Kapitel 22
„Was ist hier los?" Eine herrische Stimme ließ alle zusammenzucken. Weiter hinten im Gang stand Elisa, flankiert von zwei weiteren Gardisten. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt und sie war nur mit einem dünnen Mantel bekleidet, den sie sich offenbar in Eile übergeworfen hatte.
„Nichts, Eure Majestät. Wir haben nur einen Eindringling gefasst."
Sie warf einen Blick auf mich. „Sie Narren! Das ist kein Eindringling, sondern der Thronfolger von Seyl. Sie haben gerade eben ein ganzes Land diffamiert. Wir bemühen uns, eine gute Beziehung zu den verlorenen Landen wiederaufzubauen und Sie zerstören alles mit einer einzigen dummen Aktion."
Die Wachen wurden bleich.
Die Königin trat näher. „Was haben Sie mitten in der Nacht auf den Gängen zu suchen?"
„Ich wollte zu meinen Freunden", antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Herrgott. Sie können doch nicht einfach so auf die Straße rennen."
„Ich...", begann ich, aber sie ließ mich nicht ausreden.
„So nehmen Sie ihm doch die Handschellen ab. Er ist doch kein Verbrecher."
Ich spürte, wie das Gefühl der Enge an meinen Handgelenken nachließ. Sofort rieb ich mir die Druckstellen.
Die Königin gab einen Befehl und nach nicht allzu langer Zeit kam ein Diener herbeigeeilt. Derselbe, der mich in das Gästezimmer geführt hatte. Er warf mir einen ungerührten Blick zu, aber auch wenn er seine Gefühle gut verbarg, konnte ich den Ärger in seiner Miene herauslesen. „Führen Sie ihn zurück zu seinem Zimmer." Dann fuhr sie in so leisem Ton fort, dass ich nicht verstehen konnte, was sie genau sagte, aber der Diener nickte.
„Folgen Sie mir."
Ich drehte mich um und starrte Elisa an, die mir mit gerunzelter Stirn nachblickte.
Zwei der Wachen folgten uns.
Als wir wieder zu meinem Zimmer gelangten, hatte es der Diener eilig, zu verschwinden. „Es tut mir leid", sagte ich, weil es genau das war, was ich an seiner Stelle erwartet hätte. Er hielt überrascht inne.
„Sie sind ein Gast. Es ist meine Aufgabe, Ihnen zur Seite zu stehen und Ihre Wünsche zu erfüllen."
„Trotzdem", murmelte ich.
Er nickte und schloss die Türe. Als ich sie ein weiteres Mal öffnete, standen die beiden Wachen davor, die mir freundlich, aber bestimmt den Weg versperrten.
„Eure Hoheit, es ist schon spät. Sie sollten schlafen."
Ich konnte ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. „Ich schätze, Sie werden mich nicht vorbeilassen."
Der Gardist schüttelte den Kopf. „Nein, Herr. Befehl der Königin."
Ich nickte. „Dann wünsche ich den Herren eine gute Nacht."
Die beiden hatten zumindest den Anstand, zerknirscht dreinzublicken. „Eine gute Nacht, Eure Hoheit."
Ich schloss die Türe und warf mich angezogen auf das weiche Bett. Grübelnd starrte ich an die Decke. Durch das Fenster fiel nur wenig Licht, aber es genügte, um zumindest die Konturen der Möbel zu erahnen.
Vielleicht würde ich irgendwann einschlafen und am nächsten Morgen aus diesem Albtraum erwachen. Aber wie so oft wollte sich der Schlaf nicht einstellen.
Schließlich stand ich auf, schaltete das Licht an und entdeckte dabei eine weitere Türe. Neugierig öffnete ich sie und fand dahinter einen weiteren Raum, deutlich kleiner, aber mit einer großen Wanne ausgestattet.
Als ich den Hebel bestätigte, floss Wasser aus dem Hahn. Warmes Wasser. Ein Lächeln stahl sich über mein Gesicht. Wenn sie mich schon nicht gehen ließen, dann würde ich mir meinen Aufenthalt eben so angenehm wie möglich gestalten.
Ich entkleidete mich und legte mich in die Wanne. Das heiße Wasser löste meine verkrampften Glieder und ich entspannte mich.
Erst als ich zu frieren begann, trocknete ich mich mit einem weichen Handtuch ab und beobachtete, wie das Wasser in einem Abfluss verschwand.
Meine Gedanken wanderten zur krylanider Kanalisation, die schon lange nicht mehr in Betrieb war. Wenn ich wirklich der König war, würde ich das als Erstes ändern.
Wieder legte ich mich ins Bett und dieses Mal schlief ich tatsächlich ein.
Am nächsten Morgen weckte mich ein beständiges Klopfen.
Ich blinzelte und war sofort hellwach. Alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen.
Rasch schlüpfte ich in mein Hemd und öffnete die Tür. Davor stand eine junge Dienerin, die sich verbeugte. „Ich bringe Frühstück, Herr", sagte sie.
Zwischen ihren Händen befand sich ein reichhaltig gedecktes Tablett mit frischem Brot, verschiedenen Sorten von Aufstrich, Getreideflocken, Milch, Früchten und – zu meiner Freude – einer Kanne gefüllt mit dampfenden Quahve – oder Kaffee, wie er hier geschrieben wurde.
Ich nahm ihr das Tablett ab und bedankte mich, woraufhin sie errötete, eilig knickste und wieder verschwand. Die beiden Wachen jedoch standen immer noch ungerührt vor meiner Tür.
„Haben Sie denn keinen Hunger?", fragte ich ernsthaft.
Die eine Wache grinste. „Natürlich. Aber wir müssen einen König vor Dummheiten bewahren."
Die andere Wache gab ihm unauffällig einen Rempler, woraufhin der Mann erblasste.
Ich hob eine Augenbraue. „Ich bin kein König, aber ich weiß, dass ich das sowieso nicht alles allein essen kann. Sie können mich gerne auch bewachen, während wir die Speisen auf diesem Tablett verzehren. Nehmt das ruhig als Befehl."
Die beiden Wachen tauschten einen unsicheren Blick. Dann jedoch fassten sie einen Entschluss, der möglicherweise etwas mit ihren leeren Mägen zu tun hatte, und folgten mir ins Zimmer.
Während sie mir gegenüber an dem Tisch, der sich in meinem Raum befand, Platz nahmen, musterte ich sie.
Keiner von beiden war besonders alt. Der Graf hätte sie wohl als Grünschnäbel bezeichnet, aber sie schienen etwas von ihrem Handwerk zu verstehen. Andernfalls wären sie wohl kaum vom Königshaus eingestellt worden. Offenbar hatten sie großen Hunger, denn sie vertilgten alles fein säuberlich bis auf den letzten Rest.
Satt und zufrieden begannen sie sich zu entspannen. Ich lächelte ihnen freundlich zu und hoffte, meine Miene erinnerte nicht zu sehr an eine Grimasse. Auch wenn ich ebenso satt war wie sie, blieb ich im Gegensatz zu ihnen ein Raubtier. „Ist es denn anstrengend, die ganze Nacht Wache zu stehen?", begann ich mit einer unverfänglichen Frage.
Sofort richteten sie sich auf. „Natürlich erfordert es Durchhaltevermögen und nur die Besten der Besten werden erwählt im Königshaus zu dienen. Es ist eine große Ehre."
„Die Königin ist sicher froh, sich auf solch verlässliche Männer wie euch stützen zu können."
„Aber sicher. Wir unterstützen sie, wo wir nur können."
Die beiden Wachen brüsteten sich stolz.
„Sie ist anscheinend eine gute Herrscherin."
„Auf jeden Fall. Es ist gut, dass ihre ältere Schwester auf den Thron verzichtet hat."
Jetzt kamen wir der Sache schon näher. Ich beugte mich vertraulich nach vorne. „Euch darf ich das ja sagen, nicht wahr? Irgendwie erscheint mir Mal etwas seltsam." In Gedanken entschuldige ich mich bei ihr für meine Aussage.
Die Wachen nickten eifrig. „Das ist sie in der Tat. Wer weiß, wie es um Erza stehen würde, wenn Amalia auf dem Thron sitzen würde."
Ich bekam Mitleid mit Mal, die mir eigentlich wie ein äußerst kluger Kopf erschien. „Nun, da ist sich sicher das ganze Land einig."
Eine der Wachen, deren herausragendes Merkmal sicher die Himmelfahrtsnase war, die ihr Gesicht schmückte, schüttelte den Kopf. „Leider gibt es überall ein paar Narren, die meinen, Amalia als Ältere solle ihr Recht auf den Thron zurückfordern. Das sind aber alles traditionalistisch eingestellte Weltfremde, die zum Glück auch nur eine kleine Minderheit für sich beanspruchen können."
Nach ein paar weiteren Fragen hatte ich die Wachen über das politische System in Erza ausgehorcht. Die beiden wurden mit der Zeit immer redseliger. Als die Tür aufflog, zuckten die beiden merklich zusammen.
In der Tür standen eine zornige Elisa und ein wesentlich gemäßigter Nepomuk.
Als die Königin erkannte, dass die beiden Wachen, die sie dazu abkommandiert hatte, mich zu bewachen, stattdessen mit mir plauderten, runzelte sie missbilligend die Stirn.
„Sie sollten vor der Tür Wache stehen", sagte sie.
„Es ist meine Schuld", erklärte ich freimütig. „Ich habe sie gebeten, mir Gesellschaft zu leisten."
Elisa schwieg irritiert, fasste sich aber schnell wieder.
„Ich muss mit Ihnen sprechen."
„Aber sicher. Allerdings nur, wenn meine Freunde mit dabei sind."
Sie seufzte. „Also schön. Ich habe noch zu tun, darum schlage ich vor, dass Sie sich die Stadt anschauen und dann um drei gemeinsam mit Ihren Freunden vor dem Palasttor stehen. Danach habe ich Professor Hasenberg gebeten, weiter unsere Lücken aufzufüllen."
So wie sie das formulierte, klang es nicht, als hätte ich eine große Wahl. Deshalb nickte ich ergeben.
Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Sehr schön. Und weil Sie sich ja schon so gut mit den beiden werten Herren angefreundet haben, werden diese Sie auch sicher gerne begleiten. Nicht dass Ihnen noch etwas passiert."
„Oder weil ich so nicht auf irgendwelche dummen Gedanken komme, nicht wahr?", fragte ich mit gespielter Nonchalance.
Sie grinste hinterhältig. „Das haben Sie gesagt", meinte sie zuckersüß.
Mit Nepomuk, der mir wieder einmal einen entschuldigenden Blick zuwarf, stolzierte sie aus dem Raum.
Ich betrachtete die beiden Wachen, die mich abwartend anstarrten. „Meine Herren", sagte ich. „Bevor wir gemeinsam aufbrechen, würde ich mich noch gerne umkleiden. Wenn Sie also so gut wären..." Ich brauchte nicht fertig zu sprechen, denn sie waren längst aufgesprungen und vor die Tür gepoltert.
Kurze Zeit später stand ich mit den beiden Gardisten im Schlepptau vor der Herberge. Als ich den Frühstücksraum betrat, sprang Alyn auf und fiel mir um den Hals. „Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr."
Ich musste lachen. „Ihre Majestät hat mir großmütig freigegeben. Also, was wollt ihr machen?"
Nun erhoben sich auch die anderen.
„Wer ist das?", wollte Sphen wissen. Er hatte als Erstes die beiden Männer hinter mir entdeckt.
„Das sind..." Ich drehte mich um und fragte die beiden rasch nach ihrem Namen.
„Johann", stellte sich der mit der Himmelfahrtsnase vor. „und das ist Cedric."
Sphen runzelte die Stirn und in dem Wissen, dass sie uns nicht verstehen konnten, fragte er mich unverwandt: „Was machen die beiden hier?"
„Sie sind meine Bewacher. Ich wollte euch gestern folgen. Aber davon war die Königin nur wenig begeistert."
Alyn lachte und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Überrascht ließ ich es geschehen. Normalerweise war sie in der Öffentlichkeit nicht so ungestüm. „Ich liebe dich", flüsterte sie leise und dieses Mal hörte ich die Traurigkeit in ihrer Stimme.
Ich seufzte und sie setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. „Lass uns die Stadt anschauen. Das wollte ich schon die ganze Zeit machen."
Ich nickte und versuchte Seyl aus meinen Gedanken zu verbannen. Momentan verband ich mit meinem Heimatland nur Probleme. Als wäre nicht allein der Krieg, der dort tobte, schlimm genug.
Doch während wir durch die Stadt schlenderten, hellte sich meine Stimmung auf. So musste sich das normale Leben eines Menschen anfühlen.
Die beiden Gardisten zogen allerlei erstaunte Blicke auf sich. Alyn hatte es geschafft, die beiden ins Gespräch einzubinden und jetzt plapperten sie munter über dies und jenes. Einmal kamen ein Mann und eine Frau auf uns zugehetzt, die Johann mit starkem Akzent nach einer Wegbeschreibung fragten.
„Wir haben hier viele Reisende aus dem Osten, die sich für ein paar Tage in Londburg aufhalten und die Stadt besichtigen.", erklärte uns Cedric.
„Was liegt alles im Osten?"
„Das grüne Meer und viele Länder: Aden, Pesoland, Simbila, Kasing, Undra, Videselien und noch viele weitere."
Ich musste schlucken. „Und Erza hat zu allen Kontakt?"
„Natürlich. Wir können gerne das Botschaftsviertel besuchen. Dort rennen all die Gesandten herum."
Die anderen willigten ein, sodass uns die beiden Männer zu einem Viertel mit großen, herrschaftlichen Gebäuden führten, die allesamt eine Fahne im Vorgarten gehisst hatten. Schwarz glänzende Kutschen mit fein geputzten Pferden ratterten über die breiten Straßen. Geschäftige Menschen in edlen Anzügen eilten von einem Gebäude zum nächsten. „Sie sind alle stets feingekleidet, da keiner von ihnen den anderen in irgendwas nachstehen will. Das könnte sich negativ auf die Politik des jeweiligen Landes auswirken."
Zum ersten Mal wurde mit regelrecht bewusst, wie rückständig Seyl in allem war. Es schien, als wäre mein Heimatland seit den dunklen Jahren in seiner Entwicklung stehen geblieben, während Erza stetig moderner geworden war.
Fast war ich froh, als wir unseren Ausflug beendeten. Als die anderen in die Herberge zurückkehren wollten, erklärte ich ihnen, dass sie mich begleiten würden.
Mit den erstaunten Blicken, die sie mir zuwarfen, hatte ich nicht gerechnet. „Was ist los?", fragte ich.
Rosena errötete und sah weg. Alyn hingegen schnaubte. „Das fragst du dich? Nun, du bist auf einmal so kameradschaftlich. Wer von uns ist denn berühmt für seine Alleingänge?"
„Es tut mir leid", sagte ich und das tat es wirklich. „Wenn man sein ganzes Leben auf sich selbst gestellt ist, dann fällt es schwer, sich an Gesellschaft zu gewöhnen."
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", meinte Rosena leise. „Wir sind froh, dass du uns nun miteinbeziehst."
Ein kleines Kind kam auf Cedric zu und quietschte vergnügt. Die Mutter eilte etwas gestresst hinterher. „Entschuldigen Sie", meinte sie leicht atemlos. „Aber Sebi hat daheim ein paar Spielzeuggardisten und ist jedes Mal, wenn er jemanden in echter Größe sieht, hin und weg."
Uns beachtete sie gar nicht. Damit unterschied sie sich nicht von den anderen Leuten, die uns begegnet waren. Obwohl vor allem Lapislazuli und Sphen sich von der Masse abhoben, schienen Menschen ihrer Hautfarbe kein ungewöhnliches Bild abzugeben.
Londburg war wahrlich eine vielfältige Stadt.
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