Schreiben auf Plattformen
Kennt ihr die beiden beängstigenden Bücher "Circle" und "Every"? Über beide Bücher werde ich in Kürze einen Beitrag in meine "Private Library" stellen. Dave Eggers mach mir richtig Angst, ähnlich wie das damals vermutlich war, als George Orwell 1946 seine dystopische Novelle "1984" schrieb und veröffentlichte. Aber auf den Inhalt der neuen Bücher möchte ich hier gar nicht eingehen, sondern viel mehr darauf, was das Schreiben auf Plattformen mit uns Autorinnen und Autoren anstellen kann.
Ich schreibe einen Text.
Als erstes verspüre ich Freude. Analog. Die Zufriedenheit zeigt sich im Gesicht, in der Körperhaltung, im Herzschlag. Ich habe einen Text geschrieben. Stolz - ganz ohne Vorurteil. Den Text lasse ich nun einige Tage ruhen, wie ein Teig, der aufgehen soll. Danach gebe ich ihm eine kurze Überarbeitung, gefolgt vom wichtigen Schritt des Hochladens. Text auswählen, kopieren, Plattform auswählen, einfügen - wir kennen es alle. Erneut stellt sich eine innere Zufriedenheit ein, nur kurz diesmal, aber wichtig.
Jetzt folgt das Warten. Auf Reads. Auf Likes. Auf Kommentare. Je länger es dauert, desto unsicherer werde ich. Ist mein Text nicht gut? Gefällt er meinen Leserinnen und Lesern nicht? Erste Schübe von Stress durchströmen meinen Körper und Geist. Der Finger flippt in immer kürzeren Abständen auf die App. Kein roter Punkt. Enttäuschung.
An diesem Punkt müsste ich mir eigentlich die Frage stellen, warum ich schreibe. Schreibe ich für mich? Schreibe ich für euch? Schreibe ich für 'them'? - wen immer ich auch darunter verstehe. Oder schreibe ich für Es? Verspüre ich die Zufriedenheit des Textes wegen oder durch die virtuelle, nicht reale Anerkennung?
Nebst der Enttäuschung ob der fehlenden Lesungen, Zustimmungen und Kommentare kann sich gar eine Eifersucht einstellen. Auf den Plattformen sehe ich den Erfolg anderer Schreibenden. Wettbewerb. Zehn Sekunden ab Veröffentlichung bis zum ersten Like und den ersten fünf Reads. Kommentare, die im Sekundentakt aufpoppen - bei den anderen. Bei mir? Zwei Tage mit null Kommentaren. Mein Stolz über meinen Text schwindet.
Falsch! Tiefpunkt!
Ich lese meinen Text durch. Tränen fließen; der Text berührt mich. Mein eigener Text lässt mich erzittern, schaudern, schmelzen, lachen. Er geht unter die Haut, sogar unter meine. Der Text ist gut. Auf Plattformen vergesse ich das manchmal. Ich denke nicht daran, dass es Millionen von Nutzerinnen und Nutzern gibt, die alle das gleiche Ziel verfolgen: Schreiben um gelesen zu werden. Ein kleiner Text unter unbeschreiblich vielen, glitzernd im Orbit der Literatur.
Wenn ich auf Plattformen unterwegs bin, darf ich mich nicht stressen lassen. Meine Großmutter, eine kluge Frau, sagte mir jeweils "Du musst Geduld haben, das kommt schon." Die Welt um mich herum ist schnell geworden. Was nicht in Minuten an erster Stelle steht, hat nicht das Zeugs, gut zu sein. Doch das stimmt nicht (sorry für den Ohrwurm, Cool-Man). Mein Text ist gut; und wenn ihn andere nicht gut finden, so ist das nicht mein Problem.
Warum schreibe ich auf Plattformen? Damit ich mich mit meinen gleichgesinnten Freundinnen und Freunden austauschen kann. Über ihre Texte. Über meine Texte. Dass der Text für den Austausch erst gelesen werden muss, scheint natürlich und dennoch nebensächlich. Wenn also letztendlich der Austausch, mein Antrieb, wegfällt, dann macht es auch keinen Sinn mehr, auf Plattformen zu schreiben. Wird es irgend jemandem auffallen? Wahrscheinlich nicht; so wenig wie ich erkenne, wenn es am Nachthimmel einen leuchtenden Punkt weniger gibt.
Wichtig ist allein, dass der Text berühren kann. Mich, dich, die anderen. Und genau deshalb schreibe ich auf Plattformen. Damit es vielleicht, irgendwie - irgendwo - irgendwann, jemanden gibt, dessen Haut den Text einlässt, damit sich die geschriebenen Worte entfalten können und die Seele zu strahlen beginnt. Daran glaube ich, ganz ohne Reads, Likes und Kommentare, dafür mit viel Zufriedenheit.
Also, meine lieben Schreibenden mit wenigen Reads, Likes und Kommentaren. Schreibt weiter und seid stolz auf eure Texte. Zu allem anderen sagt ihr "Je m'en fou!" und ihr verspürt das herrliche Gefühl der Entspannung, die analoge Zufriedenheit, einen Text geschrieben zu haben.
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