt lebte.

Anuwe wollte sich nicht ausmalen, wie er seine Brüder, seine Freunde oder sogar Kinder umbrachte, einfach nur, weil sie atmeten. Seine Brüder würden keine andere Wahl bleiben, als ihn zu töten.

Wieder fluchte er leise.

Die Drachenjäger hatten sich wirklich den ungünstigsten Zeitpunkt ihres Angriffs gewählt. Also für ihn zumindest. Ihm blieb keine Zeit mehr.

Männer! Zwei!

Sein Drache gewährte ihm einen Blick nach unten.

Mitten in der Einöde irrten zwei Männer umher. Nach einem genauen Blick erkannte Anuwe, dass es sich um Krieger handelte. Sie schienen verletzt zu sein, denn sie hielten sich gegenseitig aufrecht.

Der Drachen landete in der Nähe der Männer, die erschrocken auseinander fuhren und sich erst beruhigen konnten, als sich Anuwe verwandelte. Ein nackter Mann schien ihr Vertrauen nicht so zu erschüttern, wie ein Drache.

"Ich grüße Euch. Was ist passiert? Ihr scheint verletzt zu sein?"

Einer der Männer nickte.

"Wir sind Krieger der Drachenstadt und waren zur Kontrolle eingeteilt worden."

Anuwe nickte und nahm eine Decke entgegen, um sich wenigstens etwas bedecken zu können.

"Ihr seid weit weg von der Drachenstadt.", bemerkte er.

Der Ältere nickte.

"Das haben wir befürchtet. Wir kontrollierten einen Wagen, dessen Fahrer uns seltsam vorkam. Er behauptete, er sei ein Bauer, der Ware in der Stadt verkauft hätte und nun auf dem Heimweg wäre. Seine Kleidung war aber viel zu edel, um einen Bauer zu gehören. Außerdem trug er mehrere Ringe an den Fingern. Ich stamme selbst von einer Bauernfamilie ab und ich weiß, dass mein Vater nie Schmuck getragen hätte, weil es einfach zu unpraktisch ist."

Anuwe nickte. Bisher konnte er alles nachvollziehen.

Nun meldete sich der Jüngere zu Wort.

"Ich fand neben Fässern und kleinen Kisten, eine große Kiste, die mit einem Schloss gesichert war. Als ich nahe bei dieser Kiste war, dachte ich, ich würde jemanden atmen hören, also wollte ich die Kiste kontrollieren. Sie war groß genug, um einen Menschen darin zu verstecken."

Der Ältere fluchte.

"Der Kerl hat uns niedergeschlagen. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, packte er uns wohl auf seinen Wagen und setzte uns irgendwo aus. Wir wissen nicht einmal, ob wir in der Nähe eines Dorfes sind. Seit Tagen irren wir schon umher und begegneten niemanden."

Anuwe lief es eiskalt den Rücken herunter. Es konnte sein...

"Nannte der Kerl einen Namen?"

Der Jüngere zuckte hilflos mit den Schultern und drehte seinen Kopf zum Älteren. Der schluckte hart.

"Ich dachte, es wäre Einbildung, aber der Kerl sprach mit einer Frau, als er dachte, ich wäre besinnungslos. Sie war wütend, unterdrückte es aber. Er nannte sie Doro."

Anuwe schloss kurz die Augen.

"Wo er mit ihr hinwollte, sagte er wohl nicht."

Der Jüngere sah ihn mitleidig an.

"Er erwähnte die Hafon-Ebene, aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine falsche Fährte ist."

Anuwe atmete tief ein. Die Hafon-Ebene war das einzige Gebiet, dass er noch nicht kontrolliert hatte. Es lag einfach daran, dass es dort nur eine Stadt gab, aber nun war ihm klar, dass er dort hin musste. Es war schon genug Zeit vergangen und Doro musste befreit werden.

Erst würde er die wenigen Häuser und Hütten kontrollieren, bevor er in die Stadt ging.

Er erklärte den Männern, dass er sie bis zur Stadt als Drache mitnehmen würde und dass sie deswegen keine Angst zu haben brauchten. Dann übergab er ihnen die Decke und wurde wieder zum Drache, der die Männer so vorsichtig wie möglich mit den Klauen packte und sich dann in die Lüfte erhob.

Nicht mehr lange und Doro würde da sein, wo sie hingehörte. 

Bei ihm.

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