Kapitel 28
Wir erstarrten beide und ich hob kapitulierend die Hände. Am anderen Ende des Ganges waren drei Männer aufgetaucht. Einer von ihnen war mit einer Armbrust bewaffnet, die er nun schussbereit auf uns gezielt hielt.
„Sie tragen eine geladene Armbrust durch die Kanalisation?", fragte ich spröde.
„Ruhe!" Die Waffe zitterte auf und ab, als der Mann vor Zorn zitterte.
Wladi gab einen entsetzten Laut von sich.
„Was macht ihr hier?", fragte einer der anderen Männer. Anders als die beiden übrigen, trug er nicht die rote Gardistenuniform, sondern einen Anzug.
Ich hob eine Augenbraue. „Wir haben den Kanal erkundet."
„Einfach so?" Der Mann klang zweifelnd.
„Es ist doch wichtig, über derart relevante Dinge Bescheid zu wissen, nicht wahr? Was passiert mit all dem Dreck und Ähnlichem? Sie wissen nicht, wie viele Menschen es gibt, die keine Ahnung von Kanalisationen haben."
Mein Redeschwall verwirrte die Männer.
„Was sollen wir jetzt mit denen anstellen?", fragte der dritte Mann.
„Na, wir lassen sie natürlich laufen." Der Anzugträger wandte sich an mich. „Sehen Sie, wir sind auf der Suche nach Diebespack, das sich angeblich in der Kanalisation herumtreibt. Sie haben sogar versucht, in den Palast einzudringen. Deshalb sind wir hier."
Ich nickte. Vielleicht würden sie uns tatsächlich gehen lassen.
Dann jedoch ertönte eine vierte ziemlich hohe Stimme von hinten. „Der Mann lügt. Ich kenne ihn. Er ist einer von denen, die aus den Verlorenen Landen kommen."
Die Armbrust, die schon auf dem Weg nach unten gewesen war, wanderte wieder nach oben und zielte direkt auf meine Brust.
„So ist das also."
„Und was machen wir jetzt?", fragte wieder der dritte Mann. Er schien das schwächste Glied zu sein.
„Wir können sie nicht laufen lassen."
„Aber es hieß, einer von denen sei ein König. Wir können doch nicht einfach einen König töten."
„Ja, aber wir wollen doch auch eine Königin umbringen."
„Ach, sei still. Lass mich überlegen." Der im Anzug rieb sich das Kinn. „Wenn wir sie töten, könnte das für zukünftige Unternehmen nachteilig sein. Wenn Amalia den Thron übernimmt, wird sie vielleicht Beziehungen zu den Verlorenen Landen aufnehmen wollen. Was, wenn dieser Blondschopf der König ist? Die Verlorenen Lande werden nicht gut auf uns zu sprechen sein. Nein, nehmt sie mit. Vielleicht können wir sie für unsere Zwecke nutzen. Möglicherweise ist das ein unerwarteter Glücksfall."
„Ihr habt gehört. Los, marsch!"
Der Mann mit der Armbrust machte eine Vorwärtsbewegung, sodass Wladi und mir nicht viel übrig blieb, als an dem vierten Mann vorbeizumarschieren.
„Da hoch", erklärte dieser, als wir an den Stufen angelangt waren. Ich ließ Wladi den Vortritt, dann folgte ich selbst.
Kurz zögerte ich, aber ohne Waffen konnte ich gegen vier Gegner wenig ausrichten. Außer dem Anzugträger war jeder von ihnen bewaffnet und die Armbrust konnte mir gefährlich werden. Vielleicht hätte ich es dennoch gewagt, wenn nicht Wladi bei mir gewesen wäre. Ich wollte den Jungen nicht noch mehr in Gefahr bringen.
Deshalb gehorchte ich - vorerst.
Ich steckte den Kopf durch die Öffnung und sah mich um. Der Raum war offenbar Teil des Kellers eines Hauses. An einem Tisch in der hinteren Ecke hatte kurz zuvor noch jemand Karten gespielt, jetzt jedoch standen alle um die Luke gruppiert.
Ein Mann hielt Wladi gepackt und entblößte bei einem harten Grinsen seine geraden weißen Zähne. Alle Personen im Raum teilten sich eine Gemeinsamkeit - ihr gepflegtes Äußeres. Keiner von ihnen wirkte wie jemand, der Verbrechen durchführte. Andererseits - wenn ich an die profitgierigen und skrupellosen Herrschaften in Seyl dachte, zu denen auch mein Onkel vor seinem Tod gehört hatte, war ich gar nicht so überrascht.
„Jetzt geh schon weiter", tönte es von unten und ich stieg aus dem Loch im Boden.
Die zwei größeren Männer packten mich an den Oberarmen. Ich wehrte mich nicht. Ächzend stemmte sich der Armbrustträger mit der Armbrust in die Höhe, ihm folgten die restlichen Männer. Der letzte verriegelte die Luke.
„Was soll das?", zischte die einzige Frau im Raum. Sie war klein, nicht größer als Rosena, aber ihr selbstbewusstes Auftreten verriet, dass sie den Männern in keinster Weise untergeordnet war.
„Wir haben die beiden erwischt, als sie hier herumgeschlichen sind", erklärte der Mann im Anzug.
„Ja und? Warum habt ihr sie nicht einfach beseitigt?"
„Das sind die aus den Verlorenen Landen. Ich glaube, wir haben einen großen Fang gemacht. Es hieß nämlich, einer von den zwei Männern sei der König von Seyl und ich bin mir ziemlich sicher, dass damit unser Blondschopf hier gemeint ist", erklärte der Gardist mit der hohen Stimme.
Die Frau musterte mich nun mit wesentlich interessierterem Blick. „So so. Es ist mir zwar schleierhaft, warum ein Adeliger in der Kanalisation herumstromert, aber ich hinterfrage mein Glück nicht", meinte sie. „Aber was sollen wir jetzt mit den beiden anstellen?"
„Wir könnten den Jungen töten. Der ist nur im Weg."
Wladi hatte genug vom Gespräch verstanden, um bleich zu werden, während ich mich anspannte. Einer der beiden Männer, die mich festhielten, bemerkte es.
„Ich glaube, der Junge ist ihm wichtig."
„So so. Dann sollten wir ihn vielleicht noch am Leben lassen. Bringt sie rüber zu Ihrer Majestät. Soll der Boss entscheiden, wie genau wir mit ihnen verfahren."
Die beiden Männer zogen mich in einen Nebenraum. Dort an der Wand hockte Elisa. Sie blickte auf, als die Tür geöffnet wurde und ihre Augen weiteten sich, als sie mich erkannte.
„Sie? Sie gehören dazu? Ich habe Ihnen vertraut!", rief sie aus.
„Mach dir nicht in die Hose", brummte einer der Männer nebenbei, während er mich an die Wand drückte, sodass der zweite Mann mir eine stählerne Fußfessel anlegen konnte. Kaum war diese eingerastet, zogen sich die beiden zurück.
Wladi sackte an der gegenüberliegenden Seite zu Boden.
Mit einem Krachen schlug die Tür ins Schloss und ließ uns zu dritt im Dunkeln zurück.
„Ich verstehe nicht", gestand die Königin verwirrt. „Warum sind Sie hier?"
„Weil wir uns erwischen haben lassen. Wir waren wohl nicht aufmerksam genug", bemerkte ich spöttisch, obwohl ich mich sehr darüber ärgerte.
„Was ist mit den anderen? Deinen Freunden?"
„Sie irren wohl noch durch die Kanalisation."
Ich hörte die Königin seufzen. „Dann bete ich, dass sie nicht auch noch erwischt werden."
Es erstaunte mich, dass die Herrscherin von Erza an einen Gott glaubte. Vielleicht handelte es sich aber auch nur um eine Redewendung.
„Wladi?", fragte ich in die Dunkelheit. „Geht es dir gut?"
„Ich habe Schlechteres gelebt." Seine zittrige Stimme verriet jedoch seine Angst.
„Und was machen wir jetzt?", wollte Elisa wissen.
Ich lehnte mich an die kalte Wand. „Wir warten. Entweder werden meine Freunde eintreffen oder ihr Anführer. So oder so werden wir hier nicht lange allein bleiben."
Für eine Weile herrschte Stille. Durch die Türe konnte ich die Stimmen der Entführer hören, aber nicht laut genug, um einzelne Worte zu erkennen.
„Sie werden mich töten, nicht wahr?", fragte Elisa schließlich.
Ich zögerte kurz. „Ja, das werden sie." Als ich den erstickten Schluchzer der Königin hörte, fuhr ich hastig fort. „Aber das werde ich nicht zulassen."
Sie lachte bitter. „Wie wollen Sie das verhindern? Sie sind genauso angekettet wie ich."
„Ich werde gerne unterschätzt", erklärte ich vage.
Wieder stellte sich Schweigen ein. Ich war mir sicher, dass Elisa über meine Worte grübelte. Ich schloss die Augen. Nun würden also die anderen mich retten müssen. Was für eine verkehrte Welt.
„Senn?" Eine zaghafte Stimme ließ mich ein Auge öffnen, auch wenn ich trotzdem nichts sehen konnte. „Meinst du, machen retten uns die anderen? Rosena lasst uns nicht alleine, ja?"
„Sie werden kommen", bestätigte ich nur.
Ich war mir dessen absolut sicher. Die einzige Frage, die sich stellte, war wann.
Wir mussten nicht lange warten. Auf einmal gab es einen Aufruhr. Stimmen wurden laut und jemand schrie. Dann wurde es still.
Ich richtete mich auf, schüttelte mein Bein aus, sodass die Kette rasselte. Langsam erhob ich mich und an den Geräuschen konnte ich hören, dass meine Mitgefangenen es mir gleich taten.
Mit einem Krachen schlug die Tür auf und Licht flutete herein. Ich hob eine Hand, um meine Augen vor der Helligkeit zu schützen.
„Bei den Göttern, Senn!", rief Alyn. „Geht es dir gut? Was haben sie dir angetan?" Sie kam auf mich zugestürzt.
Ich grinste schief. „Mir geht es gut. Es ist nichts passiert."
Sie kniete sich vor mir hin und widmete ihre Aufmerksamkeit der Fußfessel. Ich wollte mich gerade zu ihr bücken, da sah ich einen Schatten in der Tür auftauchen. Eine gespannte Armbrust, die direkt auf Alyn zielte.
Ein Pfeil löste sich und Alyn fuhr herum. Sie starrte entsetzt auf die Spitze, die sich knapp neben ihr in eine Holzkiste gebohrt hatte. „Wie?"
Der Mann in der Tür kippte um und blieb reglos liegen. Als Alyn ihn auf den Rücken drehte, fiel ihr Blick auf das Messer, das in seiner Kehle steckte. Ein scharfes Messer, das ich heimlich vom Frühstückstisch mitgehen hatte lassen und nur einen Moment schneller geworfen hatte, als der Mann schießen konnte, weil sich seine Augen erst an die dunkleren Lichtverhältnisse hatten gewöhnen müssen, während ich mehr oder weniger blind auf die Silhouette gezielt hatte.
Sie runzelte die Stirn. „Du hast mir das Leben gerettet", stellte sie fest.
Ich nickte bloß.
Jetzt kamen auch die anderen herein. Einer nach dem anderen. Zuerst Sphen, dann Rosena, Lapislazuli und schließlich Mal.
Elisa riss die Augen auf. „Mal? Was machst du hier?"
„Ich kann nicht Königin werden", erklärte diese. „Also muss ich dich zurückbringen."
Lapislazuli hielt einen Schlüssel in der Hand, mit der sie die Schellen von Elisa und Wladi löste. Alyn hatte meine Fußfessel längst zerbrechen lassen.
Elisa stürzte sich sofort auf ihre Schwester. „Geht es dir gut?"
Diese starrte die Königin verwirrt an. „Warum sollte es mir nicht gut gehen? Ich bin gesund und hatte sehr viel Spaß." Sie sagte das in einem derart ernsten Tonfall, dass es einem schwerfiel, ihren Worten Glauben zu schenken. Ich wusste jedoch, dass sie es genauso meinte.
„Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dass diese Anarchisten dir etwas zuleide tun würden."
„Ach, das waren keine Anarchisten", erklärte Mal stirnrunzelnd.
„Aber sie sagten mir doch, dass sie nun meine Herrschaft beenden würden und dass ich kein Recht hätte, die Menschen zu regieren und ihnen das Geld aus den Taschen zu ziehen."
Während Mal ihre Schwester über ihren Verdacht aufklärte, trat ich an die Tür und spähte in den Raum dahinter. Alle lagen reglos auf dem Boden, doch ich konnte sehen, dass sie noch lebten.
„Ihr habt sie nicht getötet?", fragte ich Alyn.
Sie schien amüsiert. „Damit wir uns von dir Vorwürfe anhören dürfen? Nein danke."
„Ich hätte euch doch keine Vorwürfe gemacht", verteidigte ich mich. „Ich möchte nur nicht, dass ihr mit dieser Schuld leben müsst. Jeder Tod raubt einem einen Teil seiner selbst und formt es zu etwas anderem."
„Sphen hat schon des Öfteren gemordet und auch ich habe bereits Menschen getötet. Ich bin mir sicher, dass auch Lapislazuli in dieser Hinsicht längst ihre Unschuld verloren hat. Wir können damit umgehen."
Ich seufzte. „Danke, dass ihr es trotzdem nicht getan habt."
Dann blickte ich mich um. „Wir sollten sie fesseln. Oder einsperren. Nicht, dass sie entkommen."
Da wir kein Seil fanden und es nicht genug Fußschellen gab, sperrten wir sie einfach in den Raum, in dem wir zuvor gefangen gewesen waren. Zuvor durchsuchten wir sie jedoch noch nach Waffen und eventuellen Zweitschlüsseln.
Anschließend kehrten wir zum Palast zurück. Alyn berichtete mir, dass sie an der Abzweigung, an der wir uns getrennt hatten, auf uns gewartet hatten und als Wladi und ich nicht aufgetaucht waren, sich auf die Suche begeben hatten. Dank der behelfsmäßigen Fackel, die ich platziert hatte, fanden sie das Versteck der Entführer.
„Eigentlich wären wir nie darauf gekommen, die Stufen zu erklimmen, aber als wir an die nächste Biegung kamen, wurde es wieder finster und wir waren alle der Meinung, dass du kaum ohne Licht weitergegangen wärst. Es sei denn, es wäre etwas passiert. Also haben wir kurz gezögert und sind schließlich nochmal zurückgegangen in der Hoffnung auf Hinweise. Dabei sind wir direkt in eine der Palastwachen gelaufen. Danach hat eins zum anderen geführt."
„Wie finden wir in diesem Labyrinth wieder zum Palast zurück?", fragte Elisa verzweifelt.
Ich deutete nach oben. „Wir gehen einfach zurück an die Oberfläche."
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