Kapitel 26

Am Ende kehrte ich auf anderem Wege zu meinem Zimmer zurück. Da ich im Archiv die Professorin nicht auffand, wollte ich die Bibliothek suchen. Bevor ich mich mit dieser Absicht hoffnungslos verirrte, stieß ich auf Mal, die einsam durch die Gänge wanderte.

In ihr Gesicht stahl sich ein Lächeln, als sie mich erkannte. „Sie haben sich davongeschlichen", stellte sie ohne Vorwurf fest.

Ich nickte. „Ich wollte Professor Hasenberg Bescheid geben, dass ich unsere Verabredung nicht einhalten kann."

„Sie wurde bereits benachrichtigt."

„Dann bin ich wohl umsonst losgelaufen."

„Wie intelligent sind Sie?"

Verblüfft starrte ich Mal an. „Was ist das für eine Frage?"

„Ich halte Sie für sehr klug und ich bin es auch. Also können wir uns diesen vorgeschobenen Grund sparen. Warum spazieren Sie in Wirklichkeit in diesen Gängen herum?"

„Nun, vielleicht war die Suche nach Professor Hasenberg nicht der einzige Grund", gab ich zu. „Ich ertrage es nur nicht, in einem Raum eingesperrt zu sein, ohne etwas unternehmen zu können. Es macht mich wahnsinnig."

Langsam neigte sie den Kopf, während ihre Miene völlig unberührt blieb. Sie wirkte nicht, als hätte ich ihr gerade etwas aus meinem Innersten offenbart, sondern einen völlig nachvollziehbaren Grund geliefert. „Da wir das nun geklärt haben, begleite ich Sie am besten zurück."

Ich war mir nicht sicher, ob sie das tat, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich zurückkehrte, oder weil sie einfach meine Gesellschaft genoss.

„Wie haben Sie ihren Verlobten kennengelernt?"

Obwohl mich die Sache eigentlich nichts anging, zögerte Mal keine Sekunde. „Er forderte mich zum Tanzen auf."

„Und?"

„Was? So haben wir uns kennengelernt."

„Haben Sie sich in ihn verliebt?"

Dieses Mal zögerte sie. „Ich verstehe das Konzept von Liebe nicht. Es ist sicher eine instinktgesteuerte Reaktion, die gewisse Symptome hervorruft, unter anderem..." Sie unterbrach sich, als wäre ihr bewusst geworden, dass sie vom Thema abschweifte. „Wie dem auch sei, ich empfinde gewiss Zuneigung, so wie ich das auch bei meiner Schwester oder dem Rest meiner Familie tue. Aber wenn ich aus den Berichten meiner Schwester über ihre Gefühle zu Nepomuk schließe, dann bin ich nicht in ihn verliebt."

„Warum wollen Sie ihn dann heiraten?"
„Das ist doch normal oder nicht?", entgegnete Mal völlig erstaunt.

Bevor ich antworten konnte, passierten uns zwei Diener. Als sie die Frau an meiner Seite entdeckten, verbeugten sie sich rasch, dann eilten sie weiter. Ich drehte mich um und beobachtete, wie sie im nächsten Raum verschwanden.

„Sie sprechen von Heiratspolitik?", wollte ich mich vergewissern.

Sie schüttelte den Kopf. „In Erza sind politische Hochzeiten inzwischen Vergangenheit, nachdem sich König Johann der Zweite vor vierundachtzig Jahren dazu entschied, sich mit einer Bürgerlichen zu vermählen. Entgegen der Proteste der Oberschicht. Nachdem diese Frau sich als überaus fähig herausstellte, verstummten die meisten Proteste nach einer Weile und man kam zu dem Schluss, dass man mit der Zeit gehen müsse und die Heiratspolitik an sich eine veraltete Praxis sei. Vor allem da die meisten Länder im Osten nicht mehr vom Adel regiert werden und dort aus diesem Grund auch zu keinem positiven Ergebnis führen würde."

Ich hatte geduldig ihrem Vortrag gelauscht. Erst als sie geendet hatte, wagte ich einen zweiten Vorstoß. „Ihre Schwester liebt also ihren Verlobten. Sie hingegen tun es nicht. Warum sehen Sie sich dennoch genötigt, ihn zu heiraten?"

„Ich bin inzwischen dreißig Jahre alt. Die meisten Frauen in meinem Alter haben bereits Familie oder sind zumindest in einer Beziehung. Also ist es das, was normal ist. Deshalb habe ich zugestimmt, als mir Simon einen Antrag gemacht hat."

Ich hielt inne. Fragend blickte sie mich an. „Warum sind Sie stehen geblieben?"
„Mal", sagte ich eindringlich. „Es ist nicht wichtig, was die anderen Menschen machen. Es ist nicht richtig, dass du dein Wesen veränderst, nur damit du wie die anderen bist. Jeder ist individuell. Du bist ein Genie und dazu geboren, die Welt mithilfe deines brillanten Verstandes zu verändern. Jeder, der das nicht erkennt und respektiert, ist es sowieso nicht wert, beachtet zu werden. Tue niemals etwas, was andere erwarten, einfach weil es als normal angesehen wird. Sondern mach das, was für dich das Richtige ist. Andernfalls richtest du dich nur selbst zugrunde. Glaub mir das."

Sie ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Das ist interessant. Ich muss dir - wir duzen uns jetzt, ja? - zustimmen. Die Natur ist unordentlich. Nichts ist jemals gleich. Warum sollte es bei Menschen anders sein? Die Pflanzen wachsen immer wie sie wollen, sie scheren sich nicht darum, was der Gärtner sich für ein Muster vorstellt."

Wir blieben vor meiner Zimmertür stehen. „Ich danke dir für das Gespräch. Meine Familie liebt mich. Insbesondere meine Schwester. Aber sie haben keine Zeit, mir zuzuhören. Sie sind alle viel zu beschäftigt. Manchmal verirre ich mich auf dem Weg. Ich verstehe oftmals den Sinn hinter den Worten nicht. Das ist ermüdend und ich weiß, dass es anstrengend ist, mit mir zu sprechen. Ich bin nicht dumm."

„Sie meinen es sicher nicht böse."

„Das weiß ich. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Indem sie mich unterbrechen, können sie das Reich effizienter leiten. Ich habe ausgerechnet, dass ein Gespräch mit mir eine durchschnittliche Länge von etwa..."

„Senn!"

Alyns Ruf schnitt durch die Luft wie eine scharfe Klinge.

„Wo warst du? Du hast doch versprochen, keine Alleingänge mehr zu unternehmen."

„Ich..."

„Er hat mit mir einen Spaziergang unternommen und dabei eine Unterhaltung mit mir geführt", erklärte Mal.

Sofort zeichnete sich Zerknirschung auf Alyns Miene ab. „Es tut mir leid."

Unwillkürlich musste ich lächeln. So schnell erregt wie sie war, so schnell kühlte sie auch wieder ab.

„Komm doch herein. Was machst du überhaupt hier?"

Alyn ging an der von meinem ausgestreckten Arm festgehaltenen Zimmertür vorbei, während Mal sich abwandte.

„Möchtest du auch hereinkommen?" Ich wusste selbst nicht genau, warum ich das fragte. Es war ungewöhnlich für mich, aber als ich die Freude in ihrem Gesicht sah, stellte ich fest, dass ich so etwas vielleicht öfters tun sollte.

Wir nahmen auf der kleinen Sitzgruppe in der Ecke des Zimmers Platz. Mal überschlug die Beine und richtete sich gespannt auf. Alyn hingegen verschränkte abwartend die Arme und taxierte mich mit einem skeptischen Blick.

„Ich gebe zu, ich war nicht ganz ehrlich zu dir", gestand ich schließlich und die Worte ätzten wie Säure in meinem Hals. Erstaunlich, wo Lügen für mich doch wie eine zweite Haut waren.

Alyn blieb stumm, wartete ab. Ich war dankbar für diese Geste des Vertrauens. Ich wusste, wie schwer es ihr fiel, war ihre größte Schwäche doch ihre mangelnde Geduld.

„Ich hielt es nicht mehr aus, eingesperrt zu sein, also habe ich mir selbst eingeredet, Professor Hasenberg informieren zu müssen, dass unser Treffen ausfällt. In Wirklichkeit jedoch wollte ich einfach nur weg."

Nach einigen Momenten vollkommener Stille breitete sich ein Lächeln auf Alyns Gesicht auf. „Damit kann ich leben", meinte sie schließlich.

Ich war seltsam erleichtert. Wie schnell sich das Leben doch ändern konnte, wie schnell sich andere Personen in mein Herz aus Stein geschlichen hatten. Ob Mal mir dazu eine wissenschaftliche Erklärung geben konnte?

„Was jedoch wichtiger ist - ich habe eine Tür entdeckt. In einem achteckigen Raum", sagte ich an Mal gewandt.

„Im blauen Oktogon?"

„Falls du damit auf die Farbe der Tapete abzielst, ja."

„Dort gibt es keine Tür." Die Königstochter runzelte die Stirn.

„Sie war versteckt."

„Wo?"

„Hinter der Tapete, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Viel wichtiger sind die Fußspuren, die sich am Boden des Ganges dahinter befinden. Sie sind neu."

„Ich vermute, die Tür führt zum alten Trakt. Die Räume werden schon lange nicht mehr genutzt. Eigentlich dachte ich, man hätte alle Zugänge zugemauert." Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.

„Warum denn das?", fragte Alyn neugierig. „So viel Aufwand. Man hätte die Türen doch einfach nur absperren können."

„Das ist lange her. Einst gab es einen fürchterlichen Brand, bei dem die geliebte Frau König Alwins - meine Urururgroßmutter - ums Leben kam, sowie drei seiner fünf Kinder. Es hieß, übernatürliche Kräfte seien am Werk gewesen. Eines der Kinder - um genau zu sein, der viertgeborene Konrad, er überlebte das Unglück nicht. Dafür aber..." Sie hielt inne. „Wie dem auch sei. Laut dem Verfasser der Chronik unseres Hauses hat dieser Junge eine Tür geöffnet, die er nicht hätte öffnen dürfen und dabei einen Fluch aktiviert. Heute glauben wir nicht mehr an derartige Dinge. Aber da der Palast sowieso viel zu groß ist, hat bisher keiner Anstalten gemacht, den alten Trakt wieder in den Rest des Hauses zu integrieren."

„Das ist traurig", meinte Alyn.

„Das ist der Lauf der Dinge", meinte Mal ungerührt.

Ich räusperte mich. „Jedenfalls scheint es mehrere Personen zu geben, die diesen Trakt erst vor Kurzem betreten haben. Ich frage mich, was sie dort zu suchen hatten..." Bewusst langsam ließ ich den Satz ausklingen.

Mal zuckte mit den Schultern. Man konnte ihr anmerken, dass es sie wurmte, auf eine Frage keine zufriedenstellende Antwort zu haben. „Soweit ich weiß, spielt dieser Teil des Gebäudes keine Rolle mehr. Alle glauben, sämtliche Zugänge seien zugemauert."

„Ich möchte der Sache auf den Grund gehen", erklärte ich kurzerhand.

„Warum?", fragten beide Frauen unisono.

„Weil ich etwas überprüfen möchte", antwortete ich ausweichend.

Keine der beiden fragte weiter.

„Aber nicht ohne die anderen", setzte Alyn als Bedingung fest. Ich willigte ohne Zögern ein.

„Ich muss los", meinte Mal plötzlich, während sie sich abrupt aufrichtete und anschließend aus dem Raum eilte.

„Was war denn das?", wollte Alyn erstaunt wissen.

Ich warf einen nachdenklichen Blick auf die leere Türöffnung. „Ich denke, Mal hatte eine Eingebung." Ich blieb bewusst nebulös und Alyn akzeptierte diese Entscheidung mit einem resignierten Seufzer. „Morgen", meinte sie. „Es ist spät und ich fühle mich erschöpft." Sie erhob sich langsam und strich sich eine widerspenstige schwarze Strähne aus dem Gesicht.

Ich stand mit ihr auf. „Es ist nicht deine Angelegenheit."

Alyn hob die Hand und legte sie an meine Wange. Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Schließlich wandte sie sich ab und verschwand wortlos. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Lange stand ich da, während die Wärme auf meiner Haut, die ihre Hand hinterlassen hatte, verschwand.

Ein Klopfen riss mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Ich hatte mich die halbe Nacht herumgewälzt und vor mich hin gebrütet, bis ich schließlich doch in verwirrende Träume geglitten war.

Als ich mich aufrichtete, spürte ich einen unangenehmen Druck hinter meinen Schläfen. Ich schlüpfte in eine Hose und tappte zur Tür. Ich öffnete sie und durch den schmalen Spalt erkannte ich Quentin, der mich mit gerunzelter Stirn musterte. „Das Frühstück ist fertig, Herr. Die königliche Familie wünscht, dass Sie daran teilnehmen."

„Darf ich Sie etwas fragen?"

Das Stirnrunzeln vertiefte sich. „Bitte?"

„Schlafen Sie denn nie?"

Er lächelte gequält. „Doch, aber nicht sehr viel."

Damit hatten wir etwas gemeinsam.

Ich zog mich in das angrenzende Badezimmer zurück, spritzte mir schnell kaltes Wasser ins Gesicht, um richtig wach zu werden, und kleidete mich an.

Kurze Zeit später stand ich mit meinen Freunden im Speisezimmer, während uns die königliche Familie mit unergründlichen Blicken musterte. Schließlich erhob sich die alte Herzogin. Auch sie schien diese Nacht nicht viel geschlafen zu haben, ebenso wenig wie Nepomuk und Simon. Die Einzige, die ausgeruht wirkte, war Mal.

„So nehmt doch bitte Platz."

Wir setzten uns auf die uns zugedachten Plätze und ich fragte mich, ob es Zufall oder Absicht war, dass ich am Ende zwischen Mal und deren Großmutter landete. Das Kopfende, an dem meiner Erinnerung nach Elisa für gewöhnlich saß, blieb unbesetzt.

Die alte Herzogin erkundigte sich höflich nach den Zuständen in meinem Land, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war. Trotzdem antwortete ich ebenso höflich.

Mal hingegen hörte mir aufmerksam zu, blieb aber ungewohnt einsilbig. Ihr Verlobter, der zu ihrer Rechten saß, unterhielt sich angeregt mit Alyn, die sich ausgezeichnet mit ihm zu verstehen schien. Damit waren die beiden aber auch die Einzigen, die sich bei diesem Frühstück halbwegs amüsierten. Nepomuk, der der alten Dame gegenüber saß, betrachtete gedankenverloren Lapislazuli, die sich bemühte, zivilisiert zu speisen. Allerdings hielt sie das Messer mehr wie eine Kampfwaffe. Rosena und Wladi bildeten einen Puffer zwischen der Jamarin und Sphen, der ganz am anderen der Tafel Platz genommen hatte. Der Assassine trommelte mit den Fingern seiner linken Hand einen ungehaltenen Rhythmus, während er in der rechten seine Tasse hielt.

Ich wollte mich gerade wieder der Herzogin zuwenden, als die Tür aufgerissen wurde und ein junger Mann völlig außer Atem hereinstürmte.

„Die Anarchisten!", rief er keuchend. „Es waren die Anarchisten!" Er schluckte. „Sie haben die Königin entführt!"

Er wedelte mit einem Brief.

Die Herzogin stand auf. „Geben Sie her. Und benehmen Sie sich."

Der junge Gardist wurde bleich und anschließend rot. Sichtlich verlegen reichte er meiner Sitznachbarin den Brief.

Sie überflog ihn rasch, die Lippen fest zusammengepresst, das Gesicht zu einer grimmigen Grimasse verzehrt. Alle starrten sie abwartend an. Die Frau legte den Brief weg und ihre Faust fuhr auf den Tisch. Das Klirren, das daraufhin ertönte, war in der Stille unerträglich laut. „Sie verlangen, dass die Monarchie aufgelöst wird. Sonst wird Elisa sterben."

Deutlich konnte man das Entsetzen in Nepomuks Miene lesen. Trotzdem beherrschte er sich. „Was werden wir tun?", brachte er mühsam hervor.

„Wir müssen darauf eingehen. Sonst wird Elisa sterben!", rief Simon erregt.

Mal runzelte die Stirn. „Warum sollten sie die Abschaffung der Monarchie verlangen? Wir sind de facto längst entmachtet. Die Gesetze werden vom Parlament bestimmt. Wir sind reine Zierde."

„Wir kosten Geld", wandte die alte Dame ein.

„Wir sind eine Attraktion, wir bringen Geld in die Stadtkasse. Das Schloss finanziert sich durch die Eintrittspreise, die Dienerschaft durch die Einnahmen, die wir durch das Vermieten unserer Grundstücke erzielen. Wir sind Teilhaber der Zuggesellschaft und verdienen einiges an der Pferdezucht. Wir kosten kein Geld."

„Wir sind Teilhaber der Zuggesellschaft?" Die Herzogin wirkte ehrlich erstaunt.

„Ja."

„Das ist doch ein staatliches Unternehmen. Wie kommt es dazu, dass wir Teilhaber sind?"

Mal zuckte mit den Achseln. „Ich habe einige Verbesserungen vorgenommen, die den Verbrauch der Karfsteine betreffen. Anstelle einer Bezahlung..."

Die Herzogin unterbrach Mal. „Wieso wusste ich nichts davon?"

„Du hast nicht gefragt."

Die Herzogin beließ es dabei. „Ihnen wird es um das Prinzip gehen", meinte sie nachdenklich.

„Wir müssen Elisa auf jeden Fall retten. Nur dass wir uns nicht einfach so abschaffen können." Simon ballte entschlossen die Hände. „Würde es nicht um das Leben von Elisa gehen, würde ich darauf beharren, dass wir nicht nachgeben. Das gibt ihnen Macht und sie werden weitere Forderungen stellen."

Die alte Dame nickte. „Du hast recht. Wir dürfen das nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht..." Sie schien sichtlich mit sich zu ringen. „Vielleicht müssen wir Elisa opfern."

Nepomuk wurde kreidebleich. „Nein", sagte er tonlos. „Nein, das darf nicht sein. Es muss einen anderen Weg geben."

„Er hat recht", meinte Simon. „Wir müssen eine andere Möglichkeit finden."

„Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit." Die Miene der alten Frau blieb stoisch, aber ich konnte sehen, wie ihre Hand leicht zitterte.

„Aber Elisa ist die Königin! Selbst wenn wir nicht auf ihre Forderungen eingehen, was bringt uns ein Königshaus ohne Herrscher?" Nepomuk fuhr sich erregt durch die Haare, dabei verschob er auch seine Brille, sodass sie ihm schief im Gesicht saß. Er schien es nicht zu bemerken.

Ich hob eine Augenbraue.

„Eigentlich ist Elisa nur die Zweitgeborene", meinte die Herzogin leise.

Alle Blicke wandten sich Mal zu. Diese schien zuerst nicht zu begreifen.

„Amalia, du bist die Älteste, dir war von Geburt an bestimmt, eines Tages den Platz deines Vaters einzunehmen."

„Nein. Ich kann das nicht machen."

„Es wird dir keine andere Wahl bleiben", widersprach die Herzogin ruhig.

Simon nahm die Hand seiner Verlobten. „Ich werde dich unterstützen. So gut ich es vermag."

Ein Poltern ertönte, als Nepomuk ruckartig aufstand und hastig den Raum verließ.

„Wir werden alles unternehmen, um Elisa zu finden. Wir haben einen Tag Zeit." Mit diesen Worten erhob sich die Herzogin und schritt zur Tür.

Simon räusperte sich. „Ich denke, das Frühstück ist hiermit beendet. Ich entschuldige mich im Namen der königlichen Familie für diesen Aufruhr." Er erhob sich. „Komm, Mal."

Doch die junge Frau schüttelte den Kopf. „Ich möchte mit Senn noch etwas bereden."

Die Brauen ihres Verlobten verengten sich kaum merklich, während er sich um ein Lächeln bemühte. „Natürlich."

Er verließ den Raum.

Alyn blickte mich schelmisch an. „Hast du das gesehen? Er ist eifersüchtig auf dich."

„Ich bin mir nicht sicher, ob du dich nicht täuschst."

Alyn schnaubte. „Vermutlich kommt so ein Wort nicht einmal in deinem Wortschatz vor."

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich möchte mit euch gehen", verkündete Mal plötzlich.

„Du willst dein Land im Stich lassen?", rief Alyn aus.

„Das verstehe ich nicht", meinte Lapislazuli. „Dieses Land ist wundervoll. Allein, dass eine Frau Königin ist, bezeugt schon eure Fortschrittlichkeit."

„Ihr versteht nicht." Mal klang niedergeschlagen. „Wieso auch, das tut nie jemand."

Rosena meldete sich leise zu Wort. „Ich verstehe es zwar nicht, aber wir werden diese Entscheidung respektieren." Sie warf einen Blick auf Alyn und Lapislazuli.

„Senn, sag du doch auch mal etwas." Alyn verschränkte die Arme. „Ich möchte nicht an so einem Komplott beteiligt sein. Mal trägt Verantwortung für dieses Land."

„Alyn", sagte ich so behutsam, wie es mir möglich war. „Du verstehst nicht. Mal ist nicht dazu geeignet, ein Volk zu führen. Sie würde niemals die Herzen ihrer Untertanen erreichen, so wie Elisa es tut. In Erza gibt es nur noch eine Monarchie, weil das Volk die Königin liebt und nicht, weil es sie braucht."

„Senn!", rief Alyn aus.

„Was denn?"

„Sowas kannst du doch nicht sagen", erklärte Rosena. „Das ist nicht sehr nett."

Mal runzelte die Stirn, wie sie es oft tat. „Aber er hat doch recht. Endlich bestätigt jemand meine Argumente. Ich weiß zwar, dass ich richtig liege, aber eine zweite fachkundige Meinung schadet nie."

Alyn und Rosena schwiegen verdutzt und tauschten erstaunte Blicke.

„Mal", begann ich. „Ich möchte den Fußspuren auf den Grund gehen."

„Welche Fußspuren?", fragte Lapislazuli.

Ich erklärte ihr, was ich vergangenen Abend entdeckt hatte, und wiederholte das Ganze auf skarsch, sodass auch Sphen und Wladi verstehen konnten, worum es ging.

„Wenn du das tust, möchte ich dich begleiten. Ich kann mir die Chance, den alten Trakt zu betreten, nicht entgehen lassen."

Ich nickte. „Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen."

„Ich komme mit", verkündete Alyn entschlossen und auch keiner der anderen wollte zurückbleiben. Sogar Wladi klammerte sich an mir fest, damit er ja nicht vergessen wurde.

Kaum hatten wir den Raum verlassen, begannen Diener geschäftig damit, den Frühstückstisch abzuräumen.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top